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Fanny Hagner: Eine Schlagzeile

Wirtschaftskrise dehnt sich in Europa aus! "Oh, Gott, oh, Gott!

Wirtschaftskrise dehnt sich in Europa aus!

"Oh, Gott, oh, Gott!", murmelte Herr Schmidt, Angestellter in der Druckerei eines großen Zeitungsverlags, und tupfte sich nervös ein wenig Schweiß von seiner Halbglatze. Ständig diese beunruhigenden Meldungen, er brauchte diesen Job, die Miete für die Wohnung konnte er zwar immer bezahlen, doch das Geld war stets relativ knapp. Außerdem hatten sie zwei kleine Kinder zu versorgen. Die Putzstelle seiner Frau brachte auch nicht viel dazu. Schmidt seufzte. Eine Entlassung würde ihn und seine Frau eine KATASTROPHE bedeuten. Um sich zu beruhigen, steckte er sich einen Atem-Kaugummi in den Mund und hiefte mit feuchten Händen den Stapel druckfrischer Zeitungen auf den Rollwagen und schob ihn, immer noch finster grübelnd, in Richtung Laderampe.

Wirtschaftskrise dehnt sich in Europa aus!,
las Tim Juliens, Zeitungsjunge in einem vornehmen Wohnviertel, und warf ein Exemplar über den Zaun. Jetzt musste er erst einmal ein ganzes Stück laufen. Er las die Schlagzeile erneut und zuckte dann vergnügt mit den Schultern. Was auch passieren würde, die Menschen lechzten geradezu nach Neuigkeiten und so würden Zeitungen immer gebraucht werden und er immer einen Job haben. "Jetzt links!", dachte Tim und schob den Zeitungswagen quietschend in die nächste Seitenstraße. "Wenn es mehr arme Leute gäbe, würden nicht nur Zeitungen, sondern auch Hochglanzmagazine im Kurs steigen, weil die Menschen sich in ihrem Elend nach etwas Glanz sehnen würden. Andererseits hätten sie vielleicht auch kein Geld mehr, um Zeitungen oder Magazine zu kaufen." Tim schaute auf, das nächste Haus war es.

Wirtschaftskrise dehnt sich in Europa aus!
Frau Oleander - in Wahrheit hieß sie Meier, hatte sich aber für einen Künstlernamen entschieden - schüttelte den Kopf. Als ob sie das noch nicht wüsste, wo einen doch immer mehr Obdachlose belästigten, wenn man shoppen ging. Gestern war ihr auf dem Weg zu ihrer Lieblingsboutique einer dieser dreisten Typen in den Weg getreten und hatte doch tatsächlich gesagt: "Hallo, hallo, sie sin' doch ‚ne reiche Frau. Jeben sie doch ‚nem armen Mann wat ab." Empört war sie umgekehrt und hatte ihre Schuhe in einem anderen Geschäft gekauft - und jetzt zwickten die. Schuld war der Obdachlose. Und auf den Zeitungsjungen war auch kein Verlass mehr, zehn Minuten später als sonst hatte er die Zeitung gebracht, und wenn das noch einmal vorkäme, würde Sie sich beschweren und dann würde er auch bald betteln müssen. Um sich ein wenig zu trösten, beschloss sie in die Stadt zu gehen und sich eine neue Ledertasche zu kaufen. In der Stadt ließ sie auch die Zeitung in einen Abfalleimer nahe, des Hauptbahnhofes fallen.

Wirtschaftskrise dehnt sich in Europa aus!
"Geschieht diesen geizigen Schweinen ganz recht!" dachte Bert Schuben, während er die Zeitung aus dem Abfalleimer fischte. "Gestern hatte er so eine aufgemotzte Tussi ganz höflich um ein wenig Zuschuss gebeten und dieses Teufelsweib hatte sich pikiert umgedreht und war mit ihrem Po wackelnd davon gestöckelt! Eine Wirtschaftskrise wäre vielleicht gar nicht so schlecht! Da würden die Leute endlich einmal merken wie dreckig es einem ohne ein zu Hause und einen eigenen Herd ging! Vielleicht würde er dann sogar mehr Rechte bekommen. Er stand eine Weile regungslos da und starrte in die Leere. Dann kehrte er in den Hauptbahnhof zurück. Seine drei Freunde schliefen schon auf den Bänken. Einer murmelte leise etwas. Eine Weile betrachtete Bert sie. "Ihnen müsste man auch mehr Rechte zuteilen!" , dachte er noch, dann ließ er sich auf die Bank gleich unter der Bahnhofsuhr fallen und deckte sich mit der Zeitung zu. Leise schnarchend schlief er ein.

EINIGE WOCHEN SPÄTER ….

