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Veranstaltungsreihen wie die Hegel Lecture - hier 2011 mit dem slowenischen Philosophen Slavoj Žižek - ziehen viel Publikum nach Dahlem. So soll es bleiben, sagt DHC-Sprecher Paul Nolte.

© Bernd Wannenmacher

Geisteswissenschaften: Weltgeist in Dahlem

Der neue Vorstand des Dahlem Humanities Center der Freien Universität möchte einen Ort des Austausches schaffen.

Seit Februar hat das Dahlem Humanities Center (DHC) einen neuen Vorstand. Die fachbereichsübergreifende Einrichtung, die die geisteswissenschaftliche Forschung an der Freien Universität bündelt, leiten nun vier Professorinnen und Professoren: die Arabistin Beatrice Gründler, die Romanistin Anita Traninger, der Theaterwissenschaftler Matthias Warstat sowie – als Sprecher – der Historiker Paul Nolte. Neun Jahre lang – seit der Gründung 2008 – hatte der Romanist Professor Joachim Küpper als Sprecher des DHC gewirkt. Zum bisherigen Vorstand gehörten auch die Theaterwissenschaftsprofessorin Erika Fischer-Lichte und der Romanist Professor Klaus W. Hempfer. Ein Gespräch mit Paul Nolte über Aufgaben und Zukunft des DHC.

Paul Nolte ist Professor für Zeitgeschichte am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität und Sprecher des Dahlem Humanities Center.
Paul Nolte ist Professor für Zeitgeschichte am Friedrich-Meinecke-Institut der Freien Universität und Sprecher des Dahlem Humanities Center.

© Bernd Wannenmacher

Herr Professor Nolte, warum braucht die Freie Universität ein Dahlem Humanities Center?
Die Freie Universität ist eine weltweit führende Universität in den Geisteswissenschaften. Die vielfältigen Aktivitäten müssen einerseits nach innen gebündelt und andererseits nach außen sichtbar sein und ausstrahlen. Die Geisteswissenschaften sind an den beiden großen Fachbereichen Philosophie und Geisteswissenschaften sowie Geschichts- und Kulturwissenschaften vertreten, und jeder dieser Fachbereiche umfasst ein weites disziplinäres und methodisches Spektrum – vermutlich ein größeres als in einigen der naturwissenschaftlichen Fachbereichen an dieser Universität. Da ist eine Abstimmung und Verständigung darüber, was Geisteswissenschaften sind und was wir tun, wenn wir in unterschiedlichen Fächern als Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftler arbeiten, dringend notwendig. Nach außen ist die Funktion des DHC als Ansprechpartner und Vernetzungseinrichtung von Bedeutung, vor allem für andere führende Institutionen überall auf der Welt, wo es ebenfalls Humanities Centers oder ähnliche Einrichtungen gibt.

Wie könnte ein solcher Verständigungsprozess, von dem Sie sprechen, aussehen?
Wir überdenken das Veranstaltungsspektrum des DHC derzeit und wollen es erweitern – neben den großen Vorträgen wollen wir diskursive Formate stärker zur Geltung bringen, also Formate der inneren Selbstverständigung wie Workshops. Wir denken auch darüber nach, Nachwuchswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler stärker einzubeziehen und dabei die Postdoc-Schwelle nach unten zu durchbrechen, um auch fortgeschrittenen Doktoranden zu ermöglichen, wissenschaftliche Gesprächspartner einzuladen. Dazu soll bald unser Programm Dahlem Junior Hosts starten.

Welche Themen haben Sie sich für das Dahlem Humanities Center grundsätzlich vorgenommen?
Unsere Leitfrage könnte man so umreißen: „Was tun wir, wenn wir Geisteswissenschaften betreiben?“. Da der Vorstand nun paritätisch mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus beiden Fachbereichen besetzt ist, sollen sich im Programm in Zukunft auch die Themen, Fragen und Methoden des Fachbereichs Geschichts- und Kulturwissenschaften stärker abbilden. Ein Aspekt, der in den Kulturwissenschaften und den Archäologien eine Rolle spielt, ist die Materialität des Wissens – sei es bei einer archäologischen Ausgrabung oder bei einem Bild in der Kunstgeschichte. Das Verhältnis von Materialität und Schrift, von Ding und Schrift, von Bild und Schrift ist gerade eines der „heißen“ Metathemen der Geisteswissenschaften, auch in den Philologien. Ein weiteres Querschnittsthema, das wir in den Vordergrund rücken wollen, sind die Digital Humanities, also die neuen Methoden und Wissensformen, die sich für unsere Fächer durch die Digitalisierung eröffnen.

