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Aufgezwungene Harmonie. Wie ein Weihnachtsfest eskaliert, lässt sich gut beobachten bei den Hoppenstedts am 24. Dezember um 15.45 Uhr im Ersten.

© Radio Bremen

Zoff unterm Tannenbaum: Wie Familien Streit zu Weihnachten vermeiden

An den Feiertagen brechen Konflikte aus, die schon lange unter der Oberfläche brodeln. Familientherapeuten geben Tipps für ein harmonisches Fest.

Von Julia Prosinger

Er hat das Fahrrad bekommen, das er sich sehnlich gewünscht hatte. Sie spielt mit der neuen Puppe. Sie haben es noch pünktlich zum Krippenspiel geschafft, die Gans war saftig und Oma hat sich diesmal nicht mit Onkel Stefan angelegt. Und dann hat die Mutter dem Vater nicht richtig „Danke" gesagt. Schon ist sie geschehen, die Vertreibung aus dem Paradies.

Streit an Weihnachten, das kommt in den besten Familien vor. Gerade weil es an diesem Abend auf keinen Fall passieren soll. Weil da Menschen zwischen Rotkohl und Lametta aufeinander hocken, die sonst selten zusammentreffen. Weil die Erwartungen so groß sind, dass sie nur enttäuscht werden können. Weil glücklich sein auf Befehl eben nicht funktioniert. Die Polizei verzeichnet in den Festtagen mehr Fälle von häuslicher Gewalt als sonst. Viele Beratungsstellen richten eigens Notrufdienste ein.

Wiebke Großpietsch, die in Friedrichshain Familien coacht, ließ ihre Klienten kürzlich separat aufschreiben, was ihr größter Wunsch fürs Fest ist. Heraus kam: Alle hätten gern mal einen Tag für sich allein. Im neuen Krimi lesen, den neuen Mantel spazieren tragen. Vielleicht eignet sich der 28.? Und vielleicht müssen gar nicht immer alle mit zu Tante Lisa? „Zu Weihnachten stellen sich immer Beziehungsfragen und das kann schmerzhaft sein", sagt sie. Alleine in der Reihenfolge der Familienbesuche könne schon eine nicht ausgesprochene Anerkennung oder Missbilligung stecken.

An den besinnlichen Tagen tut die Trennung nochmal besonders weh

Die Familientherapien macht Großpietsch gemeinsam mit ihrer Kollegin Alexandra Falk. Gemeinsam versuchen sie, herauszufinden, ob ein Struktur- oder ein Liebesproblem vorliegt. Kommt beispielsweise der Konflikt immer an diesen emotionalen Tagen auf, weil einem da stärker als sonst auffällt, dass der Vater den Bruder mehr liebt? Dann, rät Großpietsch, sollte man das Thema auf einen anderen Tag verschieben. „Davon gibt es ja noch genug im Jahr".

Auch die Familienberaterin Dörte van Benthem Favre in Prenzlauer Berg widmet sich besonders vorm Jahresende diesen Fragen. Viele, die eigentlich schon mit der Therapie bei ihr abgeschlossen haben, melden sich noch mal vor Weihnachten, um das große Streiten zu verhindern. In ihrer Praxis trifft sie vor allem auf zusammengewürfelte Familien. „Manche sind doppelt und dreifach gepatchworkt", sagt sie und fügt noch an, dass das bei ihr auch so ist. „Da sind Partner plötzlich Stiefeltern und Einzelkinder haben von einem auf den anderen Tag Geschwister." Und auch Heiligabend ist nicht mehr so wie früher. Der neue Teil der Familie singt unverschämterweise ganz andere Lieder, schmückt den Baum in anderen Farben. Oder die Trennung tut in diesen besinnlichen Tagen nochmal besonders weh und Mama weint den Braten weich.

Viele getrennte Eltern wollen ihre Kinder unbedingt beide am 24. bei sich haben. „Sonst haben sie das Gefühl, sie hätten gar kein Weihnachten gehabt", sagt van Benthem Favre. Sie müssten zunächst einsehen, dass das praktisch nicht möglich sei. Warum nicht den 4. Advent zur großen Familienparty erklären? „Den Kindern kommt es ohnehin nur auf die Stimmung an.“ Auch nach dem Fest suchen Familien die Hilfe der Therapeutin. Dann nämlich ist der Leidensdruck so hoch, dass sie bereit sind etwa 150 Euro für eine Sitzung zu bezahlen, einen gemeinsamen Termin zu finden und die eigene Scham zu überwinden.

Die Familien, die bei Wiebke Großpietsch oder Dörte van Benthem Favre stranden, sind selten psychisch krank. Meist wurden sie von einer Krise überfallen, von Krankheit oder Tod, ein Mitglied wird depressiv, bulimisch oder die Trennung scheint unausweichlich.

