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Brandenburg: Wilde Tiere erobern Brandenburg

Der Wolf fühlt sich wohl in Brandenburg, genauso wie der Biber. Naturschützer freut das, anderen macht es Angst. Mensch und Tier müssen das Zusammenleben erst wieder lernen.

Sie haben sich schließlich geeinigt. Fast könnte man sagen: einvernehmlich. Streitpunkt war die Wiese des einen, gern genutzt auch vom anderen, der eine liebte sie trocken, der andere feucht, ein Zusammenkommen der beiden schien unmöglich, beinahe kam es zum Äußersten. Da griff Antje Reetz ein.

Sie verhandelte mit dem einen und verpflichtete den anderen sanft zur Mäßigung, rang also beiden einen Kompromiss ab, der sie nun einigermaßen glücklich miteinander leben lässt, den Landwirt und den Biber.

Die Wiesen durchschneidet ein Bächlein, das ein Damm des Bibers staut. Braucht der Landwirt seine Wiesen, zum Mähen oder für die Kühe, wird der Biberdamm ein Stück weit vorsichtig abgetragen, der Pegel des Flüsschens sinkt, der Boden trocknet. Braucht er sie nicht mehr, darf der Biber übernehmen.

Antje Reetz, 28 Jahre alt, angestellt beim Gewässer- und Deichverband Oderbruch in Wriezen, arbeitet als Bibermanagerin. Je mehr Zeit man mit ihr verbringt, desto schwerer fällt es, zu sagen, wer das Management nötiger hat: das Tier oder der Mensch.

Weil dem nur lieb ist, was er auch kontrollieren kann, braucht es Monitoring und Management, eine ökonomische Neuverhandlung des ökologischen Miteinanders. Das ist viel Arbeit, denn schließlich ist, was wächst und fließt, nur schwer zu bändigen. Es ist das Wesen der Natur, dass sie sich nicht von allein an Grenzen hält.

Während Menschen Brandenburg den Rücken kehren, Städtchen zu Dörfern schrumpfen, berappelt sich die Tierwelt, weshalb es völlig falsch wäre, zu behaupten: Auf dem Land ist nichts los. Es tobt das wilde Leben. Auch der Wolf ist zurück, und wenn der Biber Probleme macht, dann macht der Wolf wohl Angst. Vielleicht gibt es kaum zwei Tiere in der Region, deretwegen so viel gestritten wird. Höchste Zeit, sie aufzusuchen.

Beinahe 3000 Biber leben derzeit in ganz Brandenburg – dabei galten sie noch vor 100 Jahren als ausgestorben. Im Oderbruch stieg die Zahl der Biberreviere von 18 im Jahr 1992 auf 210 im Jahr 2012. Der Biber fühlt sich wohl. Antje Reetz, die eine kluge Frau ist, sympathisiert mit ihm, ohne den Menschen zu vergessen. Sie fasst zusammen, wie man es wohl kaum schöner sagen kann: „Die Akzeptanz für den Biber ist vor die Hunde gegangen.“

Ende Mai war das Tier deswegen sogar Thema im Brandenburger Landtag. Bauern und Waldbesitzer beklagten sich über abgenagte und gefällte Bäume, gestaute Gewässer, unterbuddelte Deiche und überflutetes Weideland. Der Bauernbund verlangte den Einsatz „professioneller Biberjäger“. Die Tiere sind per Gesetz besonders geschützt, doch hier und dort hat es Ausnahmen gegeben.

„Biber sind klug“, sagt Antje Reetz und schiebt noch drei Komplimente nach: „intelligent, praktisch und überlegt“. Kurzum: Der Biber weiß, wie und wo er den größtmöglichen Effekt erlangen kann, der in seinen Augen natürlich meistens aus der größtmöglichen Überschwemmung besteht. Etwa 60 bis 80 Zentimeter Wassertiefe sind ihm am liebsten, und wenn es die nicht gibt, dann staut er sich was zusammen.

Der Kaudruck eines Bibers ist 120 Kilogramm stark. Damit kann er Bäume fällen

Antje Reetz parkt ihren grünen Geländewagen am Rand eines Feldweges. Sie tauscht die leichten Sommerschuhe gegen solche mit Gummiüberzug. Das Wohngebiet des Bibers ist nicht klein, zur Linken, einen kurzen Marsch entfernt, liegt der Damm, der besagte Kuhwiese in eine Sumpflandschaft verwandelte, zur Rechten die Biberburg. Leise biegt Antje Reetz Schilfhalme zur Seite, was gar nicht nötig wäre, weil das Bauwerk ohnehin kaum zu übersehen ist.

