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Paul Pascal Scheub: Moesische Medienmacht

Im Jahre 250 nach Christus erlebte das Römische Reich eine seiner schlimmsten Katastrophen. Die Goten fielen über die Donau in Moesien ein - einer römischen Provinz, die 1.

Im Jahre 250 nach Christus erlebte das Römische Reich eine seiner schlimmsten Katastrophen. Die Goten fielen über die Donau in Moesien ein - einer römischen Provinz, die 1.500 Jahre später Bulgarien beziehungsweise Serbien genannt werden würde. Der wilde gotische Stamm belagerte verschiedene Städte und wütete grausam; wie viele Tote es gab, ist unbekannt. Als sich die vom vielen Rauben erschöpften Goten mit ihrer Beute im Juni 251 über die Donau gen Norden absetzen wollten, stellte sich ihnen der römische Kaiser Decius in einem Sumpf in der Nähe von Abrittus mit seiner Streitmacht entgegen. Er beabsichtigte, das geschwächte gotische Heer in alle Winde zu zerstreuen, doch statt dessen geschah dasselbe mit dem römischen. Kaiser Decius und einer seiner Söhne starben auf dem Schlachtfeld.

Soweit finden sich diese Fakten in jedem einschlägigen Geschichtsbuch. Was jedoch nicht in den historischen Werken steht, sei im Folgenden geschildert. Hierbei spielte das Zeitungswesen eine entscheidende Rolle, ja, man könnte sogar sagen, dass die Presse zum ersten Mal in der Menschheitsgeschichte in die Speichen des Rades der Historie eingriff. Nach mühevollen Recherchen konnte ich nämlich herausfinden, dass sich ausgerechnet in der rückständigen Provinz Moesien, die zu jenen Zeiten einige der dümmsten, grausamsten und katastrophalsten römischen Kaiser hervorbrachte, eine erstaunlich zuverlässige Zeitungszunft entwickelt hatte. Zwar war die Bevölkerung in dieser Region zwischen Balkangebirge, Donau und Schwarzem Meer vor der römischen Annexion zu den Barbaren gezählt worden, somit war ihr auch jede Art von Geschichtsschreibung in guter griechisch-römischer Tradition zunächst fremd. Aber aus einer praktischen Notwendigkeit heraus entstand in der Provinz so etwas Erstaunliches wie der "Moesischen Beobachter", in damaliger Verkehrssprache "schaeuble moesiana".

Denn die Gegend wurde pausenlos von Invasionen barbarischer Quaden, Karpen, Geter, Westgoten, Ostgoten, Roxolanen, Skythen und Sarmaten heimgesucht, was Moesien zu einem krisensicheren Jobstandort für Legionäre machte. In einer derart instabilen Gegend war es zugunsten des eigenen Wohlbefindens empfehlenswert, sich so oft wie möglich darüber zu informieren, ob die Scholle, auf der man lebte, überhaupt noch unter römische Souveränität fiel, oder ob man sich besser auf böige roxolanische Plünderung, durchsetzt mit vereinzelten Niedergeschlagenheit bringenden sarmatischen Brandschatzungen und örtlichen Auflockerungen durch hungrige Gotenbanden einstellen sollte. Wegen dieses hohen Bedarfs an aktuellen Nachrichten war der "Moesische Beobachter" eine der ersten römischen Zeitungen, für die es sich lohnte, monatlich zu erscheinen. Die damit verbundenen logistischen Schwierigkeiten wurden von einer ganze 120 Schreiber starken Kopiererschar bewältigt, sodass jede Ausgabe des Moesischen Beobachters spätestens 20 Tage nach Fertigstellung des Originals auch im entferntesten Winkel von Moesien und sogar in Rom angekommen war.

Und so kam es, dass am 28. Juni im Jahre des Herrn 251 - was damals aber noch niemanden interessierte - drei Reporter in Begleitung zweier Legionäre und eines Zenturios, alle sechs in Zivilkleidung, durch das Sumpfgebiet in der Nähe von Abrittus stapften.

"Hei, wird das ein Artikel! Bevor man in Rom überhaupt von der Schlacht von Abrittus weiß, haben wir schon alles rekonstruiert! Diesmal sind wir die Ersten!", geiferte Manus Scriptus Glossus, ein stadtrömischer Senatorensohn, der froh war, der Hauptstadt endlich einmal etwas voraus zu haben. Der Chefredakteur des "Moesischen Beobachters", Facios Abos, aber bremste ihn: "Quo vadis, Manus? Alea non iacta est. Immer langsam und sorgfältig. Rerum causas cognoscere. Bis jetzt haben wir noch gar nichts rekonstruiert, und ich frage mich, wie du dich bei diesem furchtbaren Anblick hier freuen kannst."