Hinter jedem schwierigen Kind, steckt vermutlich ein Paarproblem

Großpietsch bemüht sich zunächst, das Konstrukt der Familie zu verstehen. „Wenn das System ungünstig ist, versuche ich, gemeinsam mit der Familie Dinge zu finden, wie man es stören kann“, sagt sie. Die Therapeutinnen wollen herausfinden, wie die Familie miteinander kommuniziert. Dazu fragen sie zirkulär: „Was denken Sie, was Ihre Tochter denkt, warum Sie alle heute hier sind?“ Wie bei der Frage nach dem Weihnachtswunsch sprechen die Familienmitglieder im Sitzungszimmer Dinge aus, die sie sonst nicht zu sagen wagen.

Um ihre Klienten schneller zu verstehen, lässt Dörte van Bentham Favre sie die Familie oft als Tiere zeichnen. „Wenn dann einer das Nashorn ist und einer der Affe, weiß man schon viel über die Machtverhältnisse.“ Bei ihr sitzen nur selten Kinder auf den Sofas. „Die Eltern haben die Verantwortung für eine funktionierende Familie.“ Hinter jedem schwierigen Kind, vermutet sie zunächst ein Paarproblem. Man könne nicht das Kind bei ihr abgeben und hoffen, dass sie es repariere. Oft streiten sich getrennte Eltern bei ihr – vordergründig um das Wohl des Kindes: „Wenn Max bei dir die ganze Nacht so viel trinken darf wie er will, ist es doch klar, dass er bei mir ins Bett macht!“ Van Benthem Favre sucht dann mit den Eltern einen Kompromiss. Vielleicht reicht ein Glas Wasser pro Nacht?

Gemeinsam mit der Familie übt die Therapeutin richtig zu streiten

Bei Großpietsch wiederum sind auch schon Kleinkinder bei den Sitzungen dabei. Und sobald sie können, sollen sie auf dem Familienbrett Figuren aufstellen. Welche zwei stehen da so nah beieinander? Wärst Du auch gern näher an der Mama dran? „Kinder sind besonders hilfreich, weil sie meist offen und direkt sind“, sagt Großpietsch. Sie spürten auch sehr genau, wenn mit den Eltern etwas nicht stimme. Wenn beispielsweise ein Kind nachts nicht schlafen kann, immer wieder zu den Eltern ins Wohnzimmer läuft, liegt das möglicherweise an deren Beziehung. Großpietsch erlebt häufig, dass Eltern kaum miteinander sprechen und das Kind daher im System Familie zum Problemfall wird. Wenigstens etwas, worüber man sich sorgenvoll unterhalten kann. Kommen alle gemeinsam in ihre Praxis, kann sie gleich ablesen, wie die Familie mit Stress umgeht: Schreit das Baby im Therapieraum, wer beruhigt es? Wer ordnet das Chaos? Gemeinsam mit der Familie übt sie dann richtig streiten.

Mit älteren oder schon erwachsenen Kindern, hilft auch ein Genogramm: Was waren die Vorfahren von Beruf, welche Werte, welche Vorstellungen von Moral galten? Hat einer die Wende als Bruch erlebt oder nach dem Zweiten Weltkrieg unter emotionslosen Eltern gelitten?

So lässt sich herausfinden, warum die Eltern sich gegen eine notwendige Scheidung sperren. Möglicherweise kamen sie aus einer sehr katholischen Familie, möglicherweise hat niemand mehr mit Großtante Maria gesprochen, seit sie sich von ihrem Mann getrennt hat? Und möglicherweise gab es auch seit Generationen schon Streit an Heiligabend.

Regeln zum richtigen Streiten:

Vorwürfe sollten konkret angesprochen und nicht pauschalisiert werden (Worte wie „immer“ vermeiden).

Im Zweifel eine Pause machen und einen Zeitpunkt verabreden, an dem der Streit weitergehen darf.

Immer in Ich-statt-Du-Botschaften sprechen. (Nicht sagen: „Du lässt deinen Ranzen immer im Flur liegen.“ Sondern: „Ich stolper oft über deinen Ranzen, das ärgert mich.“)

Manchmal hilft ein Ortswechsel: Immer Streit vorm Schlafengehen? Dann beim Spazierengehen weiterstreiten.

Die Redezeit begrenzen und den anderen ausreden lassen.

Ein Familiencoach muss privat bezahlt werden. Kirchliche Träger bieten kostenlos erste Hilfe bei Familienstreit an: www.caritas-berlin.de oder www.diakonie-familienhilfe.de.

Bei schwerwiegenden Problemen helfen die Jugendämter.

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