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Brandenburg: Kein Weg zum Nachbarn

Von Aurith (Deutschland) nach Urad (Polen) soll eine Brücke über die Oder geschlagen werden. Aber die Einwohner wehren sich dagegen

Von Sandra Dassler

Aurith. Das Auenland ist in Gefahr. Aber außer seinen Bewohnern scheint das niemanden zu interessieren. Schon gar nicht die Vertreter der Macht im fernen Potsdam.

Vor knapp sieben Jahren war alles anders. Da kannten sogar Japaner und Amerikaner den Namen Aurith. Auf ihren Fernsehschirmen verfolgten sie, wie das Dörfchen südlich von Frankfurt (Oder) als erstes evakuiert wurde, als die Jahrhundertflut aus Polen das Land Brandenburg erreichte. Am 22. Juli 1997 verließen die Aurither ihre Häuser, nur Stunden später brach der erste Deich. 500 Kubikmeter Wasser pro Sekunde strömten in die Ziltendorfer Niederung. Ein 50 000 Quadratmeter großer See entstand.

Jedes Mal, wenn Heinz Blümel von seiner Wohnung im Ziltendorfer Ortsteil Thälmannsiedlung zu seinem kleinen Gasthof in Aurith fährt, denkt er wehmütig daran, dass hier vor der Flut eine der schönsten Alleen Deutschlands verlief. „Das Wasser stand viel zu lange in den Oderauen“, erzählt Blümel: „Die großen alten Bäume sind alle gestorben.“

Neue Bäume wurden nicht gepflanzt, und die mit Schlaglöchern gespickte Fahrbahn bringt jeden Stoßdämpfer zur Strecke. Seit dem Hochwasser hat sich in Sachen Straßenbau nichts getan, weil die Landesregierung weiterreichende Pläne hat. Sie möchte in Aurith eine Brücke hinüber ins polnische Urad bauen. Eine große Brücke, über die vor allem Lastwagen fahren sollen. Die Aurither aber wollen keine Brücke. Vor dem neuen, höheren Deich haben sie ein Schild aufgestellt, mit dem sie Touristen um Unterstützung bitten. „Helfen Sie mit, die wahnwitzigen Pläne der Potsdamer Landesregierung zur Zerstörung einer der letzten Auenlandschaften in Europa zu verhindern“, steht darauf. Der Bürgerverein Aurith teilt außerdem mit: „Unterschriftenlisten finden Sie in unseren Gaststätten.“

Gaststätten gibt es zwei. Aurith dürfte damit eines der gastronomisch bestversorgten Dörfer sein: die Einwohnerzahl schwankt seit Jahren zwischen 48 und 52. Eine Kneipe auf zwei Dutzend Einwohner – das kann sich sehen lassen, auch wenn es sich in der kalten Jahreszeit nicht lohnt. „Hin und wieder eine Familien- oder Brigadefeier“, sagt Heinz Blümel, „damit kommen wir über den Winter.“

Blümel öffnet seine Gaststätte „Zur alten Fähre“ trotzdem auch im Winter Tag für Tag. Früher hat er in der Landwirtschaft gearbeitet. Nach der Wende 1990, erzählt der 54-Jährige, habe er schnell gemerkt, dass dort alles den Bach runtergehe: „Die ehemaligen DDR-Bürger wollten doch keine einheimischen Produkte mehr. Die waren nur noch scharf auf holländische Tomaten.“ Also hat Blümel den Beruf gewechselt, mit seiner Frau das alte Haus in Aurith gekauft und sechs Jahre lang Stück für Stück ausgebaut. Als er fertig war, kam das Hochwasser. Danach fing Blümel wieder von vorn an. Die Spendengelder haben geholfen, aber den Mumm zum Neubeginn musste der Ex-Landwirt selbst aufbringen. „Ich denke schon, dass es sich gelohnt hat“, sagt er: „Im Sommer gibt es hier sehr viele Touristen. Sobald es wärmer wird, kommen sie in Scharen – Wanderer, Radfahrer, Skater, Paddler und Angler.“ Schon die Märzsonne treibt Spaziergänger auf den Deich. Manche laufen auch die paar Schritte hinunter zur Oder, die Aurith seit Kriegsende von Urad trennt wie Guben von Gubin oder Frankfurt von Slubice. Vor dem Krieg standen die meisten Häuser des Dorfes im Osten, im Westen lagen die fruchtbaren Weiden und Äcker, dazwischen verkehrte eine Fähre.

