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Claudia Lampert: Was in der Zeitung steht, stimmt. Meistens.

Seit in der Zeitung stand, dass ich meine Kinder misshandle, reden meine Nachbarn nicht mehr mit mir. Dass ich gar keine Kinder habe, tut nichts zur Sache.

Seit in der Zeitung stand, dass ich meine Kinder misshandle, reden meine Nachbarn nicht mehr mit mir. Dass ich gar keine Kinder habe, tut nichts zur Sache. Vermutlich habe ich sie in den letzten Jahren geknebelt in der Besenkammer eingesperrt, deswegen haben die Nachbarn sie nie gehört oder gesehen. Zuzutrauen wäre es mir. Einer wie mir ist alles zuzutrauen. Steht in der Zeitung. Die ich unseligerweise nur selten lese. Hätte ich es getan, wäre ich vorbereitet gewesen.

Vorgestern bin ich Herrn Dunst begegnet. Herr Dunst ist der Gartenzwerg-fetischist aus der Parterrewohnung. Normalerweise plaudert er immer ein wenig, wenn ich ihn treffe. Meistens sogar mehr als ein wenig. Um ehrlich zu sein, er plaudert zu viel. Vorgestern hat er mich nur angeknurrt und ist wortlos in seiner Wohnung verschwunden.

"Gut", dachte ich mir, "vielleicht hat er schlecht geschlafen." Vielleicht ist wieder einer seiner Gartenzwerge weg. Die werden ständig gestohlen und finden sich an den unmöglichsten Orten wieder. Letztes Jahr ist Kurt, der Zwerg mit der Ziehharmonika, als Krippenfigur im weihnachtlich geschmückten Münster aufgetaucht. Naiv lächelnd hat er dem Christkind ein Ständchen gebracht. Stand in der Zeitung - gesehen habe ich es nicht, ich gehe nicht in die Kirche.

Dafür gehe ich in die Bäckerei. Täglich. Und vorgestern bin ich nicht bedient worden. Die füllige Verkäuferin, die sonst immer eine Kalenderspruchweisheit für mich parat hat, hat mich einfach ignoriert. Und als das nicht mehr ging, hat sie mir missmutig und ohne ein Wort meine Brötchen über die Theke geschoben und das Wechselgeld unterschlagen. Ich habe es nicht gewagt, sie darauf hinzu-weisen, so böse hat sie mich angesehen. Die anderen Kunden haben getuschelt und gezischelt. Keiner hat mit mir gesprochen. Wie ein geprügelter Hund bin ich nach Hause geschlichen.

Nur um im Flur Frau Wieland zu begegnen, die eben ihre Pflanzen goss, mit denen sie das gesamte Treppenhaus blockiert. Auch sie hat mich finster ange-sehen. Sofort hatte ich ein schlechtes Gewissen. Vielleicht hat sie herausge-funden, dass ich eine ihrer unzähligen Petunien mitgenommen habe. Ich brauchte noch ein Geburtstagsgeschenk und war spät dran, also habe ich die Petunie einfach … ausgeborgt. Mit der festen Absicht, sie zu ersetzen. Nur, dass ich bisher noch nicht dazu gekommen bin.

Frau Wieland hat mich angestarrt wie eine Aussätzige und nebenbei einen Benjamini ertränkt.

"Kinderschänder wie Sie sollte man wegsperren", hat sie mir zugezischt. "Sie … Sie … Monster!" Ohne weiteren Kommentar hat sie die Wohnungstür hinter sich zugeschlagen und den Benjamini in seiner Pfütze zurückgelassen.

"Kinderschänder?", dachte ich. Das kam mir reichlich übertrieben vor. Zum Kuckuck, es war doch nur eine Petunie! Ich konnte doch nicht ahnen, dass sie so an ihrem Gestrüpp hängt. "Na gut, dann entschuldige ich mich eben", dachte ich und klingelte todesmutig an Frau Wielands Tür. Der Grund ihrer Feindseligkeit ging tiefer und stand, wie sich nach einem von Missverständnissen geprägten und recht einseitigen Gespräch herausstellte, in der Montagszeitung. Auf Seite eins des Lokalteils. Vierspaltig. Mit Bild. Mir verschlug es die Sprache. Aber immerhin erklärte das die Unfreundlichkeit der Nachbarn und Dorfbewohner.

Letzte Woche habe ich in meiner Eigenschaft als Jugendamtsleiterin einen Vortrag über Kindesmisshandlung gehalten. Er war mäßig besucht. Ein Lokal-journalist war allerdings da. Ein pickliger junger Schnösel, der ein paar Fotos und einige halbherzige Notizen gemacht hat und vorzeitig gegangen ist. In dem Vortrag habe ich unter anderem gesagt, ich erinnere mich genau: "Eine Frau hat ihren Kindern angedroht, sie im Wald auszusetzen, wenn sie ihr Zimmer nicht aufräumen, und diese Drohung auch umgesetzt. Ich gebe offen zu, dass es schwierig ist, mit solchen Fällen umzugehen. Situationen wie diese entstehen nicht aus Lieblosigkeit, sondern aus Überforderung."

