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Brandenburg: Durch die rosa Brille

Die Optikfirmen in Rathenow arbeiten derzeit 58 Stunden pro Woche – die Gesundheitsreform heizt die Nachfrage an

Rathenow. In der Optikbranche gibt es normalerweise kein Weihnachtsgeschäft. Dieses Jahr aber hat die Politik den Brillenherstellern genau dies beschert. Viele Kunden wollen noch schnell eine neue Sehhilfe, bevor sie im nächsten Jahr durch die Gesundheitsreform teurer wird (siehe Kasten). Und auch in Rathenow, der „Stadt der Optik“, kommen die Produzenten mit der Fertigung kaum mehr hinterher.

„Wir haben seit Anfang November dreimal so viele Aufträge wie in einem normalen Monat“, sagt Hans Kopp, Werksleiter von Essilor. Über den Umsatzzuwachs will er nichts sagen. Das französische Unternehmen ist der weltgrößte Hersteller von Brillengläsern und hat in Rathenow eine Fabrik mit 145 Mitarbeitern – plus 22 Zusatzkräften, die jetzt befristet bis zum 31. Januar angestellt wurden. Qualifizierte Leute zu finden sei nicht schwer gewesen, sagt Kopp: „Es gibt ja genug arbeitslose Facharbeiter.“ Doch auch mit den zusätzlichen Kollegen ist die Auftragsflut nur mit Sonderschichten zu bewältigen. Auf 58 Stunden ist die Arbeitswoche angewachsen – inklusive acht Stunden am Sonnabend.

Und selbst damit kann Essilor nicht verhindern, dass sich die Lieferzeiten an die Optiker mehr als verdoppelt haben: von zwei bis drei auf gegenwärtig sechs bis sieben Tage, heißt es. Für die Verbraucher sind die Wartefristen sogar noch länger: Auch der Optiker braucht ja Zeit, um die Gläser einzusetzen. Die enorm gestiegene Nachfrage ist eine Reaktion auf die Gesundheitsreform, die am 1. Januar in Kraft tritt: Bis zu 20 Euro mehr werden die Verbraucher ab dem 1. Januar für ein Paar Brillengläser ausgeben müssen.

Hermann Fischer führt in Rathenow ein kleines Fachgeschäft. Auch seine Kunden müssen derzeit statt einer Woche Wartezeit „mindestens zwei Wochen“ einkalkulieren. Viele Brillen wird er wohl erst im nächsten Jahr liefern können. Er hatte Schwierigkeiten auch bei der Nachbestellung von Gestellen. Wie vielen Kollegen gingen Fischer vor kurzem die Lagerbestände aus: „Ich musste eine Weile suchen, bis ich einen Lieferanten fand, der schnell nachliefern konnte“, erzählt er.

Einen ähnlichen Boom erlebte die Branche schon Ende 1996. Damals stand die Streichung von 20 Mark Zuzahlung fürs Gestell an. „Das hat sich dann in wenigen Monaten wieder auf dem alten Stand eingependelt“, erinnert sich Hans Kopp. Rathenow war damals gerade auf dem aufsteigenden Ast. Nach rund 200 Jahren Geschichte als Optik-Standort hatte die Stadt nach der Wende die Pleite des VEB Rathenower Optische Werke (ROW) erleben müssen, das zu DDR- Zeiten das ganze Land und Teile des Ostblocks mit Brillen versorgte. Dann investierten Fielmann und Essilor hier – und in ihrem Sog kamen viele kleine Firmen, die Rahmen herstellen, optische Maschinen oder Einrichtungen für Brillengeschäfte. 4500 Menschen arbeiteten in den 80er Jahren bei ROW. Nachdem die Zahl bis Mitte der 90er auf 250 gesunken war, sind in Rathenow heute wieder rund 1100 Menschen in der Branche beschäftigt.

Der dritte große Glasproduzent neben Fielmann und Essilor ist die Firma Ophtalmica mit 30 Angestellten. Auch hier sind seit Anfang November mehr als doppelt so viele Aufträge eingegangen wie im Vorjahr. Daraufhin wurde kurzerhand ein Zweischichtsystem eingeführt, erzählt Geschäftsführer Rainer Krug. Statt bis 16 wird jetzt bis 22 Uhr gearbeitet. „Der Vorschlag kam aus der Belegschaft“, so Krug. Die Überstunden können die Kollegen im Januar und Februar wieder abbummeln. Da werde es sicher sehr ruhig werden. Dass die Nachfrage nach Brillen aber dauerhaft zurückgehe – wegen der für die Kunden steigenden Kosten –, das glaubt Krug nicht.

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