Eine berechtigte Frage, breitete sich doch gerade der Schauplatz der schlimmsten römischen Niederlage seit mindestens 60 Jahren vor ihnen aus. Die schlammige Erde war überall aufgewühlt, hie und da lagen verbeulte Rüstungen und dellige Asterix- und Römerhelme herum und die Gegend war übersät mit rostigen Sandalennägeln, die sich von den Schuhen gelöst hatten. Auch einige Leichen waren noch nicht weggeräumt worden, weil der ländliche Räumungsdienst in dieser entlegenen Gegend noch nicht so gut funktionierte, und die Erdlöcher summten von den leisen Klagen der vielen Maden, die sich überfressen hatten. Die Schreiberlinge des "Moesischen Beobachters" waren zusammen mit drei Überlebenden der Schlacht hierher gekommen, um sich ein Bild von dem Ereignis zu machen. Für einen solchen Exklusivbericht wagten sie sich sogar in ein Gebiet, das momentan nicht von der römischen Armee verteidigt werden konnte.

Stundenlang wühlten die Drei, geleitet von den sich teilweise widersprechenden Augenzeugenberichten der Soldaten, in den Überresten des Gefechts. Anhand der verbogenen Waffen, herumliegenden Legionsadlern und der anderen Spuren der Auseinandersetzung erkannten die erfahrenen Berichterstatter schließlich, dass ein Teil der römischen Streitmacht einen überhasteten Vorstoß gewagt hatte. Dort waren die Römer am weitesten vorgedrungen, hatten aber auch die größten Verluste erlitten. An dieser Stelle mussten die römischen Verbände die Schlacht verloren haben.

"Meine Güte, da muss ja einer der Befehlshaber völlig ausgerastet sein!", stellte Manus fest. Caralia Columna, einzige Frau im Redakteursstab des "Moesischen Beobachters" und in der patriarchalischen Gesellschaft perfekt als undercover-Reporterin geeignet, stimmte ihm zu: "Da hat wohl einer die großen Strategen nicht ganz richtig gelesen."

"Wem haben denn diese zwei Kohorten unterstanden? Das wird der Oberbumann in unserem Artikel!", meinte Facius zum Zenturio.

Der schaute ihn skeptisch an, räusperte sich und verkündete schließlich: "Na ja, ich glaube, das war Trebonianus Gallus." "Was!?", riefen alle drei Schreiberlinge unisono. "Der? Wirklich der?"

Liebe Zuhörer, jetzt fragt ihr euch vielleicht, warum die Protagonisten sich so aufregen und wer dieser "Trittbrettfahrus Gallenkuss" überhaupt ist. Um die Brisanz dieser Personalie aufzuklären, muss ich kurz auf sie eingehen. Trebonianus Gallus war Statthalter von Moesien und als solcher natürlich auch an der Verteidigungsschlacht bei Abrittus beteiligt. Nach dem Tod von Kaiser Decius aber war er von der römischen Armee zum neuen Kaiser ausgerufen worden und hatte einen für Rom unröm, ähm -rühmlichen Friedensvertrag mit den Goten ausgehandelt.

"Unverschämtheit", empörte sich nun Manus. "Vergeigt erst 10.000 Legionäre im Sumpf, lässt sich dann zum Kaiser ausrufen und schmeißt den verdammten Goten auch noch ganze Reichtümer in den Rachen, nur damit sie nach Hause gehen und nicht gleich wieder einfallen! Das ist doch kein würdiger Regent! Unser Artikel wird ihm das Genick brechen! Sobald wir wieder in der Redaktion sind, entlarven wir ihn gnadenlos!"

Und so kam es auch. Sobald die Bestandsaufnahme des Schlachtfeldes von Abrittus beendet war, marschierten die drei Journalisten stolz und zornig zugleich zurück in die Redaktion in Nikopolis ad Istrum in Südmoesien; eine Stadt, die durch die Goten schwer in Mitleidenschaft gezogen worden war, und schrieben einen langen Exklusivartikel über die Schlacht von Abrittus und das Versagen des jetzigen Kaisers Trebonianus Gallus. Der Absatz war reißend. Die Soldaten und Befehlshaber des römischen Heeres bebten nach der Lektüre vor Empörung.

Und der Kaiser selbst? Anderthalb Jahre nach seiner Proklamation zum Kaiser wurde Trebonianus Gallus von seinen eigenen Truppen ermordet.

Paul Pascal Scheub (15 Jahre)

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