Stock um Stöckchen trägt der Biber für so eine Burg zusammen und häuft sie übereinander. Um den Zwischenraum der Hölzer abzudichten, kleistert er Erde und Schlamm dazu und alles, was er noch so findet, auch mal eine Plastiktüte. Weil er gewöhnlich nachts aktiv ist, schläft er gerade im Inneren der Burg, im Wohnkessel. Kein Laut ist zu hören, nur das Rascheln der Gräser.

Vor hunderten Jahren, als die Ingenieursleistung des Menschen noch ziemlich abfiel im Vergleich mit der des Bibers, muss das Oderbruch ein Biberparadies gewesen sein. Die Oder floss mehrarmig durch die Auenlandschaft, noch nicht zurechtgestaucht zu einem großen Fluss. Als der Preußenkönig Friedrich II. begann, die Gegend trockenzulegen, stellte er den Biber unter besonderen Schutz. Doch als die ersten Deiche fertig waren und wenig später an und in ihnen die ersten Biberbauten, gab es statt Strafe Belohnungen für ein Biberfell.

Das Oderbruch ist eine Gegend, in der gut zu studieren ist, was passiert, wenn der Mensch glaubt, natürliche Grenzen auf Dauer verschieben zu können. Durch ein System von Deichen, Kanälen und Wehren soll das Land vor Überflutungen geschützt und doch genügend bewässert werden. Vielleicht muss man all dies einmal gesehen haben, um die Aufregung über den Biber nachvollziehen und auch verstehen zu können, wie sehr hier nur ein Damm an der falschen Stelle alles gehörig durcheinanderbringen kann.

Antje Reetz hat Landschaftsnutzung und Naturschutz studiert und ihre Abschlussarbeit über den Biber geschrieben, sie hat seine Reviere kartografiert und kann viel Wissenswertes erzählen. Zwischen 150 und 200 Kilometer fährt sie am Tag, von Damm zu Damm zu Biberburg zu aufgeregtem Landwirt.

Weil nie sicher ist, dass man auch einen Biber sehen wird, hat sie noch vor dem Losfahren einen ausgestopften vorgeführt. Das Tier ist groß, größer als gedacht, der geschuppte Schwanz – die Kelle – respektabel, die Zähne imposant. Neun Zentimeter lang und vorne rötlich, weil sich Eisenoxid ablagert, was die Zähne besonders hart macht. Fühlt sich der Biber bedroht, stellt er sich auf die Hinterbeine und knirscht mit den Zähnen, sein Kaudruck ist 120 Kilogramm stark. Einer der natürlichen Feinde des Bibers ist, neben dem Menschen, der Biber selbst. Revierkämpfe sind nicht selten blutig und häufig tödlich. Der Biber lebt vegetarisch und monogam, er ist lieber zu zweit als allein, was alles vernünftig klingt. Aber zu spaßen ist mit ihm nicht.

„Der Biber hat mehr überlegenen Verstand als List“, schrieb Goethe 1776. Ein Satz, den sich, mehr als 200 Jahre später, die junge Bibermanagerin zu Herzen nimmt. Antje Reetz macht diese Arbeit seit 2009, sie hat gelernt, den Biber freundlich auszutricksen, und sagt doch: „Es besteht dringender Handlungsbedarf, das bisherige Bibermanagement ist reine Flickschusterei.“ Ein landesweites Management wäre, so glaubt sie, ein wichtiger Schritt. Man kann die Konflikte ja entschärfen, wenn man will. Niemand weiß das besser als sie.

Sie berichtet von einer käfigartigen Gitterkonstruktion, die vorgelagert an einem Brückentunnel im Wasser befestigt ist. Diesen Tunnel baute ein Biber regelmäßig zu. Nun kann er noch immer einen Damm bauen – aber am Gitter, wo das Wasser links und rechts noch fließen kann, und nicht mehr direkt im Tunnel.

Doch kaum ist ein Problem erledigt, stauen sich woanders andere. Auf die Deiche lässt das Land inzwischen Edelstahl-Gittermatten legen und bewachsen, damit die Biber keine Tunnel mehr hineingraben können. In den Böschungen, steil, weil kultiviert und vom Menschen angelegt, grub es sich, aus Bibersicht, besonders schön. „Manchmal“, sagt Antje Reetz, „würde man schon Probleme lösen, wenn man dem Biber mehr Raum geben würde.“ Noch immer gilt: Wer Grenzen setzt, hat die Macht. Der Biber knabbert daran.

Als in den 80er Jahren Biber in Deutschland wieder angesiedelt wurden, war ein allzu zuversichtlicher Hintergedanke, die Kontrolle über seine Ausbreitung zu behalten. „Erst war die Begeisterung groß, dann kam der Schwenk in die andere Richtung“, sagt Reetz. Zurück aber geht es jetzt nicht mehr.