Was bedeutet das DHC für Sie und für Ihre Arbeit?
Für mich birgt die Arbeit am DHC die Chance zu fragen, wie die Geisteswissenschaften funktionieren, was sie beeinflusst und wie sie sich verändern. Unsere Fächer haben innerhalb weniger Jahrzehnte erhebliche Transformationen durchgemacht. Als ich studiert habe, wirkte noch eine angelsächsisch geprägte sozialwissenschaftliche Wende in die Geisteswissenschaften hinein, dann kam der sogenannte Cultural Turn, der die Geisteswissenschaften kulturwissenschaftlich neu erfunden hat – häufig beeinflusst vom französischen Poststrukturalismus und dem Linguistic Turn, mit dem die Welt, auch die historische, zunehmend als Sprache und als Konstruktion im Auge des Betrachters erschien. Was ist von diesen „Wenden“ geblieben? Das sind Fragen, die mich auch deshalb sehr interessieren, weil ich mein eigenes Fach, die Geschichte, immer als interdisziplinäres Fach verstanden habe. Wir wollen auch nach der Zukunft der Geisteswissenschaften fragen und nach ihrer gesellschaftlichen Rolle.

Öffentlich sichtbar waren in den vergangenen Jahren die großen Vorträge am DHC: die Siegfried-Unseld-Vorlesung oder auch die Hegel Lecture. Vortragende wie Judith Butler und Slavoj Žižek zogen Hunderte von Zuschauern nach Dahlem. Wie sollen diese Reihen fortgeführt werden?
Die Hegel Lecture soll ein Format für Geisteswissenschaftlerinnen und Geisteswissenschaftler mit internationaler Ausrichtung bleiben. Im Mai ist die feministische Theoretikerin und Schriftstellerin Hélène Cixous aus Paris bei uns zu Gast – darauf bin ich schon sehr gespannt, denn das wird, so viel sei schon verraten, mehr als ein Vortrag, fast eine poetische Performance werden. Die Hegel Lecture lotet ja überhaupt die Kräftefelder zwischen Ästhetik, Erkenntnis und Politik aus. Der Name der Vorlesungsreihe ist insofern auch als inhaltliche Ausrichtung zu verstehen: Wie verhalten wir uns zu Hegels Erbe? Steckt in der geistigen Chiffre eine aktuelle gesellschaftliche oder eine politische Aussage? Wie verhalten wir uns zu intellektuellen Traditionen grundsätzlich, etwa zu den großen geisteswissenschaftlichen Denkbewegungen seit dem 18. und 19. Jahrhundert?

Also haben Geisteswissenschaften heute noch eine politische Aufgabe.
Unbedingt! Aber die politischen Codierungen unserer Fächer sind komplizierter geworden, und man trägt seine politische Botschaft oder einen gesellschaftlichen Auftrag seiner Wissenschaft nicht mehr so vor sich her, wie das vor einer Generation oft der Fall gewesen ist. Dennoch lassen sich die Geisteswissenschaften gar nicht politisch, sagen wir, keimfrei machen: Sie stehen von außen unter Erwartungs- und Rechtfertigungsdruck, und sie operieren im Innern mit Begriffssystemen, die fast immer eine politisch-ideologische Vorgeschichte haben. Auch über diese „politics of the humanities“, also die politische Dimension von Geisteswissenschaften, wollen wir am DHC nachdenken.

Sie sprechen vom öffentlichen Auftrag – wie soll dieses Engagement denn konkret aussehen?
Mit der Siegfried-Unseld-Vorlesung, die in Kooperation mit dem Suhrkamp Verlag stattfindet, wollen wir noch stärker auf ein stadtöffentliches Publikum zielen. Für die Freie Universität Berlin wird es in den nächsten Jahren eine der großen Herausforderungen sein, die Strahlkraft des geisteswissenschaftlichen Standortes Dahlem zu bewahren, wenn die hier beheimateten Museen schließen und die weltweit hervorragenden Sammlungen in das Humboldt-Forum umziehen. Wir müssen neue Wege finden – ein aktives Dahlem Humanities Center könnte einer davon sein.

Ebenfalls bereits am DHC zu Gast: Die US-amerikanische Philosophin Judith Butler ...
Ebenfalls bereits am DHC zu Gast: Die US-amerikanische Philosophin Judith Butler ...

© Stephan Töpper

... der deutsche Schriftsteller Volker Braun ...
... der deutsche Schriftsteller Volker Braun ...

© Hermann Bredehorst

... sowie der deutsche Arzt und Schriftsteller Uwe Tellkamp.
... sowie der deutsche Arzt und Schriftsteller Uwe Tellkamp.

© Frank Nürnberger

HEGEL LECTURE 2016

mit Hélène Cixous: „Ay yay! The Cry of Literature“ (auf Englisch), Mittwoch, 11. Mai, 18.30 Uhr, Einlass ab 17.45 Uhr. Freie Universität, Henry-Ford-Bau, Max-Kade-Auditorium, Garystraße 35, 14195 Berlin-

Dahlem. Da die Platzanzahl begrenzt ist, wird um Anmeldung bis zum 6. Mai gebeten: admin@dhc.fu-berlin

Nina Diezemann

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