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Edgar Wilkening: "Festtags-Cicero"

Reden schwingen will gelernt sein. Manche werden gerufen, andere fühlen sich dazu berufen. Wer ungefragt Partygäste zutexten will, begibt sich auf dünnes Eis, wie die Geschichte von Edgar Wilkening zeigt.

Der Champagner perlte in meinem Glas und genauso perlte meine Laune. Nicht nur weil ich gerade Eva entdeckte, die offensichtlich auch zu Rüdigers Feier eingeladen war und sich soeben im Saal einfand. Ein Glas in der Hand prostete sie mir aus der Ferne zu. Eine Geste, die meine Laune umso mehr prickeln ließ, da die graziöse Eva sich mir gegenüber noch nie so offenherzig gezeigt hatte wie in diesem Moment. Sollte der heutige Abend womöglich in unsere gemeinsame Geschichte eingehen? Ich stellte mich eine Spur aufrechter hin und prostete lächelnd zurück.

Aber wie gesagt: Das war nicht der einzige Grund für meine Champagnerlaune. Denn außer Eva hatte ich auch schon eine kleine Bühne entdeckt, ausgestattet mit Mikrophonen und Instrumenten, vorbereitet offenbar für eine Band.

Ich würde also auf die Unterstützung einer Beschallungsanlage zurückgreifen können. Denn wenn ein treuer Freund wie Rüdiger seinen Geburtstag in so feierlichem Rahmen begeht, gehört es sich, dass einer seiner Wegbegleiter die Höhepunkte aus Rüdigers Lebens in fröhlicher Form Revue passieren lässt. Und auch wenn ich niemand bin, der sich immer und überall gern ins Rampenlicht drängt, so musste ich doch zu meiner Verantwortung stehen und einfach mal über meinen eigenen Schatten springen. Jawohl: Ich hatte mich breit schlagen lassen eine kleine Rede zu halten.

Ich hatte mich selbst breit geschlagen

Na gut, jetzt war ich nicht direkt gefragt worden. Ich war nicht mal indirekt gefragt worden. Ich hatte mich selbst breit geschlagen. Aber was spielte das für eine Rolle? Hier war ich, vorbereitet mit einem kurzweiligen zwölfseitigen Manuskript in der Jackentasche, in bester Champagnerlaune und fest entschlossen, die Gäste in ebensolche zu versetzen. Zum Beispiel mit der schreiend komischen Anekdote von Rüdigers Schummelversuch damals bei der Mathearbeit, der so saudumm aufgeflogen war. Oder die Episode, als wir Jungs beim Camping Janina und Magdalena kennen lernten, zwei polnische Schwestern, die mit ihren knappen Bikinis damals viel zur Völkerverständigung beigetragen haben.

Ich wusste, die Gäste würden an meinen Lippen hängen wie einst die Bürger Roms an denen Ciceros. Würden nach immer weiteren meiner raffiniert gesetzten Pointen lechzen. Und ja, vermutlich würde auch Eva spätestens beim frenetischen Jubel der Menge am Ende meiner Rede wissen, dass der heutige Abend in unsere gemeinsame Geschichte eingehen sollte.

Ahnte sie schon, wohin der Abend sie noch führen würde? Jedenfalls steuerte sie jetzt mit strahlenden Augen auf mich zu. Ich wollte sie gerade begrüßen, als ein martialischer Pfeifton die im Saal Versammelten zusammenzucken ließ, gefolgt von einem markerschütternden "Eins, zwei, drei - äh, kann man mich hören?"

Wollte der Typ mir die Tour vermasseln?

Urheber war ein Mann, der in gestreiftem Anzug auf der Bühne stand und geräuschvoll mit einem der Mikros hantierte, bis ihm einer der Musiker zur Seite sprang. "Ist das nicht unglaublich?", fragte Eva mit Blick auf den Gestreiften. "Allerdings!" Ich konnte nicht anders als ihr beipflichten. Was machte der Depp da? "Verehrte Anwesende, liebes Geburtstagskind, ich will Sie gar nicht lange aufhalten", klärte mich der Gestreifte mit genau jenen Worten auf, die alle Redner nutzen, wenn sie ihre Zuhörerschaft auf eine mehrstündige, nervenzehrende Malträtierung vorbereiten. Was sollte das? Wollte der Typ mir die Tour vermasseln? "Er hätte wenigstens fragen können, ob jemand anderes auch etwas sagen möchte", führte ich Evas Gedanken fort.