In der Zeitung stand: "Die Referentin gibt offen zu, mit ihren Kindern überfordert zu sein und sie im Wald ausgesetzt zu haben, weil sie ihr Kinder-zimmer nicht aufgeräumt haben." Offenbar war der picklige Schnösel noch unaufmerksamer, als ich dachte.

"Ich habe keine Kinder. Das ist ein Missverständnis", war alles, was ich herausbrachte.

Frau Wieland wirkte ein wenig verunsichert. Ihr Blick pendelte zwischen mir und dem Lokalblatt hin und her und blieb schließlich an letzterem hängen.

"Steht aber in der Zeitung", trumpfte sie nach längerem Überlegen auf und schob mich von ihrer Türschwelle.

"Man darf nicht alles glauben, was in der Zeitung steht", konterte ich lahm, aber da hatte sie die Tür bereits geschlossen.

Ich war nicht bereit, kampflos hinzunehmen, dass sich jeder Gang durchs Dorf oder durchs Treppenhaus in einen Spießrutenlauf verwandelte. Also habe ich die Zeitung angerufen und mich beschwert. Der Redakteur hat etwas von "Praktikant", "unfähige freie Mitarbeiter" und "bedauerlichem Missverständ-nis" gemurmelt und mir versprochen, eine Richtigstellung zu drucken.

Diese ist heute tatsächlich erschienen. Auf Seite vier des Lokalteils, rechts unten, einspaltig, unter den Kurzmeldungen. Sofort bin ich mit der Zeitung zu Herrn Dunst gegangen.

"Hm. Oii. Hmmm." Lange Zeit hat er nur unartikulierte Silben von sich gegeben und schließlich einen Satz gemurmelt, der so klang wie: "Wenn es da steht, wird es schon stimmen." Er wirkte zerknirscht und irgendwie erleichtert, was ich ihm hoch anrechne. Entschuldigt hat er sich nicht. Aber immerhin hat er mich ja auch nicht beschimpft, sondern nur angeknurrt, also ist das in Ordnung so. Vielleicht.

Ich klingelte bei Frau Wieland. Sie beäugte mich argwöhnisch, als ich bei ihr auf der Fußmatte stand.

"Sehen Sie, ein Missverständnis", sagte ich und deutete auf die Zeitung. "Steht in der Zeitung."

Sie würdigte das Blatt keines Blickes und schlug mich mit meinen eigenen Waffen.

"Man darf nicht alles glauben, was in der Zeitung steht", fauchte sie höhnisch und knallte mir die Tür vor der Nase zu.

Ich gebe auf. Ich will nicht als Geächtete leben und überlege, was ich tun könnte. Mich vom Balkon stürzen. Ich habe keinen Balkon. Mich an der Gardinenstange erhängen. Ich habe auch keine Gardinen, also auch keine Gardinenstange. Mir einen Brieföffner in den Bauch rammen. Irgendwie klingt das unhygienisch. Womöglich fange ich mir irgendwelche Keime ein.

Vielleicht kann ich den Geheimdienst verständigen, der mich dann in ein Schutzprogramm aufnimmt und mir eine neue Identität verpasst, irgendwo, wo mich keiner kennt. Dafür müsste ich umziehen. Das kommt nicht in Frage, bei dem ganzen Krempel, den ich besitze. Womöglich dürfte ich ihn gar nicht mit-nehmen. Das kommt erst recht nicht in Frage. Ich hänge an meinem Krempel. Außerdem habe ich keine Telefonnummer des Geheimdienstes, immerhin ist er geheim.

Die Telefonnummer der Zeitung hingegen, die habe ich. Also rufe ich dort an, drohe mit einer Klage und handle schließlich einen Deal ganz nach meinem Geschmack aus. Als ich auflege, bin ich die neue Königin der Lokalnachrichten. Gleich morgen werde ich meinen ersten Enthüllungsartikel schreiben. Über Frau Wieland. Wenn ich die Blätter ihres Pachirabaums ein wenig ausfranse und ihn bei schlechtem Licht fotografiere, kann man ihn mit etwas gutem Willen durchaus mit Marihuana verwechseln. Und ich habe den besten Willen, den je eine freie Mitarbeiterin einer Lokalzeitung gehabt hat. Die Wahrheit zu finden, war mir schon immer ein Anliegen. Und wenn ich sie nicht finde? Dann erfinde ich sie eben. Sind ja nur zwei Buchstaben mehr, das geht als Tippfehler durch. Und den kann man richtigstellen. Irgendwo, einspaltig, unter den Kurznach-richten.

Claudia Lampert

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