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Kirchenmann, Politiker, Buchautor. Manfred Stolpe wird diesen Montag 75 Jahre alt. Von 1990 bis 2002 war er Ministerpräsident Brandenburgs, von 2002 bis 2005 Bundesminister für Verkehr, Bau- und Wohnungswesen. Zu DDR-Zeiten war Stolpe unter anderem als Konsistorialpräsident für die Evangelische Kirche Berlin-Brandenburg tätig.

© Manfred Thomas

Interview: Manfred Stolpe: "Für uns hatte Rache keinen Vorrang"

Ist Manfred Stolpe mit sich im Reinen? Der frühere Ministerpräsident Brandenburgs spricht im Interview über Fehler, Erfolge und die Verdrängung der Vergangenheit.

Herr Stolpe, Sie waren Kirchendiplomat in der DDR, Ministerpräsident in Brandenburg und Bundesminister. Wo sind Sie mit sich im Reinen?
In fast 30 Jahren Kirchendienst habe ich immer versucht, Ausgleiche zu finden, Zuspitzungen im Verhältnis zum Staat zu vermeiden. Seit dem 17. Juni 1953 hatte ich immer im Hinterkopf: Wenn man überreizt, rollen am Ende russische Panzer. Als Ministerpräsident ist es für mich das Wunder, dass die Wiedergeburt dieses Landes Brandenburg, vorher totgeschwiegen über Jahrzehnte, gelungen ist. Und was meine Bundesarbeit, als Minister für Aufbau Ost und Infrastruktur, betrifft: Ich denke im Rückblick, nur ein ,Ossi‘ in diesem Amt konnte glaubwürdig machen, dass es inzwischen auch im Westen Standorte gibt, die Fürsorge und Unterstützung benötigen, also dass nach Bedarf, nicht mehr nach Himmelsrichtungen gefördert wird. Ich hatte mir Gelsenkirchen angeguckt und war erschrocken: Mein Gott, der Stadt geht es ja schlechter als Cottbus.

Was beunruhigt Sie?

Dass es zu viel Konfrontation zwischen den Parteien gibt, zuviel Rechthaberei, macht mir Sorge. Ich fürchte, wachsende Politikverdrossenheit ist eine gefährliche Nebenwirkung dieses ständigen Schauspiels, dass man aufeinander einprügelt allein um der Profilierung Willen. Und bei den Leuten verfestigt sich der Eindruck, dass das wirklich Wichtige für das Land vernachlässigt wird. Auch sind Politiker oft zu weit weg von den Menschen. Ich habe das damals eindrücklich bei der vor Ort zu wenig erklärten Agenda 2010 erlebt, die ich nach wie vor für richtig halte.

In Nachbarstaaten sind populistische Parteien im Vormarsch. Droht das auch hier?

Wenn jemand käme, der gut rüberkommt, smart ist, reden kann, geschniegelt und gebügelt ist, nicht radikal aussieht, könnte so etwas auch in Deutschland passieren. Erst Recht angesichts des Schmelzprozesses bei den großen Volksparteien, mit dem nicht nur die SPD ihre Sorgen hat.

Fanden Sie es deshalb richtig, Thilo Sarrazin nicht aus der SPD auszuschließen?

Ich bin ein bisschen traurig über die Vorgehensweise. Selbst wenn es Stunden, ja Tage gedauert hätte: Man hätte vorher intensiv versuchen müssen, sich mit diesem Egozentriker zu einigen, damit er selbst aussteigt, weil die Partei das sonst nicht aushält. Alles was jetzt läuft, nutzt er nur für seine Popularität, für den Absatz seines Buches.

Wo sehen Sie die SPD, die mancher Genosse trotz Niederlagen bei den Wahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz auf der Siegerstraße wähnt?

Ein Sieg ist immer relativ, der kann schon darin bestehen, dass der Gegner fast vom Pferd gefallen ist und man selbst in den Sielen hängt. Die SPD hat in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz Ziele erreicht, kann aber nicht zufrieden sein. Die Partei muss wieder Profil gewinnen.

Ihr Ratschlag?