"Das meine ich nicht", entgegnete die Graziöse. "Ich finde es unglaublich, dass manche Leute sich wirklich bei jeder Gelegenheit ins Rampenlicht drängen müssen. Gibt doch auf jeder Feier mindestens einen, der sich berufen fühlt eine große Rede zu schwingen."

"Ach so?", stutzte ich. "Das ist allerdings - ja, wirklich unglaublich." Hatte Eva etwa das Manuskript in meiner Jackentasche bemerkt? Verlegen lenkte ich den Blick zum Gestreiften auf die Bühne.

Der mühte sich gerade, Höhepunkte aus Rüdigers Leben Revue passieren zu lassen, indem er sich von einer missglückten Pointe zur nächsten hangelte. Die Anwesenden stöhnten. Und jetzt verpatzte er noch die Anekdote von Rüdigers Schummelversuch bei der Mathearbeit. Auch Eva verdrehte die Augen.

Herrje, warum ließ der Depp nicht mich diese schreiend komische Geschichte erzählen? Evas Augen hätten geglüht vor Vergnügen und das Publikum am Boden gelegen vor Lachen. Bis zuletzt hatte ich an den Pointen gefeilt. Immer wieder. Sogar vorhin noch, in den Waschräumen des Festsaals, hinter der verschlossenen Toilettentür, das Manuskript auf den Knien. Eine brillante Rede, dazu gehörte einfach mehr als die billige Attitüde eines Festtags-Cicero. Das war vor allem wochenlange, harte Vorbereitungsarbeit. Und woher wusste der Langweiler auf der Bühne überhaupt von der Mathe-Story? Niemand wusste davon, außer Rüdiger und mir!

Wahrscheinlich würde der Abend nicht in unsere gemeinsame Geschichte eingehen

Eva zog ein gequältes Gesicht. Ob sie spürte, dass ich es besser gemacht hätte als der Gestreifte? "Ich kann diese ganze Matheschummel-Arie nicht mehr hören", winkte sie genervt ab. "Ich glaube, ich hab die jetzt zum tausendsten Mal gehört."

Ich hatte diese langweilige, völlig überbewertete Geschichte sowieso aus dem Manuskript streichen wollen. "Immer diese ollen Kamellen, schlimm", gab ich ihr Recht. Derweil vergeigte der Streifenmann die umwerfend komische Episode von der Völkerverständigung mit Bikinis. Das Publikum gähnte. Ja, merkte der nicht, wie er den Leuten auf den Wecker ging? Kriegte er überhaupt irgendwas mit? Wahrscheinlich nicht mal, dass der heutige Abend keineswegs in die gemeinsame Geschichte von Eva und mir eingehen würde, wenn es so weiterginge.

"Das Schlimmste ist ja", riss mich Eva aus meinen düsteren Gedanken, "die meisten dieser Festredner sind ja nicht mal gefragt worden. Die machen das aus übersteigertem Geltungsbedürfnis."

Ich nicht. Gott sei Dank. Ich war wenigstens von mir selbst gefragt worden. "Genau", konnte ich Eva aufrichtig zustimmen. "Völlige Egomanen." "Totale Selbstüberschätzung", bestätigte sie. "Ja, halten sich für brillante Redner", spottete ich. Sie nickte: "Glauben, ihr Publikum hängt ihnen an den Lippen." "Ja", setzt ich nach, "wie einst die Bürger Roms an denen Ciceros.". "Genau", höhnte Eva hämisch: "Selbst ernannte Festtags-Ciceros!" "Haargenau..." Hatte ich mich an einer Champagnerperle verschluckt oder wo kam dieser plötzliche Hustenreiz bei mir her?

