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Untersucht im ICE-Betriebswerk Rummelsburg zum Beispiel Radsatzwellen: DB-Zugprüferin Christine Tolk.

© Georg Moritz

Wie funktioniert die Stadt? (8): Der Zug von unten

Sie ist die fachliche Chefin von 100 DB-Prüfern - 99 von ihnen sind Männer: Christine Tolks Arbeitsplatz ist das Betriebswerk Rummelsburg.

Wenn Christine Tolk bei einer Fahrscheinkontrolle ihr Dienstticket mit dem DB-Ausweis zeigt, halten die Leute sie oft für eine Zugbegleiterin außer Dienst. Weil die Jungs ja Lokführer werden und die Mädels Schaffnerin – so ungefähr soll es wohl sein. Dabei ist es völlig anders.

Es geht schon damit los, dass Christine Tolk Züge viel öfter von unten sieht als von innen. Als Ingenieurin für Fahrzeugtechnik mit Spezialisierung „Prüfaufsicht für zerstörungsfreie Prüfung“ ist sie im Betriebswerk Rummelsburg die fachliche Chefin von 100 Prüfern, von denen 99 Männer sind. Sie sitzt am Tisch in einem Seitenraum der Halle, in der die ICE der zweiten Generation gewartet werden, vor sich einen Stapel Papiere mit Tabellen. Die haben ihr die Kollegen aus der Nachtschicht hinterlassen. Nachts, wenn kaum Personenzüge fahren, ist Stoßzeit im Werk. „Ich sage den Leuten, ihr müsst morgens mit einem guten Gefühl hier unterschreiben und ins Bett gehen können“, sagt Tolk. Die Unterschrift steht für korrekt geprüfte Radsatzwellen (landläufig „Achsen“ genannt, aber Achsen sind fest und Wellen drehen sich). Genau zwei Störungsmeldungen soll die Tabelle enthalten: eine in der ersten und eine in der letzten Zeile. Diese Zeilen betreffen die „Muster-Welle“, deren eingebaute Fehler das Messgerät finden muss. Das ist auf einem Rollwagen montiert und besteht im Wesentlichen aus einem Metallstift mit eingebauten Ultraschall-Sensoren, der in die hohlen Radsatzwellen geschoben wird. Erkennt das Messgerät eine Unregelmäßigkeit im Material, steht in der Tabellenzeile: „Mit Befund“. Eine einfache Welle unter einem ICE-II-Waggon ist in einer Stunde und damit meist noch in der Nachtschicht austauschbar, während der Tausch einer Antriebswelle an der Lok eines ICE-T die ganze Frühschicht dauert. Letzteres bedeutet, dass morgens beispielsweise statt eines Doppel-ICE nur ein kurzer startet zum Ostbahnhof oder nach Gesundbrunnen, von wo aus er quer durchs Land rasen wird, zu immer anderen Bahnhöfen, an denen immer andere Reisende verärgert sein werden.

Sicherheitsregeln bei der Deutschen Bahn

Christine Tolk entscheidet, ob ein Zug die Werkstatt verlassen darf. Sie weiß um den Stress für Kunden und Kollegen, wenn kein Reservezug verfügbar ist. Erschwert dieser Gedanke ihre Entscheidung? „Nö“, sagt sie ohne nachzudenken. Weil sich Sicherheit nicht gegen Komfort abwägen lasse. Selbst wenn man es versuchte: Wäre es besser, wenn ein voll besetzter Zug irgendwo in der Pampa liegenbleibt oder gar entgleist? Na also. Die Regeln, die es für jedes denkbare technische Problem schriftlich gibt, hat sie ohnehin auf ihrer Seite. Diese Regeln sind Gesetz im Bahnkonzern. Und: Sie sichern die Arbeitsplätze in Rummelsburg. Sie definieren die Prüfintervalle für die Radsätze, die zulässigen Toleranzen für jede Schweißnaht und die Vorgaben zum Zustand jedes Bauteils. Tempo 250 ist zu schnell für irgendwelche Experimente.

Chefin für 99 DB-Prüfer

Dass Christine Tolk nicht gerade wie eine Zweiflerin wirkt, dürfte ihr zugute kommen: „Als Frau kommt man schneller rein“, berichtet die 30-Jährige über ihren Start in Rummelsburg vor gut einem Jahr. „Aber dann hat man es schwerer, sich zu beweisen.“ Zwar seien „die Jungs hier alle in Ordnung“, aber als Frau sei es ein spürbarer Vorteil, wirklich Ahnung von der Technik zu haben und auch mal selbst zu schrauben. „Ich baue auch gern Möbel zusammen“, sagt sie. Aber „ein Pufferknutscher bin ich nicht.“ Soll heißen, dass sie ihre Wochenenden ohne die Bahn verbringt. Aber wenn dann wieder Montag ist, kommt sie gern her – und lässt sich immer wieder neu auf die Faszination der Größe ein, die man als Bahnreisender so kaum empfindet. Ein ICE am Bahnsteig wirkt nämlich zwei Nummern kleiner als ein ICE in der Werkstatt, dessen Räder einem bis zur Hüfte reichen und dessen Hupen im Bug aussehen wie Posaunen. Wenn die Nachbarn bei der Fahrscheinkontrolle im Zug nett sind, erzählt Christine Tolk auch mal von ihrer Arbeit. Ansonsten lässt sie den Irrtum so stehen. Die meisten Lokführer sind ja wirklich Jungs.

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