Ich kann nur den Kurs von Hamburg empfehlen: Dass man klar sagt, was nötig ist und darauf vertraut, dass die große Mehrheit der Wähler keinen Illusionen nachjagt. Die will verlässliche Politik, selbst wenn manches schwer und unpopulär ist.

Es könnte sein, dass die SPD häufiger Juniorpartner der Grünen wird.

Ich glaube das nicht. Der steile Anstieg für die Grünen hat seine Ursache auch in Fukushima. Das ist verständlich. Sie hat uns alle beunruhigt, diese Katastrophe 25 Jahre nach Tschernobyl. Aber so etwas passiert ja zum Glück nicht alle Jahre. Ich denke, dass man in der aktuellen Debatte erkennen wird, wie nötig wir Energie brauchen. Die SPD wird kein Lämmerschwanz der Grünen.

Trost für die SPD mag die Krise der Linken im Bund sein. Verliert diese dadurch auch im Osten, bisher ihr Rückgrat?

Erstaunlicherweise dominiert ja in der Bundespartei eine Linie, die stramm auf Populismus setzt. Würde das auf den Osten übergreifen, wäre die Linkspartei überlebt. Aber für Abgesänge ist es zu früh. Die Linke hat eine Kernsubstanz und überraschenden Nachwuchs jüngerer Leute, von Studenten, Jungakademikern. Wenn es der Linken gelingt, auch in praktischer Regierungsarbeit Ziele von sozialer Gerechtigkeit umzusetzen, hat sie mindestens im Osten auf absehbare Zeit eine Zukunft. Für ihre bundesweite Entwicklung ist es deshalb ziemlich wichtig, wie Rot-Rot in Brandenburg gelingt.

2002 haben Sie prophezeit, in zehn Jahren werde die Ost-West-Angleichung erreicht.

Ich schätze, es fehlen noch zehn Prozent, dabei sind wir im Materiellen näher dran als mental. 2012 wird es noch manche Defizite geben, Rückstände bei Löhnen und Gehältern etwa, wo man noch einmal zulegen oder wenigstens verbindliche Fahrpläne verabreden sollte. Mit den Köpfen werden wir noch länger zu tun haben. Mir ist dabei eine Botschaft an die Ostdeutschen wichtig: Leute, ihr müsst nicht so tun, als ob ihr alle erst am 3.Oktober 1990 geboren wurdet! Ihr könnt zu dem stehen, was ihr in der DDR unter schwierigen Bedingungen geleistet habt, wie ihr gelebt, gearbeitet, Familien gegründet habt. Obwohl ihr das System mitgetragen habt, seid ihr gleichberechtigt in Deutschland. Ohne die Ostdeutschen gäbe es keine Wiedervereinigung.

Wie sehen Sie Ihre Förderpolitik, die Ihnen Vorwürfe der „kleinen DDR“ einbrachte?

Die Konzentration auf Arbeit, Arbeit, Arbeit für die Leute war grundsätzlich richtig. Wir haben gerungen, die industriellen Kerne zu erhalten. Aber ich habe eins unterschätzt und damals geglaubt: Wenn man in schwierigen äußeren Regionen des Landes Fabriken und Infrastruktur mit höheren Sätzen fördert, dann wird das schon greifen. Ich musste lernen, dass man keine Politik gegen den Markt machen kann.

Ihre bitterste Niederlage war die gescheiterte Länderfusion. Haben Sie den Traum aufgegeben?

Es wird Berlin-Brandenburg geben.

War es 1996 falsch, das Volk zu befragen?

Es war richtig, obwohl Parlamentsbeschlüsse gereicht hätten. Der große Fehler war, nach dem Beschluss nicht gleich abzustimmen, sondern erst 13 Monate später. Inzwischen wurde die Wirtschaftslage schlechter, dann kamen die schreckliche Debatte über Berliner Schulden und obendrauf Störmanöver bestimmter Kreise in Berlin, die heftig gegen die ,sozialistischen Wärmestuben‘ argumentierten, weil sie die Fusion nicht wollten. Trotzdem liegen für mich Niederlage und Erfolg dicht beisammen. Denn der Plan B, den ich mit Eberhard Diepgen vorsorglich verabredet hatte, nämlich eine enge Kooperation, ist ein Erfolg geworden.

