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Ethik und Religion: Alle in einem Boot

Erbittert wurde in Brandenburg über das Pflichtfach "Lebensgestaltung-Ethik-Religionskunde“ gestritten. Mit dem schließlich gefundenen Kompromiss gibt es nun gute Erfahrungen. LER kann man abwählen - zugunsten von Religion. In Brandenburg gibt es das, worum in Berlin gekämpft wird: Wahlfreiheit.

Von Sandra Dassler

Sie haben die Katastrophe überlebt, doch das Rettungsboot ist voll. Zu voll. Einer muss aussteigen, sonst gehen alle unter. Im Boot sitzen eine Lehrerin, ein berühmter Schriftsteller, eine 16-jährige Schülerin, ein Fleischer, ein Profisportler und eine Journalistin. Wer soll über Bord gehen? Zwar mit Rettungsring, aber deutlich geringeren Überlebenschancen.

„Du musst es tun", sagt der Schriftsteller zum Profisportler: „Du bist trainiert, kannst deine Kraft einteilen. Außerdem bringt ein Profisportler der Welt nicht wirklich etwas.“ Der Profi ist empört: „Und was bringt ein Schriftsteller der Welt? Wenn es danach geht, muss die Schülerin raus.“ Die wehrt sich: „Aus mir kann noch was Tolles werden.“ Die Lehrerin stimmt zu: „Der Profi muss raus. Aber wir binden den Ring am Boot fest.“

In Wirklichkeit sitzen die handelnden Personen natürlich nicht im Rettungsboot, sondern in einem Klassenraum des Paul-Gerhardt-Gymnasiums in Lübben. In Wirklichkeit sind sie 12 oder 13 Jahre alt und Schüler der Klasse 7/1 im LER-Unterricht. LER steht für Lebensgestaltung- Ethik-Religionskunde – ein bekenntnisfreies Pflichtfach, das in Brandenburg von Klasse 5 bis Klasse 10 angeboten wird. Abmelden kann sich nur, wer dafür am Religionsunterricht teilnimmt.

Zwei Drittel der Schüler der Klasse 7/1 besuchen den LER-, die anderen zeitgleich den Religionsunterricht. Dort hat Lehrerin Uta Hoeck heute Eier, Apfelmus, Petersilie und Matzen – ungesäuertes Brot – für ein Seder-Mahl mitgebracht. Die acht Schüler, die Religionsunterricht gewählt haben, dürfen kosten und erfahren so auf sehr sinnliche Weise etwas über das jüdische Passahfest.

Auch in LER kommen sinnliche Wahrnehmungen nicht zu kurz. Das Rollenspiel im Rettungsboot gehört zum Thema Zivilcourage. Theoretisch haben die Siebtklässler schon darüber gesprochen. Theoretisch ist Zivilcourage einfach. Auf die Frage von Lehrer Lars Kadach antworten die Schüler stakkatomäßig. Klar, es geht um Solidarität, Mitgefühl. Darum, nicht wegzusehen und anderen zu helfen – auch wenn man selbst Nachteile hat.

„Und habt ihr das bei der Diskussion im Rettungsboot umgesetzt?“, fragt Lehrer Kadach. Die Schüler sind ein wenig beschämt. So richtig solidarisch waren ihre Vorschläge ja nicht. Aber es musste doch einer raus, oder? „Mit Rollenspielen bringen wir die Schüler in so genannte Dilemma-Situationen“, sagt Lars Kadach: „Dann kommen sie nicht umhin, sich mit Werten auseinanderzusetzen.“

Werte-Erziehung hatte sich das zeitweise heiß umstrittene Fach LER von Anfang an auf die Fahnen geschrieben. Der Anfang war ein wissenschaftlich begleiteter Modellversuch für ein Schulfach namens Lebensgestaltung-Ethik-Religion, das 44 brandenburgische Schulen zwischen 1992 und 1995 erprobten.

Wie jetzt Ethik in Berlin sollte dieses Fach für alle Schüler sein, allerdings unter anderen Voraussetzungen: Bis dahin gab es im neu gegründeten Land Brandenburg weder Religions- noch Ethikunterricht an den Schulen und selbst Christen befürworteten einen gemeinsamen Werte-Unterricht – wenn die Kirchen als gleichberechtigte Partner einbezogen würden.

Da die katholische Kirche dies ablehnte und die Erfahrungen viele evangelische Christen ernüchterten, wurde der Plan fallen gelassen und 1996 beschlossen, LER als allgemeinbildendes Schulfach einzuführen. Allerdings stand das „R“ in LER nun nicht mehr für Religion, sondern für Religionskunde. Der Zusatz „-kunde“ betonte den Unterschied zum konfessionellen Religionsunterricht.

Dieser erhielt nicht den Status eines ordentlichen Schulfaches, worüber bis zum Bundesverfassungsgericht gestritten wurde. Das regte 2001 einen Vergleich an, der den Status von LER als Pflichtfach bestätigte, aber die Abwahl zugunsten von Religionsunterricht einräumte. Der sollte dann, wie am Paul-Gerhardt-Gymnasium in Lübben, möglichst zur gleichen Zeit wie LER angeboten werden.

Mit diesem Kompromiss können Staat und Kirche in Brandenburg inzwischen offenbar gut leben. In den meisten Schulen funktioniere das Modell ausgezeichnet, heißt es übereinstimmend von staatlicher und kirchlicher Seite. Natürlich wünschen sich die Kirchen, dass auch die Noten des Religionsunterrichts versetzungsrelevant wären. „Aber“, sagt der Sprecher der Erzbistums Berlin, Stefan Förner, „ in Brandenburg gibt es das, wofür wir in Berlin kämpfen: Wahlfreiheit.“

Diese Wahl ist nicht immer ideologisch bedingt. So besuchen Kinder evangelischer Familien LER, weil sie ihre eigene Religion in der Christenlehre kennenlernen – nach der Schule. Andererseits wählen atheistische Kinder den Religionsunterricht, weil dort ihre Freunde sind oder ein Lehrer besonders gut ist.

Lars Kadach hat von 1998 bis 2000 ein zweijähriges Zusatzstudium absolviert, um LER unterrichten zu können. „Ich habe es nie bereut“, sagt der 42-Jährige. „Mir ist aufgefallen, dass Kommunikation und Interaktion in anderen Fächern oft zu kurz kommen“, sagt er. „Im LER wird gerade das trainiert und großer Wert auf Gruppendynamik gelegt.“

„Wie hätten wir denn anders reagieren sollen im Rettungsboot?“, fragt eine Schülerin. „Vielleicht gehen doch mehr Leute in das Boot, vielleicht muss man mehr Alternativen prüfen“, antwortet Kadach. Dann stellt er den Gruppen eine weitere Aufgabe. Zu fünft sollen sie auf einer am Boden liegenden Zeitungsseite Platz finden. Die Schüler probieren es, aber die Seite ist zu klein für 10 Füße.

Dann fangen sie an, zu experimentieren. In der einen Gruppe nehmen die Jungen die Mädchen auf die Schultern und in der anderen Gruppe stellten sich alle Schüler nur auf ein Bein, umarmen sich fest und stützen sich so gegenseitig. Geht doch. Sandra Dassler

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