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Deutsch-israelisches Graduiertenkolleg: Menschenrechte um jeden Preis wahren

Das internationale Graduiertenkolleg „Human Rights under Pressure“ forscht in Berlin und Jerusalem.

„Gelogen hat er nicht. Aber nur die halbe Wahrheit erzählt.“ Für Nir Barak war es kaum auszuhalten, dass der Stadtführer den Doktoranden vom deutsch-israelischen Graduiertenkolleg ein so einseitiges Bild von Tel Aviv präsentierte. Weil Nir Barak seine Stadt liebt, begann der israelische Doktorand, die Ausführungen des Stadtführers zu kommentieren. Die Doktoranden aus Berlin fragten, die anderen Israelis ergänzten, und erst in dieser mehrstimmigen Führung zeigte sich das vielschichtige Bild von Tel Aviv, mit seiner hebräisch-palästinensischen Geschichte, seinen Schattenseiten und Herausforderungen.

„Das war ein großartiger Beweis für die Fähigkeit unserer Doktorandinnen und Doktoranden, Geschichte zu dekonstruieren“, sagt Klaus Hoffmann-Holland, Ko-Leiter und Mit-Initiator des ersten deutsch-israelischen interdisziplinären Graduiertenkollegs Human Rights under Pressure – Ethics, Law and Politics (HR-UP), das im September 2014 startete. Der Strafrechts-Professor und Vizepräsident der Freien Universität Berlin ist stolz auf die ersten zwölf Doktoranden des Programms, die im Herbst für zwei Wochen in Israel zusammenkamen. Tomer Broude, israelischer Ko-Leiter des Projekts und Jura-Professor an der Hebrew University of Jerusalem, stimmt seinem deutschen Kollegen zu: „Der interdisziplinäre Ansatz macht sich bemerkbar und hat sich schon jetzt bewährt.“

Das von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) und der Einstein Stiftung Berlin geförderte Graduiertenkolleg bringt Doktoranden aus verschiedenen Ländern und Fächern zusammen, die sich mit der Situation von Menschenrechten unter dem Einfluss von Krisen, Globalisierung und kultureller Vielfalt befassen. Drei Jahre lang werden insgesamt 40 Doktoranden an beiden Standorten in das Programm aufgenommen, einige von ihnen werden sogar mit einer Doppel-Promotion abschließen. Sie werden von je einem israelischen und einem deutschen Professor betreut und verbringen vier bis acht Monate im jeweils anderen Land. „Wir knüpfen ein internationales Netzwerk“, sagt Klaus Hoffmann-Holland, „um innovative und interdisziplinäre Menschenrechts-Forschung zu ermöglichen.“ Das Projekt ist auch Teil der strategischen Partnerschaft zwischen beiden Hochschulen; die Freie Universität und die Hebrew University kooperieren eng in Forschung, Lehre und Verwaltung.

Die Forschungsthemen der Doktoranden sind so unterschiedlich wie ihre Biografien: Sie haben Fächer wie Jura, Politikwissenschaft, Soziologie und internationale Beziehungen studiert und befassen sich in ihren Projekten mit häuslicher Gewalt in den USA, Polygamie in Israel sowie dem Ersten Weltkrieg in Deutschland. Sie fragen, ob Menschenrechte gesellschaftlichem Wandel unterliegen und ob sie in Extremsituationen wie Krieg, Flucht oder Gefangenschaft gewahrt werden können.

Es sind Fragen, die interdisziplinäre Antworten erfordern. „Die Doktoranden nähern sich komplexen Themen zur Theorie und Praxis der Menschenrechte auf unterschiedliche Weise“, erläutert Tomer Broude. „Erst das Zusammenspiel aller Beobachtungen ermöglicht ein umfassendes Verständnis.“

„Es passte einfach!“, sagt Julia Teschlade. „Ich habe das Programm gelesen und wusste, worüber ich meine Doktorarbeit schreibe.“ Die Soziologin beschäftigt sich damit, wie die spezifischen nationalen Kontexte die jeweilige Gesetzgebung prägen und untersucht dies am Beispiel der Leihmutterschaft in Israel und Deutschland. Der geplante Vergleich dieser zwei Staaten, die sehr unterschiedlich mit dem Thema Reproduktionsmedizin umgehen, sei nicht einfach, aber spannend, sagt sie. Ein weiterer Vorteil des gemeinsamen Promovierens in einem Graduiertenkolleg: Die Doktoranden unterstützen sich nicht nur fachlich, sondern auch moralisch: „Man erlebt Höhen und Tiefen gemeinsam“, sagt Julia Teschlade. Mindestens einmal in der Woche lesen sie in Berlin gemeinsam Texte oder halten kleine Vorträge; mit den Kollegen in Israel kommunizieren sie per Videokonferenz.