Und.. das war die letzte Ladung! "Geschafft!", murmelte Herr Schmidt zufrieden und steckte sich ein Atem- Kaugummi in den Mund. Wenn die Wirtschaftskrise kommen würde wäre er vorbereitet. Er machte jetzt regelmäßig Überstunden. Falls es nötig wäre würde er um seinen Job kämpfen. So, hier war er fertig! Leise pfeifend schlenderte er in Richtung Ausgang. Er öffnete die Tür und holte tief Luft. Weder nach rechts noch nach links guckend ging er über die Straße. Den Radfahrer sah er nicht!

Tim Juliens betrachtete die Häuser ringsherum, während er kräftig in die Pedale trat. Was für ein herrliches Wetter es doch war. Den Spaziergänger sah er zu spät. Er wollte bremsen, doch da gab es auch schon einen Ruck. Tim stürzte und schrie laut. In Zeitlupe sah er den Boden näher kommen. Dann spürte er einen stechenden Schmerz im rechten Knie. Aber es war ihm nichts passiert. Mit zusammen gebissenen Zähnen rappelte er sich tapfer auf und lief zu dem dicklichen Herrn hinüber der sich stöhnend den Kopf hielt.

"Oh, Gott, oh Gott!", murmelte Frau Oleander, ließ ihre prall gefüllten Einkaufstüten fast fallen. Was konnte sie tun? Oh Gott! sie musste einen klaren Gedanken fassen. Aber sie war wie gelähmt und konnte nur auf das Schauspiel auf der Straße starren. Doch dann fiel es ihr ein: Hilfe rufen. Sie begann hektisch in ihren Tüten zu wühlen und fischte schließlich ihr Handy heraus. Mit zitternden Fingern wählte sie 110 und verständigte einen Krankenwagen, ließ ihre Tüten liegen und lief auf die Straße. Besorgt beugte sie sich über den ältere Herren, der ein wenig hilflos dasaß und sich den Kopf rieb.

Bert Schuben, der Obdachlose, sah das Spektakel vom Fenster des Hauptbahnhofs aus. Er lief los und kam bald an. Fast wäre er gegen eine Frau in pinkfarbenen Kostümchen geprallt. Sie drehte sich um. Das war doch diese Ziege von gestern, sie schien ihn auch erkannt zu haben. Jedenfalls zog sie die Stirn kraus und stemmte ihre Hände in die Hüften. Doch das war ihm egal. Er beugte sich über den Mann, machte eine Pulskontrolle und stützt ihn dann so, dass er gerade sitzen konnte. Alle schwiegen. Der junge Mann, der vom Fahrrad gestürzt war, schaute Bert dankbar an und blickte in die Ferne. "Hat schon jemand einen Krankenwagen verständigt?", fragte er schließlich. "Ja, ich!", antwortete die Dame und klopfte sich ein wenig Staub vom Rock. In diesem Moment fuhr der Krankenwagen vor.

Ein wenig ratlos standen Bert, Frau Oleander und Tim Julien auf dem Bürgersteig und schauten dem Krankenwagen nach. "Sie haben sehr tapfer und schnell reagiert!", sagte Frau Oleander schließlich und deutete auf Tim. "Und... sie..." Sie schluckte und schaute Bert an... "Sie auch!" Bert starrte sie kurz an, dann streckte er ihr die Hand entgegen. "Bert Schuben!", sagte er ein wenig verlegen. "Veronica Oleander!" Sie schüttelte seine Hand. Auch Tim Julien stellte sich vor und dann begannen die drei sich zu unterhalten. Fröhlich und ausführlich.

WIEDER EINIGE WOCHEN SPÄTER:

"Da wären wir!", sagte Herr Schmidt, der immer noch einen Verband um den Kopf trug, und klingelte. Das Tor summte und sprang auf und Herr Schmidt, Frau Schmidt mit dem Baby auf dem Arm und die dreijährige Sophia Schmidt gingen über den langen Gartenweg in den gepflegten Hintergarten. Bert Schuben und seine drei Freunde aus dem Hauptbahnhof, mittlerweile fein gekleidet, zeigten der Familie sofort stolz ihre neue Unterkunft: das früher leere Appartement in Frau Oleanders Keller. Dann bestaunten sie gleich die Kinder und spielten mit Sophia eine Runde Fangen in dem von ihnen geharkten und gepflegten Garten. Sie erledigten auch sonst viele Hausarbeiten. Inzwischen waren auch Tim Julien und seine Freundin Anna eingetroffen. Alle setzten sich zu Tisch und aßen Kuchen, während Sophia lachend herumtollte.

Sollte die Wirtschaftskrise kommen, Freunde würden sie haben.
Die Sonne schien auf das friedliche Bild. Auf einem leere Gartenstuhl lagen Frau Oleanders weiße Jacke , Herrn Schmidts Sakko und seine Zeitung. Man konnte die Schlagzeile deutlich lesen: "WIRTSCHAFTSKRISE DEHNT SICH IN EUROPA AUS!"

Fanny Hagner (11 Jahre)

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