Wie könnte noch etwas werden mit dem gemeinsamen Land?

Man darf jetzt auf keinen Fall eine Fusionsdebatte anfangen. Aber man kann gar nicht oft genug von Berlin-Brandenburg reden, noch enger zusammenarbeiten, Fakten schaffen, durch so viele gemeinsame Strukturen wie möglich, um ins Unterbewusstsein der Leute zu rücken: Beide Länder gehören zusammen. Berlin ist keine Insel, wäre nichts ohne das Drumherum. Und Brandenburg stünde ohne den Motor in der Mitte schlechter da als manch andere Ostland.

Und wenn sich alle daran gewöhnt haben, folgt eine Blitz-Vereinigung als formal letzter Schritt?

Es sei denn, es kommt völlig anders. Ich schließe nicht aus, dass nach 2020, nach dem Ende des Solidarpaktes und dem Wirksamwerden der Schuldenbremse, eine Länderneuordnung in der ganzen Bundesrepublik auf die Agenda gerät. Dann käme vielleicht ein größeres Land zustande, mit dem Berlin für die Brandenburger leichter zu ertragen wäre, nämlich die so genannte Nordmark.

Eine Entscheidung Ihrer Amtszeit wirkt sich jetzt aus. Bereuen Sie angesichts der Proteste, dem BBI-Standort Schönefeld zugestimmt zu haben?

Ich war Verlierer. Das gehört zur Politik. Ich bin traurig, dass es damals nicht möglich war rüberzubringen: Sperenberg mit 24-Stunden-Betrieb ist der bessere und der menschenfreundlichere Flughafen, selbst wenn der Weg dorthin etwas länger dauert.

Warum war das nicht durchsetzbar?

Der Bund hatte kein Interesse an einem Drehkreuz, das eine ernsthafte Konkurrenz für Frankfurt und München geworden wäre. Und für viele Berliner war damals schon Schönefeld weit weg, ein Schrecken, fast Westrand von Sibirien. Und dann wollten wir Sperenberg. Selbst die Grünen, die heute so lärmen, waren wegen ein paar hundert Kiefern in Sperenberg damals für Schönefeld.

Mit Rot-Rot bekam Brandenburg eine Stasi-Debatte und nach 20 Jahren doch noch eine Stasi-Beauftragte. Ist es Ihre große Hypothek, dass bei der Aufarbeitung der SED-Diktatur hier so wenig passierte?

Wir haben Rache nicht als vorrangige Aufgabe angesehen. Unser Ansatz war: Es muss alles auf den Tisch, Wahrheit muss da sein, Verschweigen und Versteckspielen sind nicht akzeptabel. Aber wo klar ist, dass sich Menschen nicht strafbar gemacht haben, ehrlich sind, sich für den Aufbau engagieren wollen, sollte man eine zweite Chance geben. Aber man sollte sehr differenziert hinschauen, auf den Einzelnen, keine Pauschalurteile fällen und keine alleinige Zuspitzung auf die Stasi machen. Das hatte mit den DDR-Verhältnissen wenig zu tun.

Was ist daran falsch?

Die reine Fokussierung auf die Stasi bis heute halte ich für einen großen Fehler. Ich finde gut, dass das Aufgabenfeld von Ulrike Poppe weit darüber hinausgeht, nämlich auf die komplexen Mechanismen einer Diktatur ausgerichtet ist. Die wichtigen Entscheidungen fielen immer in der Parteizentrale, im SED-Politbüro, bis hin zu Einzelausreisen.

Haben Sie unterschätzt, was da noch schlummert?

Ich dachte, dass das nach fünf, sechs Jahren erledigt ist, dass es kaum noch größere, ernste Fälle gibt. Das war ein Irrtum. Das Thema ist lebendig, auch durch Medien.

Seit Monaten machen Stasi-Fälle in Polizei und Justiz Schlagzeilen. War die Übernahmepraxis Ihrer Regierungen zu großzügig?

