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Lokale Linderung: Am Computer lassen sich molekulare Strukturen simulieren. Das Verfahren soll helfen, Opioide zu entwickeln, die zielgenauer und ohne die üblichen Nebenwirkungen Schmerzen stillen.

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75 Jahre digitale Welt: Wie der Computer unser Leben und die Wissenschaft beeinflusst

Quer durch alle Disziplinen bedienen sich Wissenschaftler bei ihren Forschungen digitaler Technologien - drei Beispiele aus der Freien Universität.

Zielgenau gegen den Schmerz: Forscher bauen am Computer neue Medikamente

Den Schmerz ausschalten und Nebenwirkungen weitestgehend vermeiden – was für den Anästhesisten Christoph Stein von der Charité zum Berufsalltag gehört, lässt ihn auch als Wissenschaftler nicht los. Seit mehr als 25 Jahren erforscht der Mediziner die Wirkungsweise von Opioiden, den am stärksten wirksamen Schmerzmitteln. Nun haben er und der Mathematiker Marcus Weber vom Zuse-Institut Berlin (ZIB) einen Wirkstoff entworfen, der die Schmerztherapie revolutionieren könnte.

„Lange Zeit ging man davon aus, dass Opioide nur zentral wirken, also im Gehirn“, erklärt Stein. Hier binden die Moleküle an die sogenannten Opioid-Rezeptoren. Die Folge: Der Schmerz wird ausgeschaltet. Allerdings kommt es auch zu erheblichen Nebenwirkungen wie Suchtentwicklung oder sogar Atemstillstand. „Diese Nebenwirkungen entstehen im Gehirn. Im Rahmen unserer Forschung fanden wir heraus, dass Opioid-Rezeptoren nicht nur im Gehirn, sondern im gesamten Körper vorkommen.“ Die chemische Umgebung jedoch sei im gesunden Gewebe eine andere als im entzündeten. „Unsere Hypothese war daher, dass die Rezeptoren dort, wo der Schmerz entsteht, eine andere dreidimensionale Gestalt haben.“

Um diese strukturellen Unterschiede zu erforschen, wandte sich Stein an den Mathematiker Marcus Weber, der am ZIB eine Arbeitsgruppe zur Simulation molekularer Strukturen leitet. „Das ist ein bisschen wie Textaufgaben ohne Lösungsweg rechnen“, sagt Weber lachend. „Diese Prozesse sind extrem komplex, und man muss sehr frustrationsresistent sein.“ Dennoch gelang es Weber und seinem Team schließlich, die dreidimensionale Struktur des Opioid-Rezeptors zu simulieren und einen Designvorschlag für den Rezeptor im entzündeten Gewebe zu machen. Ferner simulierten die Mathematiker den Bindungsprozess eines Schmerzmittelmoleküls.

Bald entstand die Idee, ein Schmerzmittel zu entwickeln, das ausschließlich an Opioid-Rezeptoren in entzündetem Gewebe bindet. Hierfür fanden Stein und Weber eine elegante Lösung: Sie tauschten bei einem gängigen Schmerzmittel ein einziges Atom aus. „Durch diesen Austausch verändert sich die Form des Moleküls derart, dass es wohl tatsächlich nur noch an Opioid-Rezeptoren in entzündetem Gewebe bindet", sagt Weber. Im Tierversuch erwies sich das neuartige Schmerzmittel bereits als äußerst vielversprechend. „Wir schließen daraus, dass das von uns entwickelte Medikament tatsächlich lokal und zielgenau den Schmerz stillt, ohne die üblichen Nebenwirkungen im Gehirn auszulösen“, erläutert Marcus Weber. Ein Patent haben die Forscher bereits erhalten. Nun sind sie auf der Suche nach Partnern, um das Schmerzmittel in einer klinischen Studie testen zu können. „Bis die Wirkung des Schmerzmittels am Menschen geprüft werden kann, vergehen sicherlich noch ein bis zwei Jahre“, sagt Christoph Stein. „Die bisherigen Ergebnisse stimmen uns aber sehr zuversichtlich.“