Es braucht viel Glück, um einen Biber oder sogar Wolf zu sehen

Am Oderdeich angekommen, steht der Wind günstig. Er weht den Deich an, ganz zart zittern kleine Wellen auf dem Fluss. „Wenn es irgendwo plätschert“, könnte das ein Biber sein, hat Antje Reetz gesagt. Aber plätschert es nicht überall? Jetzt heißt es schweigen, vorsichtig Richtung Ufer staksen, einen Schritt, noch einen – da ist es schon zu spät. Flupp, gleitet ein Biber ins Wasser und taucht ab. Ist fort, minutenlang, kommt dann vorsichtig zurück, klettert in das Loch eines Baumstammes, der im Hochwasser steht – und streicht sich das Wasser aus dem Fell. Er bleibt versteckt, nur die Nase ist zu sehen.

Es braucht Glück, um einen Biber zu treffen. Um einen Wolf zu sehen, braucht es mehr als das. Den meisten Menschen ist das ganz recht, weil sie ihm ohnehin nicht begegnen möchten. Und auch der Wolf bleibt lieber unter seinesgleichen, unnahbar wie ein Rockstar, von dem es gelegentlich nächtliche Schnappschüsse zu sehen gibt, geknipst von getarnten Fotofallen der Wissenschaftler. Da steht dann ein weißliches Tier vor schwarzem Tannengrund, mit unnatürlich leuchtenden Augen wie ein Gespenst.

Wem ein dichter Wald schon immer unheimlich war, dem ist ein Wald mit Wolf darin doppelt unangenehm. Weil es kaum rauszukriegen ist aus dem Kopf, das märchenhafte Bild vom bösen Wolf, die Schauergeschichten von ausgehungerten Tieren, das „Rotkäppchensyndrom“. Doch setzte man sich in den Wald und wartete auf gut Glück, dann säße man dort lang und wahrscheinlich vergeblich.

Katharina Weinberg, 37, ist häufig in der Dämmerung unterwegs, sie liest die Fährten der Wölfe, vermisst ihre Spuren. Und doch hat auch sie ein wildes Tier erst wenige Male im Leben gesehen. Als Treffpunkt hat sie den Wildpark Schorfheide vorgeschlagen. Weil es sich immer noch am besten über etwas spricht, wenn man es tatsächlich vor sich hat.

Seit drei Jahren ist Weinberg die Landesgeschäftsführerin des Naturschutzbundes Nabu in Brandenburg. Sie war elf, als das Tier sie zu interessieren begann. Warum, das kann sie heute kaum sagen. Was sie am Wolf fasziniert, hingegen schon: dass er sehr intelligent ist und sozial.

Andere nennen ihn: störend und gefährlich. „Der Wolf polarisiert“, sagt Katharina Weinberg. „Es gibt niemanden, dem Wölfe egal sind.“ Umso bedauerlicher findet sie, dass über die Tiere meist dann gesprochen wird, wenn sie irgendwo ein Schaf gerissen haben. 2007 wurde, nach über 100 Jahren, wieder ein aus Osteuropa eingewandertes Wolfsrudel in Brandenburg gesichtet, inzwischen sollen sieben Rudel im Land leben, etwa 90 Tiere insgesamt. In dieser Zeit starben durch den Wolf 303 Schafe, vier Ziegen und fünf Kälber. Ob man das nun viel findet oder wenig, ist eine Frage der Wahrnehmung.

Es liegt nicht in der Natur des Wolfes, sich an Grenzen zu halten. Nicht an solche zwischen Ländern und auch nicht an jene, die menschlichen Besitz kennzeichnen. Dass der Wolf Menschen nicht mag, heißt nicht, dass er sich von Siedlungen immer fernhält. Man kann deswegen heute niemandem die Furcht vor dem Wolf verbieten – nur bitten, dass er sie überdenkt. Schäfer und Landwirte sind im eigenen Interesse dazu gezwungen. Sie müssen eine Grenze ziehen, die der Wolf auch respektiert. Durch einen Elektrozaun zum Beispiel, einen Wühlschutz am Gehege, weil der Wolf lieber gräbt als springt, oder den Einsatz speziell ausgebildeter Hütehunde. Die Statistik zeigt: Die Zahl gerissener Schafe ging zwischen den Jahren 2011 und 2012 um die Hälfte zurück. Trotzdem bedeutet jedes getötete Tier Verlust.

Katharina Weinberg sieht die Sache pragmatisch. Sie sagt: „Der Wolf kann keine Kompromisse machen, der Mensch schon.“ Ohnehin wäre es ihr lieb, man führte die Diskussion weniger emotional.

