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Marlies Kalbhenn: Schwarze Strümpfe

Erwachsenenbeitrag

Mein mitteldeutscher Großvater war plötzlich und unerwartet gestorben. Als das Telegramm kam, packten wir sofort unsere Koffer, um zur Beerdigung in die DDR zu fahren. Das Telegramm ersetzte in diesem besonderen Fall die Aufenthaltsgenehmigung, deren Erteilung durch die DDR-Behörden in der Regel einige Wochen dauerte. Als wir am Nachmittag vor der Beerdigung im Haus meiner Großeltern eintrafen, fanden wir die Frauen – meine Großmutter, meine Tanten und Kusinen – nicht in der erwarteten „stillen Trauer“ und erfuhren auch sofort den Grund: schwarze Strümpfe, beziehungsweise nicht vorhandene schwarze Strümpfe. Tante Betty, die über die meisten Beziehungen verfügte, hatte bereits in allen Läden der Stadt vergeblich nach schwarzen Strümpfen gefragt und war gerade aus der Nachbarschaft mit der immer gleich lautenden Nachricht zurückgekehrt, dass schwarze Strümpfe „aus“ seien. „Habt Ihr vielleicht ...?“, fragte sie uns. „Ich wusste doch, dass wir etwas vergessen haben“, schluchzte meine Mutter. Wir hatten es wirklich vergessen. Kaffee und Kakao hatten wir mitgebracht, Lakritz und Schokolade, eine ganze Stange Camel, aber keine schwarzen Strümpfe. Nicht einmal für uns selbst. Die Bemerkung meines Vaters, dass man meinen Großvater, der so wenig auf das Äußere eines Menschen gegeben hatte, auch ohne schwarze Strümpfe angemessen bestatten könne, wurde überhört. Eine erneute Suche in allen Schrank- und Kommodenschubladen, an der meine Mutter und ich uns beteiligten, förderte alles Mögliche zutage, nur keine schwarzen Strümpfe. „Wisst Ihr was“, sagte Tante Rosa plötzlich, „wenn es keine schwarzen Strümpfe zu kaufen gibt, dann färben wir eben welche. Das heißt, wenn es irgendwo schwarze Farbe gibt.“ „Bin schon unterwegs!“, rief Tante Betty. Nach einer halben Stunde war sie wieder da: mit schwarzer Farbe. In Großmutters Küche, auf Großmutters Herd, in Großmutters größtem Kochtopf wurden neun Paar Strümpfe gefärbt und anschließend auf der Leine über dem Herd zum Trocknen aufgehängt. Der Beerdigung stand nichts mehr im Weg. Nun wurde das Beerdigungsessen noch einmal besprochen, Teller, Bestecke und Gläser zusammengetragen, gezählt und poliert, Angestoßenes aussortiert; denn Onkel Ludwig aus Ludwigslust würde morgen kommen. Anders als sein verstorbener Bruder legte er Wert auf „Tischkultur“: auf weißen Damast, edles Porzellan und, vor allem, passende Gläser. Schon manches Mal hatte er, wenn er bei meinen Großeltern zu Besuch war, ein unpassendes, noch dazu angestoßenes Glas erhalten. Und einmal hatte er, ausgerechnet er, ein Haar meiner Großmutter in der Suppe gefunden. „Ob wohl alles in Ordnung ist?“, fragte sie zaghaft und zupfte weinend am Tischtuch, dem einzigen weißen, das sie besaß. „Es ist alles in Ordnung“, sagte Tante Rosa. „Und wenn es dem Herrn Doktor nicht passt, muss er ja nicht zum Essen bleiben.“ „Es ist wirklich alles in Ordnung, Oma“, beruhigte ich sie und nahm sie in den Arm. „Mach dir keine Sorgen!“

Die Nacht verbrachten wir zusammen: Großmutter, Mutter und ich. Meine Mutter lag in dem verwaisten Bett meines Großvaters und ich in dem „Kinderbett“ an der Wand, meinem Ferienbett, das irgendwann die Besuchsritze ersetzt hatte. Da wir nicht einschlafen konnten, sprachen wir über meinen Großvater, der ein gutes Herz gehabt hatte. Ein zu gutes Herz, das nun viel zu früh aufgehört hatte zu schlagen. Wir redeten und weinten und redeten und weinten, bis wir gegen Morgen in einen kurzen, unruhigen Schlaf fielen.

Nach der Beerdigung gingen die Frauen in die Küche, um das Mittagessen vorzubereiten; die Männer ins Wohnzimmer, wo sie sich die erste Camel anzündeten und den ersten Braunen tranken. Es gab Rouladen, Rotkohl und – Kartoffeln. Großmutters größter Topf hatte kaum ausgereicht. Nachdem wir sie abgegossen und der Dampf sich langsam verzogen hatte, sahen wir, dass sie alle einen grauschwarzen Schleier trugen. Einen Trauerflor! „Die Farbe“, sagte meine kleine Großmutter mit zitternder Stimme, „dass wir daran nicht gedacht haben! Was wird Ludwig sagen? Wenn er erfährt, dass wir die Kartoffeln in demselben Topf gekocht haben, in dem wir gestern unsere Strümpfe ...“ Sie fing wieder an zu weinen. Aber wir anderen mussten plötzlich lachen. Und konnten nicht wieder aufhören zu lachen, bis Tante Rosa sich in den Arm kniff und „psst!“ machte und „kein Wort zu Ludwig“ sagte.

„Ich habe gar nicht gewusst, dass ihr so schlechte habt“, sagte Onkel Ludwig, als er sich die traurigen Kartoffeln auf den Teller lud und unargwöhnisch musterte. „Nächstes Mal bringe ich euch meine eigene Ernte mit. Ein Unterschied wie Tag und Nacht!“ Sagte es und legte Rotkohl und eine Roulade neben die Kartoffeln und aß alles mit großem Appetit. Wir wagten nicht, uns anzusehen, aus Angst loszulachen. Ich musste an meinen Großvater denken. Was für einen Spaß würde er an dieser Szene haben! Und vielleicht, wer konnte es wissen, sah er uns ja von dort, wo er jetzt war, zu und lachte sich eins. Meine Westgroßmutter Käthe behauptete zwar, Sozialdemokraten kämen nicht in den Himmel, Kommunisten schon gar nicht; aber ich war mir sicher, dass sie sich irrte. Was meinen „roten Großvater“ betraf, sogar ziemlich sicher. Ich machte es meiner Tante Rosa nach und kniff mich unauffällig in den Arm, um das Lachen zu unterdrücken. Hinterher aber, beim Abwasch, als Onkel Ludwig außer Sicht- und Hörweite war, ließ sich unser Lachen nicht länger unterdrücken. Und jetzt lachte auch meine kleine Großmutter Berta und konnte gar nicht wieder aufhören. Nie vorher und nie nachher habe ich sie so lachen gesehen und lachen gehört wie an dem Tag, an dem mein Großvater beerdigt wurde.

„Jeder Tod hat sein Gelächter“, sagt mein Freund Frank. Und Frank muss es wissen, denn Frank ist Bestatter.

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