Während ich mich zu fangen versuchte, erkannte ich aus dem Augenwinkel Heiner am Saaleingang, einen Kollegen von Rüdiger. Heiner hatte einen Stapel Papiere in der Hand, der anderthalb Stunden geballte Langeweile verhieß. War Heiner etwa auch so ein selbst ernannter Festtags-Cicero? Zu meinem Erstaunen steuerte er auf uns zu. Wollte er sich ein paar fachkundige Tipps für seine Rede holen? Ein paar vibrierende Pointen, um seine lahmen Anekdötchen aufzumöbeln?

Ich erkannte meine Chance. Sorry, Heiner, was jetzt kommt, muss leider sein - nimm es nicht persönlich. Aber ich muss den Abend retten. Für Eva und mich. Sobald ich den Ahnungslosen benutzt hatte, würde ich die Graziöse fragen, ob sie noch ein Glas Champagner mit mir trinkt und den Abend bei Tisch an meiner Seite verbringen will. "Na, mein Lieber, sieht man sich mal wieder", strahlte ich Heiner an. "Kennst du Eva eigentlich?" "Hallo." "Freut mich."

Armer Kerl. Heiner ahnte ja nicht, dass er geradewegs ins offene Messer lief. "Willst du uns heute Abend mit einer geschliffenen Rede unterhalten?", ermunterte ich ihn. Dabei deutete ich harmlos auf den Stapel Papiere in seiner Hand und signalisierte Eva mit einem Blinzeln: Pass auf, was gleich passiert! "Nicht doch", schüttelte Heiner den Kopf. "Nicht?" Ich war verblüfft.

Man muss wissen, wo man seine Stärken hat

"Ich finde, man muss wissen, wo man seine Stärken hat. Und große Reden schwingen, um ehrlich zu sein, das gehörte bei mir noch nie dazu." Heiner sprach es fast mehr zu Eva als zu mir. Und was war das: Hatte sie da gerade ein strahlendes Funkeln in den Augen? Ich musste eingreifen.

"Aber willst du dir nicht ein paar fachkundige Tipps bei mir holen?", riss ich das Ruder wieder an mich. "Oder ein paar vibrierende Pointen, um die Rede da aufzumöbeln." "Vibrierende Pointen?" Heiner blickte auf den Stapel Papier in seiner Hand und schien nachzudenken. "Das wäre allerdings gar nicht schlecht." Aha, Kurve gekriegt! "Wenn du welche hast, tu sie rein. Kann der Rede nur gut tun", konstatierte Heiner kühl.

Ich warf Eva einen bestätigenden Blick zu: Siehst du, mit solchen Sachen kommen sie zu mir, die selbst ernannten Ciceros. "Wollte dir das sowieso geben." Dabei hielt Heiner den Stapel Papiere in meine Richtung. "Hab ich im Waschraum gefunden. Steht dein Name drauf." "Mein Name?" "Auf jeder Seite." "Wer macht denn solche Scherze!" Ich tat schockiert. Ein hilfloser Rettungsversuch. Eva schaute mich, als ich den Stapel Papiere an mich nahm, mit Augen an, in denen nichts mehr funkelte außer Verachtung.

Und Heiner setzte gnadenlos nach: "Übrigens, wenn du mich fragst: Ich würde es auf drei Minuten eindampfen. Oder noch besser: ganz lassen." Während der Gestreifte die Bühne unter höflichem Applaus wie ein gestandener Redner verlassen durfte, antwortete Eva auf Heiners Frage, ob sie ein Glas Champagner mit ihm trinken und danach den Abend bei Tisch an seiner Seite verbringen wolle, mit dem strahlendsten Funkeln ihrer Augen, das ich je gesehen habe.

Na schön, ihr Cicero-Verräter! Hatte ich eben Zeit meine Rede einzudampfen. Und mit vibrierenden Pointen zu füllen. Hinter verschlossener Tür, den Stift in der Hand, das Manuskript auf den Knien. Im Fond eines Taxis, das mich nach Hause fuhr.

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