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Kindesvernachlässigung in Brandenburg: Behörden wussten seit Jahren von verstecktem Mädchen

Im Fall des 13-jährigen Mädchens in der Uckermark, das jahrelang von seinen Eltern versteckt gehalten worden war, werden schwere Vorwürfe gegen das Jugendamt laut. Offenbar dauerte es vier Jahre, bis die Behörden reagierten.

Die Bürgermeisterin von Uckerland, Christine Wernicke, sagte am Mittwoch, der Gemeindeverwaltung sei schon vor vier Jahren aufgefallen, dass ein Mädchen aus der Familie nicht eingeschult wurde. Das Jugendamt in Prenzlau sei damals informiert worden. Warum es aber vier Jahre dauerte, bevor jetzt etwas geschah, wisse sie auch nicht. Da müsse man das Jugendamt fragen. Die Aufforderung zur Schuleingangsuntersuchung habe die Familie jedenfalls erhalten.

Der größere Bruder des Mädchens soll in Prenzlau in eine weiterführende Schule, die kleinere Schwester in die Grundschule der Gemeinde nach Werbelow gehen. Dort hatte man auch die Anmeldung für das jetzt gefundene Mädchen erwartet. Diese blieb aber aus. "Die Eltern sind nicht verpflichtet, ihr Kind hier in eine Schule zu schicken", erklärte die Bürgermeisterin.

Eltern war Behinderung des Mädchens offenbar unangenehm

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In diesem Haus in Lübbenow lebte das Mädchen. -

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Der dramatische Fall von Kindesvernachlässigung ereignete sich in dem kleinen Dorf Lübbenow in der Uckermark. Wie die Polizei in Prenzlau gestern Abend bestätigte, ist dort ein 13-jähriges Kind aufgefallen, das die Eltern jahrelang weder zum Arzt noch in die Schule geschickt haben. Das Mädchen soll körperlich und geistig behindert sein. Nach Auskunft von Sandra Urland, Pressesprecherin des Polizeischutzbereiches Uckermark, soll das Mädchen stark zurückgeblieben sein. Die Polizei ermittelt jetzt gegen die Eltern wegen Verdachts der Vernachlässigung der Fürsorge- und Aufsichtspflicht. Den Eltern war die Behinderung des Kindes offenbar so unangenehm, dass sie es vor der Öffentlichkeit versteckten, lauten erste Analysen des Geschehens.

Die Staatsanwaltschaft Neuruppin führt jetzt die Ermittlungen. Erste Erkenntnisse über den Fall gehen zurück auf den 17. Juli – an diesem Tag sind die Beamten tätig geworden, nachdem das Jugendamt die Polizei um Amtshilfe ersuchte. Ein Nachbar hatte sich ein Herz gefasst und es gewagt, sich an die Behörden zu wenden. Es soll dem Mann schon lange aufgefallen sein, dass drei Kinder zu der Familie gehörten, aber immer nur zwei auf der Straße, im Bus oder auf dem Schulweg zu beobachten waren.

Als die Jugendamtsexperten und die Polizisten das Haus der Familie besuchten, kontrollierten sie auch, ob ein schrecklicher Anfangsverdacht bestätigt wurde: So sollen die Eltern ihr Kind über Jahre eingesperrt haben, es auch misshandelt und geschlagen haben. „Dafür liegen nach ersten Erkenntnissen aber keine Anhaltspunkte vor, wir haben keine Hinweise auf ein gewaltsames Festhalten des Kindes im Haus“, sagte gestern Abend Polizeisprecherin Sandra Urland. „Das wird ein langwieriger Prozess, die Geschichte dieses Falles genau aufzuklären.“

Wie war es möglich, dass das Mädchen durch das Raster fiel?

Der gesundheitliche Zustand des Mädchens beunruhigte die Beamten, Pädagogen und Ärzte am Tage der Kontrolle jedenfalls so sehr, dass sie das Kind sofort aus der Familie genommen und in eine Klinik gebracht haben. Das Kreisjugendamt hatte diese Entscheidung unterstützt. Um die Familie zu schützen und den weiteren Fortgang der Ermittlungen, aber auch des Erziehungsprozesses nicht zu beeinträchtigen, hatte die Polizei die Öffentlichkeit nicht weiter informiert. Die beiden Geschwister leben weiter bei den Eltern, besuchen die Schule. Doch das Geschehen beschäftigt die Nachbarn des rund 350-Seelen-Dorfes, und auch die Politiker im Bundesland. Im Bildungsministerium prüfen die Fachleute jetzt, wie es möglich war, dass das Mädchen offenbar durch alle Raster gefallen ist.

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Fenster des Wohnhauses -

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Der Fall des Mädchens aus Lübbenow weckt Erinnerungen an weit schlimmere Fälle von Kindesvernachlässigung in Deutschland, etwa an den der kleinen Jessica aus Hamburg. Weil die Eltern das siebenjährige Mädchen in der eigenen Wohnung verhungern ließen, verbüßen ihre Eltern jetzt eine lebenslange Haftstrafe. Im brandenburgischen Cottbus wurde der Fall des kleinen Dennis verhandelt, der bis auf die Knochen abgemagert, verhungert und dann in der Tiefkühltruhe im Elternhaus versteckt wurde. Die Schwere der Tat in dem kleinen Ort Lübbenow mit dem 1738 erbauten Gutshaus im Dorfkern ist eine andere, doch sie weist auf mögliche Versäumnisse bei den Behörden hin.

„Wir müssen auch in Berlin alles dafür tun, dass so etwas nicht passiert“, sagte die Sprecherin des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes in Berlin, Elfi Witten. In Berliner Jugendämtern können sich Experten noch an Zeiten vor wenigen Jahrzehnten erinnern, als auch hier ein Kind mit Behinderungen den Eltern unangenehm war. Der Sprecher der Berliner Bildungsverwaltung, Kenneth Frisse, sagte gestern Nacht, der Fall in Lübbenow bestätige, wie wichtig das in Berlin begründete Netzwerk Kinderschutz sei. „Wenn das Kind unterentwickelt ist und nicht entsprechend gefördert wird, fällt das bei den Frühuntersuchungen schon weit vor der Schulzeit auf.“

Annette Kögel

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