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Brandenburg: Wittenberge fürchtet die Abwärtsspirale

Die Landesregierung will den Randregionen die Fördermittel streichen. Seitdem bangen die Menschen in der Prignitz um ihre Zukunftschancen

Wittenberge - Der Blick auf „Big Ben“ verheißt nichts Gutes. Die Zeiger auf der zur Stadt zeigenden Seite der großen Turmuhr in Wittenberge stehen schon lange still. Dabei gilt das fast 50 Meter hohe Gebäude als das Wahrzeichen des Ortes auf halbem Wege zwischen Berlin und Hamburg. Obwohl er äußerlich mit dem Glockenturm des Parlaments in London nichts gemein hat, tauften die Wittenberger den einstigen Wasserturm der Singer-Nähmaschinenwerke „Big Ben“ – Ausdruck eines Selbstbewusstseins, das nicht von ungefähr kam. Nirgends auf dem europäischen Festland stehe ein höherer Uhrenturm, versichert der örtliche Geschichtsverein bis heute. Doch inzwischen ist es der Stillstand der Zeiger, der symptomatisch für die Stimmung in der Stadt an der Elbe ist – noch sinnfälliger wäre es, sie würden rückwärts gehen.

Wittenberge soll, wie der gesamte Landkreis Prignitz im äußeren Nordwesten Brandenburgs, im neuen Förderkonzept der Landesregierung keine Priorität mehr haben. Es liegt rund 120 Kilometer zu weit weg von der „Metropolenregion“ um Berlin, deren Entwicklung künftig Vorrang genießt – um den Menschen, die aus den Randregionen des Landes abwandern, wenigstens eine Alternative in Brandenburg selbst zu bieten.

Wittenberges Bürgermeister Klaus Petry (SPD) hofft dennoch, dass er Ministerpräsident Matthias Platzeck (SPD) noch umstimmen kann. „Ich gebe doch nicht auf und lasse mir für meine Heimat Perspektivlosigkeit bescheinigen.“ Er setzt auf Gespräche mit Platzeck und den „geballten Protest“ der Prignitzer zwischen Lenzen, Wittenberge, Pritzwalk und Perleberg. „Wir Prignitzer sind von Natur aus etwas zurückhaltend. Aber wir wissen, wo wir den Mund aufmachen müssen.“

Bisher genoss Wittenberge im Landesentwicklungsplan den Status eines Mittelzentrums. Solch eine Einstufung ist bares Geld wert: Rund 600 000 Euro aus der Landeskasse erhielt die Stadt jährlich als Unterstützung für das Kulturhaus, die Bibliothek, das Museum, die Schwimmhalle und andere öffentliche Stätten. In der neuen Landesplanung ist in der Prignitz nur noch Perleberg als Mittelzentrum vorgesehen. Wittenberge würde zum „Nahbereichszentrum“ ohne überregionale Bedeutung herabgestuft – und von den 600 000 Euro bleibe nur noch ein Bruchteil übrig. „Ich befürchte einen erheblichen Abbruch in der Lebensqualität“, sagt der Bürgermeister. „Das betrifft auch die Dörfer in der Umgebung, die von unserem Angebot profitierten. Die Abwärtsspirale dreht sich schneller.“ Im Haushalt der Stadt klafft bereits jetzt eine Lücke von fünf Millionen Euro.

Wittenberge gehört nicht erst 2005 zu den Verlierern. Seit 1990 sank die Zahl der Einwohner um 8000 auf jetzt noch 20 000 – und geht wegen der niedrigen Geburtenrate und der Abwanderung der Menschen weiter zurück. Alle drei großen Industriebetriebe waren kurz nach der Wende nahezu gleichzeitig zusammengebrochen: die Nähmaschinenwerke Veritas, vormals Singer, die Ölmühle und das Zellstoffwerk. 8000 Jobs verschwanden praktisch über Nacht. Vom Zellstoffwerk blieb fast nichts übrig; die Ölmühle dient nur noch als Kulisse für die jährlichen Operettenfestspiele; nur im Nähmaschinenwerk mit dem alles überragenden Uhrenturm haben sich wenigstens ein paar kleine Firmen angesiedelt. Einzig das Ausbesserungswerk der Deutschen Bahn überlebte mit 800 Leuten. Es liegt gleich am rekonstruierten Bahnhof, zu dessen Eröffnung im August der Bundeskanzler nach Wittenberge gekommen war. Damals, in der Zeit der höchsten Erregung über Hartz IV, flogen hier Eier auf den Kanzler.

Wer heute durch die Stadt geht, sieht zwischen renovierten Fassaden und Brachflächen, wo Gebäude bereits abgerissen wurden, zahlreiche Häuser und Wohnungen leer stehen. Es fehlt überall an Zuversicht. Bürgermeister Petry bezeichnet denn auch die Wirkung der beabsichtigten Kürzung der Landeszuschüsse als dramatisch. „Es könnte sich der Eindruck festsetzen, dass bei uns nichts mehr passiert“, meint er. „Banken halten sich mit Krediten zurück und Investoren machen einen noch größeren Bogen um uns.“ Und falls sich doch ein Unternehmer für eine Ansiedlung entscheiden würde, hätte die Stadt kein Geld für seine Unterstützung. Es ginge nur weiter abwärts mit der einst stolzen Stadt Wittenberge, die sich vor 80 Jahren noch einen „Big Ben“ leisten konnte.

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