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Geschichte: Maueropfer geehrt – trotz Einspruchs der Familie

In Hohen Neuendorf am nordwestlichen Berliner Stadtrand wird ein großer Platz an eine 18-Jährige erinnern, die 1980 bei einem Fluchtversuch erschossen wurde.

Der Appell der Hinterbliebenen zum Verzicht auf das öffentliche Andenken an die bei ihrer missglückten Flucht über die Mauer erschossene Marietta Jirkowsky hatte keinen Erfolg. Vergeblich hatten Angehörige in einem offenen Brief versucht, die Stadtverordneten noch umzustimmen. Sie baten um Achtung der Privatsphäre auch nach dem Tod und um Respektierung des Wunsches der inzwischen verstorbenen Eltern von Marienetta Jirkowsky, von einer öffentlichen Erinnerung abzusehen. „Freiheit bedeutet für uns auch, dass wir uns 30 Jahre nach Marienettas Tod nicht erneut von Politikern vorschreiben lassen, wie wir mit ihrem Tod umzugehen haben“, sagt die Tante Bärbel Kultus im Namen der Familie.

Statt eines Platzes für Marienetta Jirkowski sollten die Stadtverordneten lieber einen „Platz der Freiheit“ oder eine „Straße zur Freiheit“ schaffen. Damit würden Sie nicht nur Marienetta, sondern alle Mauertoten in Ihrem Territorium ehren“, schlugen die Angehörigen vor. Aber die Parlamentarier der Kleinstadt bestätigten jetzt mehrheitlich noch einmal den Beschluss vom vergangenen Herbst und stimmten für einen namentlichen Platz eines Maueropfers.

Das Schicksal der nur 18 Jahre alt gewordenen Frau ist bereits auf einer Stele in Hohen Neuendorf nachzulesen. Demnach starb sie am 22. November 1980 im Kugelhagel von DDR-Grenzsoldaten beim Versuch, die Mauer an der Florastraße zwischen Hohen Neuendorf und der Invalidensiedlung im West-Berliner Bezirk Reinickendorf zu überwinden. Während ihre beiden männlichen Begleiter unbehelligt über alle Sperranlagen klettern konnten, berührte die Frau um 3.45 Uhr kurz vor der Mauer einen Signalzaun und machte damit die Grenzer auf sich aufmerksam. Diese griffen sofort zur Maschinenpistole und verletzten Marienetta schwer. Im Krankenhaus Hennigsdorf konnte sie nicht mehr gerettet werden.

Die junge Frau wurde auf dem Friedhof in ihrem Heimatort Spreenhagen zwischen Berlin und Fürstenwalde östlich Berlins beigesetzt. Während West-Berliner Medien lange Zeit ausführlich über den tödlichen Vorfall berichteten, wurde dieser in der DDR wie üblich geheim gehalten. Die Staatssicherheit soll damals die Eltern stark beeinflusst haben, damit sie ihrer Tochter zumindest eine Teilschuld an dem tragischen Tod geben. Die gelernte Textilverarbeiterin hatte sich vor ihrem Fluchtversuch von ihrem Elternhaus getrennt und war zu ihrem späteren Fluchtbegleiter gezogen.

Nach dem Einspruch der Angehörigen entbrannte in Hohen Neuendorf in den vergangenen Wochen ein heftiger Streit über die Frage, was höher wiegt: das öffentliche Interesse an der Erinnerung an die Mauertoten oder die Privatsphäre. Während die gemeinsame Fraktion aus SPD und FDP dafür plädierte, den „Opfern wieder ihr Gesicht zu geben“, appellierte die CDU an die „Kraft und das demokratische Herz der Stadtverordneten. Es zähle allein der Fakt, dass Marienetta beim Fluchtversuch „von der Mauer geholt worden ist“, sagte der CDU-Fraktionsvorsitzende Matthias Rink in der Debatte. Mit großer Mehrheit blieben die Abgeordneten schließlich bei ihrem Beschluss, den Kreisverkehr an der Bundesstraße 96 nach Marienetta Jirkowsky zu benennen. Claus-Dieter Steyer

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