Eine Fähre könnten sich die Aurither auch jetzt wieder vorstellen, aber keine Brücke. Sie wollen sie nicht, ganz egal, was die Planer im brandenburgischen Verkehrsministerium sagen: „Das Land braucht mehr Grenzübergänge, um vor allem die regionale Wirtschaft durch Handel und Kooperationen mit dem neuen EU-Mitglied anzukurbeln“, begründet ein Ministeriumssprecher das Vorhaben. „Aber wir versuchen, eine Lösung zu finden, die auch den Aurithern gerecht wird.“ Heinz Blümel glaubt solchen Beteuerungen nicht. „Die da oben in Potsdam werden keine Rücksicht auf uns nehmen“, meint er: „Aber uns wird schon was einfallen.“

Die Aurither leben von den Touristen. Die kommen wegen der schönen Landschaft und wegen der Biber und Seeadler, die es hier gibt. Mit „Polenfeindlichkeit“, die man ihnen manchmal unterstellt, habe der Widerstand gegen die Brücke gar nichts zu tun: „Es geht um die Lkw“, sagt Heinz Blümel, „die uns die Touristen vertreiben, und nicht um die Polen.“ Und dann beschreibt er die seltsame Situation, in der sie hier seit fast 60 Jahren leben: Wenn in Urad ein Dorfköter bellt, stimmen die Hunde in Aurith ein. Und umgekehrt. Man hört „drüben“ die Hähne krähen und manchmal auch die Frauen keifen. Die Dörfer spüren sich, aber es gibt kaum Kontakte zwischen den Menschen. Um nach Urad zu kommen, müssten die Aurither erst nach Guben oder Frankfurt, dort über die Grenze und dann auf polnischer Oderseite wieder zurück. Das sind 40 bis 50 Kilometer.

Die Einzigen, die manchmal auf direktem Weg zueinander finden, sind die jungen Leute. Jugendliche aus Urad paddeln ab und an über die Oder, um kleine Dinge zu schmuggeln, oder eben einfach so. Als Teenager ist auch Blümel heimlich über den Fluss geschwommen. „Drüben saßen die hübschen polnischen Mädchen“, sagt er. „Aber ich habe nur geguckt. In Urad an Land zu gehen, war zu gefährlich.“ Einmal haben ihn die polnischen Grenzer entdeckt und in die Luft geschossen. Da ließ er Mädchen Mädchen sein.

„Polenfeindlichkeit“– das will sich Heinz Blümel nicht unterstellen lassen. Als letzten Beweis für seine Zuneigung den Nachbarn gegenüber zeigt er auf seinen Kater. Der ist wohl genährt, hat nur ein Auge, und manchmal faucht er ganz und gar diabolisch. Man glaubt seinem Herrn aufs Wort, dass das Tier Schlimmes durchgemacht haben muss. Als Blümel nach der Flut zum ersten Mal zu seiner Kneipe ruderte, hörte er ein seltsames Geräusch auf dem Dach. Da saß der halb verhungerte Kater. Und weil der fast vier Wochen ohne Fressen ausgehalten und so komisch miaut hat, und weil sich niemand nach ihm erkundigte, ist Blümel davon ausgegangen, dass er von jenseits der Oder kommen müsse und hat ihn liebevoll „Polen-Paule“ genannt.

Die andere Aurither Gaststätte betreibt Silke Thurian. Ihr „Bauernstübchen“ liegt direkt am Deich und blieb 1997 wie ein Wunder vom Hochwasser verschont. Auch Silke Thurian hat „kein Problem mit den Polen“. Noch nie sei bei ihr etwas gestohlen worden, sagt die 33-jährige Wirtin. Und wenn doch, dann waren es keine Polen, sondern Weißrussen oder Ukrainer. Silke Thurian ruft immer den Bundesgrenzschutz an, wenn sie beobachtet, dass Asylbewerber über die Oder kommen. „Es gibt ja schon für Deutsche zu wenig Arbeit“, begründet sie das. Ihre beiden Kinder, die jetzt 13 und 16 sind, müssten wohl in die alten Bundesländer gehen, um eine Lehrstelle zu finden. Der 16-Jährige wollte bei Eko-Stahl in Eisenhüttenstadt unterkommen. „Aber dazu ist er zu schlau“, sagt Silke Thurian sarkastisch: „Wenn er schlechte Noten hätte, dann würden sie ihn nehmen. Für Lernbehinderte gibt es Zuschüsse.“

Silke Thurian ist sicher, dass sich mit dem EU-Beitritt Polens am 1. Mai zwischen Urad und Aurith nichts ändern wird. „Es darf ja weiterhin niemand einfach so über die Oder fahren“, sagt sie. Und hofft sie. „Wenn die Touristen das könnten, wäre ich ganz schnell pleite, denn mit polnischen Preisen kann ich nicht mithalten.“ Mit einem Urader Gastwirt gemeinsam ein Unternehmen aufzuziehen – diese Idee ist ihr nie gekommen. Heinz Blümel findet: „Da könnte man ja mal drüber nachdenken.“ Er schaut grübelnd auf seinen Kater: „Was meinst du, Polen-Paule?“

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