Auch Marie Walter hat sich gezielt für ein strukturiertes Doktorandenprogramm beworben. Sie ist Politologin und untersucht, wie sich die Reform des europäischen Asylrechts auf die Menschenrechte auswirkt. Obwohl ihre Dissertation sich nicht unmittelbar mit Israel befasse, sei aus vergleichender Sicht das Asylrecht in Israel von großem Interesse; ihren Aufenthalt an der Hebrew University möchte Marie Walter für eine Beschäftigung mit diesem Vergleich nutzen. Die Kooperation mit ihrer israelischen Betreuerin Einat Albin, einer promovierten Juristin mit Erfahrung in der Beratung von Flüchtlingen, sei schon jetzt sehr bereichernd. Da sich die Israelis auch für die aktuelle Flüchtlingsdebatte in Deutschland interessieren, organisiert Marie Walter nun einen Tag zum Thema Migration während der zweiwöchigen Summerschool im Juli 2015, wenn die Israelis zum Gegenbesuch nach Berlin kommen. Und so wie die Doktoranden im vergangenen Herbst in Israel die Gedenkstätte Yad Vashem besuchten, gehören in Berlin nun das Haus der Wannseekonferenz, das Holocaust-Mahnmal und das Jüdische Museum zum Programm. Dort wird Marie Walter die Autobiografie eines ungarischen Holocaust-Überlebenden vorstellen, die sie mit ihm gemeinsam verfasst hat. Für die Französin mit deutschem Urgroßvater ist der Holocaust Teil der europäischen Geschichte. Es sei daher sehr berührend gewesen, in Israel Menschen kennenzulernen, deren Familien Schreckliches erlebt und Traumata zu bewältigen haben.

Dazu gehört Nir Barak, der Doktorand aus Tel Aviv. Man dürfe aber die deutsch-israelische Zusammenarbeit nicht auf die Bürde der Geschichte reduzieren, sagt er. Barak untersucht in seiner Dissertation, wie die Menschenrechte von Globalisierung und Stadtentwicklung betroffen sind. „Die Menschen, die am meisten unter Umweltungerechtigkeit leiden, sind die benachteiligten Stadtbewohner“, sagt er. Ihn interessiert, wie diese Problematik in Deutschland behandelt wird, und er freut sich auf seine Forschungszeit in Berlin. Dabei ist es für ihn und seine Familie keineswegs selbstverständlich, dass er nach Deutschland geht: „Meine Großeltern sind Holocaust-Überlebende, da gibt es schon einige Empfindlichkeiten.“ Er betont aber: „Das beeinflusst nicht meine Beziehung zu den Deutschen, die vierzig Jahre nach dem Krieg geboren sind – und es beeinflusst auch nicht meine Beziehung zu der deutschen Gruppe.“

Dass die Doktorandinnen und Doktoranden in Israel und Deutschland ganz selbstverständlich und respektvoll wissenschaftlich zusammenarbeiten und sich einem so sensiblen Themenkomplex wie den Menschenrechten widmen können, ist auch der Hartnäckigkeit zu verdanken, mit der Klaus Hoffmann-Holland und seine israelischen Kollegen vom Minerva Center for Human Rights der Hebrew University das Projekt vorangetrieben haben. Hoffmann-Holland und Professor Mordechai Kremnitzer, damals Dekan der Jura-Fakultät der Hebrew University, hatten die Idee zu einem gemeinsamen Graduiertenkolleg bereits 2008. Sie sahen das enorme Potenzial ihrer international ausgerichteten Doktoranden, Vorurteile überwinden zu können und interdisziplinär zusammen zu forschen.

Ein Fazit kann Doktorandin Julia Teschlade jetzt schon ziehen: „Schubladendenken macht keinen Sinn!“ Man müsse lernen, mit Ambivalenzen zu leben und immer wieder vermeintliche Wahrheiten hinterfragen. Das sei auch in Tel Aviv deutlich geworden. Ihre Bilanz: „Dass man Geschichten auf so unterschiedliche Weisen erzählen kann. Und dass es die Wahrheit nicht gibt. Sondern nur verschiedene Perspektiven darauf.“

Klara Wortmann

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