Katz und Maus: Optimierte Maut-Kontrollen dank kniffliger Algorithmen

Linienpläne verbessern oder mithilfe kniffliger Algorithmen die Mitarbeiter- und Kundenzufriedenheit im Nah- und Fernverkehr erhöhen: Mit solchen Aufgaben setzt sich Ralf Borndörfer am Zuse-Institut Berlin (ZIB) auseinander. Gemeinsam mit seinen Kollegen optimiert der Mathematiker Verkehrssysteme. So auch im Hinblick auf effizientere Maut-Kontrollen für Lastkraftwagen. Lkw mit einem Gesamtgewicht über 7,5 Tonnen müssen seit 2005 auf allen Autobahnen und vielen Bundesstraßen eine Gebühr zahlen, deren Entrichtung vom Bundesamt für Güterverkehr mit seinem Straßenkontrolldienst überwacht wird. In Kooperation mit dem Bundesamt erarbeiteten Borndörfer und seine Mitarbeiter Guillaume Sagnol, Thomas Schlechte, Stephan Schwartz und Elmar Swarat eine Lösung.

„Entscheidend ist, wann der Kontrolldienst auf welchen Autobahnabschnitten präsent ist“, sagt Borndörfer. „Kontrolleure und Lkw-Fahrer, die die Maut vermeiden wollen, verhalten sich dabei ein wenig wie Katz und Maus.“ Schwarze Schafe sollen effizient herausgefischt oder gleich ganz abgeschreckt werden. Viele Faktoren spielten dabei eine Rolle, sagt Borndörfer: „Man will zum Beispiel ein möglichst hohes Verkehrsvolumen untersuchen, es soll aber auch das gesamte Netz abgedeckt werden, und natürlich müssen alle Arbeitszeitregeln berücksichtigt werden.“ Ähnliche Methoden sollen demnächst auch bei der geplanten Pkw-Maut zum Einsatz kommen.

„Das Schöne an meinem Beruf ist, dass wir es hier mit Anwendungen der Mathematik zu tun haben, die sichtbar und nützlich sind“, sagt Borndörfer. „Mit Mathematik kann man vorhandene Mittel bestmöglich einsetzen und dadurch im Verkehr sehr viel erreichen.“

Mathe als Übersetzer: Interdisziplinäre Umweltforschung in Dahlem

Mit Mathematik die interdisziplinäre Kommunikation zu verbessern und so die Umweltforschung voranzubringen – dieses Ziel verfolgt Rupert Klein vom Institut für Mathematik der Freien Universität Berlin. Derzeit untersuchen der Professor für numerische Strömungsmechanik und seine Kollegen im Sonderforschungsbereich „1114 – Scaling Cascades in Complex Systems“ etwa die Mechanismen, die starke tropische Stürme zu ausgewachsenen Wirbelstürmen werden lassen. Unterstützt werden sie dabei vom Team „Visual Data Analysis“ des Zuse-Institut Berlin. Eine bildliche Darstellung komplexer Beobachtungs- und Simulationsdaten sei für den wissenschaftlichen Fortschritt in diesem Forschungsfeld extrem hilfreich, sagt Klein: „Wir verstehen einen neu zu untersuchenden physikalischen Prozess, indem wir Vermutungen über seine wesentlichen Mechanismen anstellen, diese dann mit Beobachtungs- und Simulationsdaten vergleichen und einer Prüfung unterziehen.“ Ausgefeilte Visualisierungstechniken machten es möglich, komplexe Zusammenhänge bildlich aufzufassen. Diese würden dann in Arbeitshypothesen übertragen, die wiederum in natürliche Sprache übersetzt werden könnten, sagt Klein. „So findet man etwa heraus, wo das Auge des Hurrikans sitzt und welche speziellen Strömungsstrukturen in seiner Umgebung es maßgeblich bestimmen.“ Der Wissenschaftler ist überzeugt, dass Mathematik vor allem geeignet ist, interdisziplinär Brücken zu schlagen. „Die natürliche Sprache ist oft mehrdeutig. Das kann zu Missverständnissen führen. Mathematik erbringt für viele Disziplinen eine Übersetzungsleistung, sodass die wissenschaftliche Diskussion erheblich an Präzision gewinnen kann.“

Lesen Sie zum Thema "75 Jahre digitale Welt" auch unser Interview mit den Informatikexperten Christof Schütte und Jochen Schiller von der Freien Universität.

Nora Lessing

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