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Brandenburg: Landleben als Chance für junge Delinquenten

Alternative zur U-Haft: In Frostenwalder Projekt lernen Jugendliche, die kriminelle Vergangenheit abzuschüttelnVON LARS VON TÖRNE FROSTENWALDE.Zum wiederholten Male war der 17jährige Matthias im vergangenen Jahr beim Autoknacken erwischt worden.

Alternative zur U-Haft: In Frostenwalder Projekt lernen Jugendliche, die kriminelle Vergangenheit abzuschüttelnVON LARS VON TÖRNE FROSTENWALDE.Zum wiederholten Male war der 17jährige Matthias im vergangenen Jahr beim Autoknacken erwischt worden.Da stellte ihn der Richter vor die Wahl: Entweder Untersuchungshaft bis zur Gerichtsverhandlung oder die Unterbringung in der betreuten Jugendhilfeeinrichtung Frostenwalde bei Schwedt."Ich habe lange hin und her überlegt", erinnert sich der junge Cottbusser."Viele meiner Kumpels sind in den Knast gegangen.Die waren nach ein paar Monaten wieder draußen und haben dann wieder angefangen, Dinger zu drehen." Matthias entschied sich für Frostenwalde, wo er seit knapp einem Jahr gemeinsam mit 23 anderen straffälligen Jugendlichen wohnt.Die Einrichtung des Evangelischen Jugend- und Fürsorgewerkes (EJF) gilt als ostdeutsches Vorreiterprojekt, als Alternative zur Untersuchungshaft."Zu uns kommen die Jugendlichen, die noch nicht dauerhaft in eine kriminelle Karriere gerutscht sind", erklärt Projektleiter Heinz-Joachim Sommer."Wir wollen erzieherisch auf sie einwirken und die schädlichen Einflüsse der U-Haft vermeiden." Die 15- bis 18jährigen leben zusammen in Wohngruppen und werden rund um die Uhr betreut.Sie bekommen Schulunterricht und arbeiten in handwerklichen Projekten.Die Wohn- und Arbeitshäuser der Einrichtung liegen in einem kleinen Waldstück fernab der nächsten Dörfer, am Rande des Nationalparks Unteres Odertal."Hier haben die Jugendlichen eine Chance, aus ihren alten Cliquen herauszukommen", sagt Sommer."Die Entfernung vom alten Wohnort und von ihren delinquenten Bezügen ist eine Chance, in Ruhe über ihr Leben nachzudenken." "Zu Anfang fand ich es völlig scheiße, von der Außenwelt abgeschnitten zu sein", erinnert sich Matthias.Auch habe es einige Wochen gedauert, bis er sich an die strenge Ordnung in seiner Wohngruppe und den regelmäßigen Schulunterricht gewöhnt hatte.Dennoch bereue er seine Entscheidung nicht."Man hat hier enorm viel Zeit, zu sich selbst zu finden", sagt er."Im Knast verrottest Du nur und lernst, wie Du noch bessere Dinger drehen kannst, wenn Du wieder rauskommst." Für die Jugendlichen in Frostenwalde geht es vor allem darum, gemeinsam mit den Betreuern ihr Leben zu ordnen und über ihre Vergangenheit nachzudenken, sagt Sommer.Das gehe jedoch nur freiwillig."Mit Druck erreicht man gar nichts".Wächter oder Zäune sucht man in Frostenwalde vergebens.Sommer: "Die Jugendlichen sollen bei uns Beziehungen zu Menschen aufbauen, bei denen sie sich geborgen fühlen und die sie daran hindern, hier wegzulaufen.Gleichzeitig machen wir ihnen deutlich, daß sie sich an die Spielregeln hier zu halten haben." Zum Programm gehören auch handwerkliche Arbeiten.Je nach Interesse arbeiten die Jugendlichen in Bauprojekten mit, kümmern sich um das Haus oder arbeiten als Gärtner."Hier geht es um die Entwicklung der Persönlichkeit, um Sachen wie Ehrlichkeit, Verbindlichkeit und Genauigkeit", sagt Betreuer Wolfgang Oppelt.Bei manchen Jugendlichen kann sich aus der Arbeit in Frostenwalde ein Praktikum in einem der benachbarten Orte ergeben."Ich arbeite seit sieben Monaten draußen, in einer Gärtnerei", berichtet Matthias stolz.Und fügt grinsend hinzu: "Wenn ich wollte, könnte ich jeden Tag abhauen - ich will aber nicht." Vor drei Jahren ist die Einrichtung vom brandenburgischen Justizminister Hans-Otto Bräutigam eröffnet worden.Bis dahin waren jugendliche Straftäter bis zur Gerichtsverhandlung wie andere U-Häftlinge in regulären Haftanstalten untergebracht worden.Seit 1995 haben über 160 Jugendliche, darunter fünf Mädchen, in Frostenwalde für begrenzte Zeit gelebt.In der Regel bleiben sie vier bis sechs Monate, bis sie ihre Gerichtsverhandlung hinter sich haben.Die Mehrzahl der jungen Straftäter habe große Defizite im Sozialverhalten, erklärt Betreuer Oppelt.Oftmals lebten sie in Frostenwalde zum ersten Mal in geordneten Verhältnissen, mit geregeltem Tagesablauf und klaren Strukturen."Das betrifft die selbständige Zubereitung von Mahlzeiten oder das Aufräumen der eigenen Zimmer ebenso wie gewaltlose Möglichkeiten der Konfliktlösung", sagt der Sozialpädagoge."Die meisten kommen aus zerrütteten Familien, wo sie das nicht gelernt haben." Als Familienersatz hätten sie sich Cliquen gesucht, in denen es dann zu Straftaten gekommen ist.Manchen Bewohnern von Frostenwalde drohen nach der Verurteilung hohe Strafen.Sie warten auf ihre Urteile wegen schweren Raubes, Diebstahls, Körperverletzung mit Todesfolge.Bei günstiger Sozialprognose ließen sich die Strafen jedoch oftmals zur Bewährung aussetzen, so Oppelt.Deswegen gehe es in Frostenwalde darum, die Jugendlichen auf ein straffreies Leben nach dem Urteil vorzubereiten.Jugendliche und Erzieher erarbeiten einen "Hilfeplan".Gemeinsam wird nach einer Möglichkeit der Unterbringung für die Zeit nach dem Gerichtstermin gesucht: in Heimen, betreuten Wohngemeinschaften oder bei den Eltern.Das in Brandenburg einmalige Projekt kann auf sichtbare Erfolge verweisen: Etwa 60 Prozent der Jugendlichen, die aus Frostenwalde entlassen wurden, sind danach nicht mehr im Gefängnis gelandet, wie Heinz-Joachim Sommer ermittelt hat.Dennoch dürfe die kurze Phase der Betreuung nicht überschätzt werden, wie der Leiter betont: "Wir können nicht in sechs Monaten alles reparieren, was in 15 Jahren kaputt gemacht worden ist."

LARS VON TÖRNE

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