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Guillermo Fadanelli: Spaziergang um mein Grab herum

Einmal im Jahr feiern die Mexikaner ihre Verstorbenen – eigentlich ein fröhliches Fest. Aber nicht immer. Unser Autor erzählt vom Tag der Toten in der Hölle Mexiko-Stadt

Heute ist der Tag der Toten. Das weiß ich, weil meine Nachbarinnen Blumen auf den bescheidenen Hausaltar gestellt haben, der am Ende des gemeinsamen Flurs unserer Wohnungen steht. Neben die Blumen haben sie Fotos von ihren Toten und sogar Teller mit Essen gestellt. Ich wundere mich darüber. Die Nachbarinnen kommen mir selbst vor wie Gespenster, sie halten still bis zu dem Tag, an dem sie durchdrehen und in verrücktes Gelächter ausbrechen werden. Sie feiern ihre Toten, weil die endlich ausruhen, weil sie diese Welt verlassen haben, die ungerecht ist und elend, weil Gott es so gewollt hat. Sie dagegen leiden weiter, als ob sie niemals aufhören könnten zu sterben. Es sind Frauen unterschiedlichen Alters, aber sie scheinen alle gleich alt zu sein: Sie sind wie Stalaktiten, die an den Wänden einer jahrtausendealten Höhle ausharren. Ich ertrage dieses stille Leiden nicht.

Ich gehe aus dem Haus. Ich wohne genau im Zentrum der Stadt, direkt neben dem alten Kloster San Jerónimo. Auf einem Abfluss liegt eine aufgedunsene tote Katze und verhindert, dass Wasser durchs Gitter fließen kann. Keiner achtet auf sie, denn in dieser Stadt darf sich niemand ablenken lassen: Wir müssen wachsam sein, müssen das Gesicht jedes Entgegenkommenden erforschen und die Waffe entdecken, die er in der Jacke trägt, wir müssen ihn erkennen, bevor er uns gegen eine Wand drückt oder uns sein Messer in den Bauch stößt. Wir müssen die Ohren weit aufmachen, um die Schritte unseres Verfolgers zu hören, müssen sein Gewicht und sein Alter abschätzen, seinen Absichten zuvorkommen. Jeder Beliebige kann in seiner Tasche unser Schicksal tragen.

Die Frauen flanieren nicht mehr und zeigen ihre Körper, wie sie es noch vor knapp 40 Jahren tun konnten, heute laufen sie schnell, tragen ihre Taschen eng an den Körper gepresst und darin nur zwei Schlüssel, ein paar Münzen, die U-Bahn-Fahrkarten, einen Plastikkamm und die Fotografie eines Kindes mit dem Blick eines Kaninchens. Sie tragen keine hohen Absätze oder engen Kleider, die sie bei einer Flucht behindern würden, keine erregenden Parfums, keine leuchtenden Farben, keine rot geschminkten Lippen: besser ein Schatten sein, ein Widerschein an der Wand, ein undeutliches Bild, das sich nicht im Bewusstsein ihres Henkers einprägen kann. Alle sind wir bereit, uns mit erhobenen Händen in einer Reihe aufzustellen, um Tribut zu zahlen. Es hat eben seinen Preis, in dieser Stadt zu leben, oder nicht?

Bevor ich auf die Straße gegangen bin, habe ich eine meiner Nachbarinnen von dem riesigen Altar reden hören, den die Behörden auf der Plaza Mayor aufgestellt haben, um den Tag der Toten zu feiern. Als ob das Zentrum ein einziger Friedhof wäre und jedes Gesicht ein Totenkopf aus Zucker. In Wahrheit sind die Menschen in dieser Stadt tot, denke ich, und ihre Regierenden sind die Stellvertreter der Santa Muerte, dieser Heiligen mit dem Totenschädel, die in den ärmsten Vierteln der Stadt heimlich verehrt wird. Ich werfe mir vor, dass ich seit fast fünfzig Jahren unfreiwillig an diesem Fest teilnehme: Ich bin ein Fatalist und ein Spielverderber. Ich biege in die Izazaga-Straße ein, und sofort hält mich ein Mann mit stinkendem Atem auf, mürrisch fragt er nach Geld, sucht meine Augen und in ihnen die Angst. Ich sage ihm, dass ich ihm nichts geben werde, „ich gebe dir einen Scheißdreck“, sage ich herausfordernd und stelle mich stur. Er merkt, dass ich keine leichte Beute bin: Er müsste sich anstrengen, schwitzen, kämpfen, und dazu ist er nicht bereit. „Kein Problem“, sagt er und geht seines Weges. Auf dem Platz San Juan de Letrán liegt ein Mann auf dem Boden. Ein Hund schnüffelt an seinem Kragen. Niemand traut sich anzuhalten, zu fragen, zu prüfen, ob seine Lungen noch funktionieren, wir gehen weiter, als wäre es nicht unsere Sache, ist sie es denn? Irgendjemand, der besser ist als wir, einer mit höherer Moral, wird schon anhalten und sich kümmern.

