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Brandenburg: Verleugnete Schwangerschaften

Prozess gegen die Mutter der neun toten Babys: Angehörige erzählen, die Angeklagte schweigt

Von Sandra Dassler

Frankfurt (Oder) – Ein einziges Mal habe Jutta J. ihre Schwester Sabine H. gefragt, ob sie etwa schwanger sei. Die Antwort: „Um Gottes willen – ich habe doch schon drei Kinder!“ Jutta J. will nicht noch einmal nachgefragt haben, obwohl ihr die Schwester zu diesem Zeitpunkt ungewöhnlich dick erschien. Als sich beide das nächste Mal trafen, war Sabine H. wieder schlank. Der Vorfall, meint Jutta J., sei zehn bis fünfzehn Jahre her. Er fällt also in die Zeit zwischen 1992 und 1998, in der Sabine H. neun ihrer Kinder unmittelbar nach der Geburt getötet haben soll.

Die gelernte Zahnarzthelferin muss sich wie berichtet seit vergangenen Donnerstag vor dem Landgericht in Frankfurt (Oder) verantworten. Angeklagt ist die 40-Jährige wegen Totschlags durch Unterlassen allerdings nur in acht Fällen: Die erste Tötung eines Neugeborenen im Jahr 1988 haben die Richter als nach DDR-Recht verjährt bewertet. Am gestrigen zweiten Prozesstag kam allerdings im Gerichtssaal die Vermutung auf, dass es noch weitere Schwangerschaften gegeben haben könnte. So berichtete die Freundin des Neffen von Sabine H., dass die Angeklagte im Sommer 2004 dicke Kleider getragen und einen Besuch im Freibad mit der Begründung abgelehnt habe, sie mache gerade eine Abmagerungskur. In der Familie sei daraufhin der Verdacht geäußert worden, dass Sabine H. wieder schwanger sei. Ein Jahr später habe ein damaliger Lebensgefährte der Angeklagten ebenfalls von einer Schwangerschaft gesprochen.

Die Staatsanwältin kann nicht ausschließen, dass es weitere Geburten gegeben hat. „Wir sind entsprechenden Hinweisen nachgegangen, haben überall nach weiteren Babyleichen gesucht, aber nichts gefunden. Deshalb blieb es bei den acht angeklagten Fällen.“ Während die Angeklagte weiter schweigt, berichteten Familienangehörige gestern über die jahrelangen Alkoholprobleme der Angeklagten. „Wir haben versucht, ihr zu helfen, sie gefragt, warum sie trinkt“, schilderte Schwester Jutta die Situation, mit der die Familie offenkundig überfordert war: „Sie hat manchmal vor sich hingeweint, aber nichts gesagt. Und wenn sie dann wieder nüchtern war, ist sie immer sofort zurück zu ihrem Mann und den Kindern.“

Der Ehemann und Vater der neun toten Babys hatte am ersten Verhandlungstag die Aussage verweigert. Der Polizei hatte der 43-Jährige mitgeteilt, nichts von den Schwangerschaften seiner Frau gewusst zu haben. Diese hatte in der gerichtlichen Vernehmung als Tatmotiv angegeben, ihr Mann habe nach drei Kindern keine weiteren mehr gewollt. Nachdem sich Sabine H. vor einigen Jahren von ihrem Mann getrennt hatte, wurde sie von ihrem neuen Lebensgefährten schwanger. 2003 kam Tochter Elisabeth zur Welt. Sabine H. trank weiter. „Wir mussten die kleine Elisabeth oft holen, weil ihre Mutter sie nicht mehr versorgen konnte“, sagte Frank K., der Neffe von Sabine H. Einmal sei Sabine H. so betrunken gewesen, dass der Lebensgefährte die Polizei rief. „Sie hat mir daran die Schuld gegeben, mich beschimpft, meine Tochter und meine Freundin beleidigt“, berichtete Frank K.

Sein Streit mit Sabine H. führte dazu, dass die Babyleichen entdeckt wurden. Zwei Jahre lang lagerten Malereimer, ein altes Aquarium und eine Kinderbadewanne, die Sabine H. zuvor als Pflanzkübel auf dem Balkon stehen hatte, auf dem Grundstück ihrer Verwandten in Brieskow-Finkenheerd. Immer wieder hätten diese sie aufgefordert, die Gefäße abzuholen, sagte Frank K. Am 30. Juli 2005 war seine Geduld zu Ende. Er räumte auf. Als er das Aquarium ausschüttete, kamen kleine Knochen zum Vorschein. Eine in der Kinderbadewanne gefundene Tasche enthielt auch Schädelteile. Die Familie informierte die Polizei. Sabine H. wurde verhaftet. Bei der richterlichen Vernehmung sagte sie aus, dass sie sich nur an zwei Geburten erinnern könne. Immer, wenn die Wehen einsetzten, habe sie sich betrunken. Wie die Kinder in die Blumenkübel kamen – daran habe sie keine Erinnerung. Die Angeklagte wirkte wie schon am ersten Verhandlungstag auch gestern sehr gefasst. Sorgfältig geschminkt und frisiert, saß sie, mit einem Pulli bekleidet, nahezu reglos im Saal. Nur als der Richter sie fragte, ob sie sich die Fotos mit dem Inhalt der Blumengefäße ansehen wolle, schüttelte sie – kaum merklich – den Kopf.

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