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Kerstin Leipnitz: Nichts zu gewinnen

Der schönste Tag in der Woche ist Samstag. Samstag klingelt der Wecker nicht, obwohl es draußen schon hell ist.

Der schönste Tag in der Woche ist Samstag. Samstag klingelt der Wecker nicht, obwohl es draußen schon hell ist. Samstag ist nicht nur heute, sondern auch morgen frei. Samstag lese ich Zeitung. Ich bekomme jeden Tag eine Zeitung, lese sie aber nur am Samstag. Ich bin Abonnent. Ein Abonnent hat jeden Tag etwas im Briefkasten, auch wenn keiner schreibt, und ich mag leere Briefkästen nicht. Ein leerer Briefkasten ist so ähnlich wie ein Telefon, das nie klingelt. Und ein Telefon, das nie klingelt, das braucht kein Mensch. Und was auch kein Mensch braucht, das ist ein leerer Briefkasten.

Heute ist Samstag. Es ist nach zwölf, mein Telefon hat noch nicht geklingelt. Ich höre Radio, da rufen Leute an, aber bei mir gibt es ja nichts zu gewinnen. Also gehe ich zum Briefkasten. Auf dem Weg dorthin treffe ich einen Nachbarn. Er lächelt, aber ich denke, bei ihm gibt es auch nichts zu gewinnen. Er hat eine Zeitung in der Hand.

Mein Briefkasten ist leer. Es ist Samstag. Samstag ist plötzlich der schrecklichste Tag der Woche. Mein Telefon klingelt nicht, weil es bei mir nichts zu gewinnen gibt. Ich habe einen leeren Briefkasten, den kein Mensch braucht. Und meine Meinung steht in der Zeitung, die jetzt beim Nachbarn ist.

Ich bin wütend. Auf meinen Nachbarn, weil er meine Zeitung hat und auf meine Zeitung, weil sie beim Nachbarn ist. Ich klingele beim Nachbarn. Er öffnet. "Sie haben meine Zeitung." sage ich. Er lacht, aber ich lasse mich nicht beirren. "Wenn sie meine Zeitung wieder in meinen Briefkasten stecken, dann kann heute noch ein schöner Tag werden. Ich mag keine leeren Briefkästen, wissen sie." Er weiß das nicht, äußert aber Verständnis. "Trotzdem" meint er, "ich habe Ihre Zeitung nicht." Dabei habe ich ihn gesehen mit meiner Zeitung und er mich auch, ohne meine Zeitung. Ich sage ihm das, aber er äußert kein Verständnis mehr, sondern schlägt die Tür zu. Jetzt bin ich mir sicher. Die zwei stecken unter einer Decke. Wahrscheinlich gehört mein Briefkasten auch dazu. Und mein Telefon. Ich muss das überdenken und begebe mich zurück in meine Wohnung. Dort beschimpfe ich mein Telefon, bis es endlich klingelt. Ich bin erschüttert über dieses plötzliche Friedensangebot, nehme aber trotzdem ab.

Es ist mein Briefkasten. Auch für ihn ist heute ein schlechter Tag. Er ist leer und einen leeren Briefkasten, den braucht kein Mensch. Ich bedaure, kann ihm aber nicht helfen. Meine Meinung ist in der Zeitung und die ist beim Nachbarn. Dann würde er eben dort anrufen, beim Nachbarn, sagt er und legt auf. Ich sage meinem Telefon, dass es jetzt nicht mehr zu klingeln braucht. Mein Briefkasten ist leer und telefoniert mit meinem Nachbarn. Mein Nachbar hat meine Zeitung, in der meine Meinung steht. Und ich bin ein Mensch ohne Meinung, den niemand braucht, nicht einmal ein leerer Briefkasten.

Ich rufe beim Radio an. Zum Trost möchte ich etwas gewinnen. Aber das Radio spielt nur noch Musik, die Verlosung ist vorbei. Ich könne aber jemanden grüßen, bietet das Radio mir an. Also grüße ich. Meinen Briefkasten, der mit meinem Nachbarn telefoniert. Meinen Nachbarn, der meine Zeitung liest. Und meine Zeitung, der ich jetzt endlich auch mal meine Meinung sage.

Kerstin Leipnitz

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