Die Schlagzeilen der Zeitungen am Kiosk verkünden die Identität dreier Leichen, „das sind sie also“, murmeln die Leute, denn nur sehr wenige Opfer bringen es zu solchem Ruhm. Sterben ist keine Nachricht mehr, auch nicht überfallen, gequält, gedemütigt werden. Es gibt nicht genug Fernsehkameras, um all das Elend zu filmen, viel zu wenig Mikrofone, um das Wehklagen derer aufzunehmen, die nichts haben. Ich kaufe die Zeitung und gehe zurück nach Hause; auf den mittleren Seiten sind die Gesichter dreier Mörder abgebildet, aber verdammt!, sie sehen aus wie alle anderen, wie der Busfahrer, der an jeder Straßenecke einen Fluch loslässt, der Taxifahrer, der sein Auto in ein Rattennest verwandelt hat, der Polizist, der seinen Mund spitzt, um Frauen hinterherzupfeifen. Ich habe keine Lust, in meine Wohnung in der Straße San Jerónimo zurückzukehren. Ich lebe allein, seit dem Tod meiner Frau vor fünf Jahren. Ich habe keine Kinder, wozu? Die Nachbarinnen wissen, dass ich Schriftsteller bin, aber sie verstehen nicht, was das heißt; sie glauben, ich schreibe Gedichte oder arbeite für Zeitungen. „Schreiben Sie uns Verse für unsere Toten“, bitten sie mich in diesen Tagen oft. Aber wie soll ich Verse über jemanden schreiben, den ich nicht kenne?, frage ich zurück. Sie lassen sich davon nicht abschrecken und zeigen mir Fotos ihres Toten, „damit Sie ihn ein bisschen kennenlernen“.

Ich gehe weiter und bemühe mich nicht anzuhalten, auf mechanische Weise durch diese Straßen zu gehen, deren Anordnung ich so genau im Gedächtnis habe wie die meiner eigenen Rippen. Die Symbole des Totenfestes sind überall zu sehen: violette und gelbe Papierketten, leuchtend orangefarbene Blumen, Weihrauchgeruch: Trauer in Bunt. Ich stelle mir die Gräber vor wie Ameisenhaufen, die Leichen tun mir leid: Sie werden noch einmal die Aufregungen durchleben, die sie glaubten hinter sich gelassen zu haben.

Es ist zehn Uhr nachts, und eine Dunstschicht verdeckt die Sterne, der Himmel ist wie ein umgedrehter Gehweg, wenn auch ohne Fußgänger, ohne streunende Hunde. In der Madero-Straße sehe ich eine Gruppe von Musikern im Mariachi-Kostüm, die Autos hinterherlaufen, um den Insassen immer dasselbe Lied anzubieten: „Was ist los mit dir, Javier, so weine nicht!“ Während ich auf die Plaza Garibaldi zugehe, stauen sich die Autos in der Avenida Lázaro Cárdenas, drei oder vier Taxifahrer warten, bis ihre Kunden besoffen genug sind, um sie bis aufs Mark auszusaugen. Aus der Menschenmenge, die sich um den Platz drängelt, dringt ein Festgeblöke, es ist der Tag der Toten, wie jeden Tag: Drei Polizisten tanzen mit der Pistole im Gürtel zur Musik einer Band; eine Familie, vom Kalziummangel geschwächt, versammelt sich um eine Alte und singt ihr ein Geburtstagslied; in den Kneipen trinken dutzende Totenschädel Rum mit Coca-Cola, sie warten darauf, noch einmal zu sterben, jede Minute, die sie der Nacht rauben, ist für sie ein weiterer Schritt hin zur Erlösung. Und wenn sie dann zum letzten Mal sterben, werden ihre Lieben auf ihre Grabsteine schreiben: „Er hat dieses Tal der Tränen verlassen; endlich ist er eingeschlafen.“

Nach meinem gewohnten Spaziergang wende ich meine Schritte nach Hause. Auch ich bin ein Toter, der jede Nacht einen Spaziergang in der Umgebung macht. Plötzlich versperrt mir eine Frau den Weg, sie ist weit über dreißig und ihre Hände riechen nach billiger Creme, sie will mich ins Hotel ziehen, „tu es für meine Kinder, der Kleinste hat Leukämie“, ein Geruch nach Tequila, Eingeweide und verdorbenem Fleisch dringt mir in die Nase. Aus einer Kneipe steigt ein Lied in den Himmel: „Meine Seele verzehrt sich danach, zu deiner Seele zu gehen“. Ich bin müde, ich gehe nach Hause, im Flur bedecken violette Blütenblätter den Boden wie ein Teppich, die Nachbarinnen schlafen, es ist der Tag der Toten.

Aus dem Spanischen von Dorothee Nolte.

Guillermo Fadanelli

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