In den Wildpark bringt Weinberg rote Mützen mit, auf denen steht: Rotkäppchen lügt! Das, so lässt sich am Wolfsgehege feststellen, beginnt streng genommen schon damit, dass der Wolf keine großen Ohren hat, sondern ziemlich kleine; und dass er keine Menschen frisst, nicht mal fressen will. Dass dies tatsächlich so ist, haben 2002 Wissenschaftler aus 18 Ländern im Auftrag des norwegischen Instituts für Naturforschung Nina erkundet. Sie kamen zu dem Schluss, dass es höchst unwahrscheinlich sei, in Europa oder Nordamerika von einem Wolf angegriffen zu werden. In Brandenburg ist es seit 2007 noch nie passiert.

Es ist einer der heißesten Tage des noch jungen Sommers, und wer vom sieben Tiere umfassenden Rudel zu sehen ist, liegt träge im Schatten. Die Mücken beißen, müde krabbelt ein Mistkäfer durch den Sand. Der Wolf frisst diese Käfer, am liebsten aber frisst er Wild. Es sind Fakten, auf die Katharina Weinberg Wert legt. Weil sie ein weiteres Bausteinchen sind auf dem Weg fort von der mythologischen Bestie.

Um den Wolf zu entmystifizieren und das Zusammenleben zwischen Mensch und Tier möglichst konfliktfrei zu halten, bedient man sich auch der Bürokratie. Ein Managementplan bestimmt, was zu tun ist, wenn ein verhaltensauffälliger Wolf erscheint, wann und in welcher Höhe einem Landwirt Schadensausgleich für gerissene Tiere zu zahlen ist und wie hoch die finanzielle Unterstützung für Schutzmaßnahmen sein kann. Das Land beschäftigt Wolfsmanager, die Schäden begutachten und Nutztierhalter beraten, Dutzende ehrenamtliche Wolfsbetreuer wie Katharina Weinberg dokumentieren Spuren. Der Wolf mag viele Gegner haben, seine Lobby ist mindestens ebenso stark.

Das Revier eines Wolfs umfasst bis zu 350 Quadratmeter

Im Tierpark lebt er in einem Gehege ganz am Rande. Ein Gang auf die hölzerne Aussichtsplattform, leise, als könnte man, was kaum zu sehen ist, verschrecken. Hinter einer Tanne liegt ein zweiter Wolf, das Fell an der Schnauze ist typisch weiß gefärbt. Beeindruckende Tiere, kräftig und groß, ein Rüde kann bis zu 75 Kilogramm wiegen. Sein Fell soll sich außen fast hart anfühlen, nicht weich wie das eines Hundes, dem er so ähnlich sieht und doch gar nicht ist. „Wölfe sind nicht zahmzukriegen“, sagt Katharina Weinberg.

Als sie sich entschied, an der Fachhochschule in Eberswalde Landschaftsnutzung und Naturschutz zu studieren, war sie Juristin mit zwei Staatsexamen – und einer Empfehlung fürs Richteramt. Es ist nicht übertrieben zu sagen, der Wolf könnte sich keine bessere Anwältin wünschen. Denn es ist ja so: Alles, was man am Wolf bewundert, Stärke, Klugheit, kann auch gegen ihn verwendet werden.

Der Wolf im Gehege hebt müde den breiten Kopf und lässt ihn gleich wieder sinken. 42 Zähne stecken in diesem Kiefer, und weil der ziemlich schwer ist, sind auch die Vorderpfoten des Wolfs größer als die hinteren. Der Wolf, heißt es, töte mit einem kräftigen Biss, was gewissermaßen gnädig ist, aber gerade schwer vorstellbar, weil dem mächtigen Tier dort im Wald nicht nach Bewegung ist. Dem ist warm. Und Besuch juckt ihn nicht.

Doch die Wölfe im Tierpark sind an den Menschen gewöhnt – und an die Gefangenschaft. In freier Natur ist der Wolf viel unterwegs, etwa 50 Kilometer legt er täglich zurück, sein Revier umfasst bis zu 350 Quadratkilometer. Es ist kein Wunder, dass man ihn kaum zu sehen bekommt.

Wie der Biber wird der Wolf für den Menschen meist dann sichtbar, wenn er etwas zerstört. Der Wut der Menschen setzt der Naturschutz eine Grenze, denn auch der Wolf darf nicht geschossen werden.

Der Weg aus dem Tierpark führt an einer Informationstafel vorbei. Es geht um den Waschbären, auch der fühlt sich so wohl in Brandenburg, dass ihn viele schon als Plage bezeichnen. Wie das Tier aus Nordamerika nach Deutschland kam, ist eine interessante Geschichte, von der hier nur die Folge erzählt werden soll: Er frisst die Eier diverser Vögel, unter anderem die des Kormorans. Ob der geschossen werden soll, weil er den Fischern den Fang streitig macht, wurde noch vor kurzem diskutiert. Nun wird der Waschbär gejagt – und die Katze beißt sich in den Schwanz.

Erschienen auf der Reportage-Seite.

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