Ich denke, der Weg war grundsätzlich vernünftig, aber ich ziehe eine klare Grenze. Alles, was damals offen auf dem Tisch lag, jetzt aufgewärmt wird, auch mit Sensationshascherei und politischer Absicht, ist aus meiner Sicht prinzipiell nicht infrage zu stellen. Nicht geduldet werden kann, wenn Neues hochkommt, was damals geleugnet oder verschwiegen wurde, wenn sich Opfer melden und nachweisen: Der hat uns erheblich geschadet. Dann darf es kein Erbarmen geben.

Lag Brandenburgs Sonderweg daran, dass Sie selbst wegen Ihrer Stasi-Kontakte als Kirchendiplomat unter Beschuss waren?

Es ist falsch, wenn man jetzt so tut oder mir gar unterstellt, ich hätte Einfluss genommen, damit Stasi-Leute gestreichelt werden. Auf die Linie, Biografien mit menschlichem Maß zu bewerten, hatten wir uns schon Ende 1990/1991 festgelegt. Und der Fall Stolpe ging erst 1992 los, ausgelöst durch mein Buch „Schwieriger Aufbruch“, in dem ich auch meine Gespräche mit der Staatsmacht, mit der Staatssicherheit offenlegte.

Trotzdem war die Vergangenheit kein Thema mehr. Hat das dazu geführt, dass die Debatte jetzt so rigoros geführt wird, dass es der Stasi-Unterlagenchef Roland Jahn mit Anfang der Neunziger verglich?

Mag sein, man sollte gelassener sein, und auch im Blick haben, wie ständige Stasi-Debatten in der Bevölkerung wirken können. Am Ende kann das dazu führen, dass im Westen platte Vorurteile, DDR gleich Stasi, erhärtet werden, und im Osten sich Abwehrhaltungen verfestigen. Die Erinnerungskultur ist geteilt, da gibt es die offizielle Linie, dass alles grauenhaft war, sich eigentlich jeder entschuldigen müsste, warum er damals nicht abgehauen ist. Und in den Runden, in denen man unter sich ist, hört man die anderen Töne. Leider ist das so.

In Brandenburg sind SED-Opfer vernachlässigt worden, aus dem Blick geraten.

Diese Hinweise nehme ich ernst. Das war nie die Absicht, egal in welcher Koalition seit 1990. Das lohnt, sich sehr genau anzusehen. Damit kein Missverständnis entsteht: Ich bin nicht unglücklich über die Enquetekommission. Ich habe bis zur Stunde auch noch die Hoffnung, dass diese in der Lage ist, die Transformation Brandenburgs einigermaßen sachlich, gerecht, wissenschaftlich korrekt aufzuarbeiten und zu bewerten.

Sie haben keine Sorge, dass Ihr Lebenswerk infrage gestellt wird?

Mein Lebenswerk ist mehrschichtig. Und Brandenburg kann man sowieso nicht kaputtreden.

Ihre Frau Ingrid und Sie gehen offen mit dem Kampf gegen den Krebs um. Das Buch heißt „Wir haben noch so viel vor“. Was genau?

Die Krankheit ist ja immer noch ein Tabu, man redet nicht darüber, obwohl es viele Menschen betrifft. Fünf Millionen in Deutschland, jedes Jahr kommen Hunderttausende dazu. Im Titel des Büchleins steckt ein bisschen Trotz. Wir wissen, dass es an der nächsten Ecke schon wieder spannender aussehen kann. Trotzdem gilt für mich: Was einem wichtig ist, wird gemacht. Deshalb engagiere ich mich für die Rettung von bedrohten Denkmalen in der Mark, für ein gutes Verhältnis zu unseren östlichen Nachbarn Polen und Russland. Und in der Familie heißt das, dafür zu sorgen, dass die zusammenhält. Der größere Teil lebt übrigens im Westen. Ich hoffe, dass ich allen einmal die Burg Stolpe in der Uckermark zeigen kann.

Haben Sie Angst vor dem Sterben?

Nein! Aber ich gebe zu, das ist eine Momentaufnahme. Ich weiß nicht, wie es ist, wenn es so weit ist, vielleicht mit Schmerzen und Qualen. Die sichere Erkenntnis, dass der Abschluss irgendwann einmal kommt, die gehört eben dazu, wenn man in den letzten Jahren schon ein bisschen an der Kante war.

Das Interview führten Thorsten Metzner und Gerd Nowakowski.

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