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Die zweite Plünderung Roms 455 n. Chr. durch die Vandalen als Folge der Völkerwanderung, wie der Maler Heinrich Leutemann sie um 1865 festhielt. Bis heute fördern solche Bilder den Eindruck von Chaos und Untergang in der Spätantike.

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Migration: Eine neue Völkerwanderung?

Eine Vorlesungsreihe beschäftigt sich mit Formen von Migration in Geschichte und Gegenwart.

Wenn sich wie zurzeit hunderttausende Flüchtlinge auf den Weg nach Europa machen, dann scheint ein historischer Vergleich auf der Hand zu liegen: die sogenannte Völkerwanderung in der Spätantike. Der Begriff hat in den vergangenen Monaten eine ungeheure Konjunktur erfahren. Er findet sich inzwischen beinahe täglich nicht nur in den Boulevard-Medien, sondern auch in Lokalzeitungen und überregionalen Medien. Vor allem in Leserbriefen ist viel von einer „neuen Völkerwanderung“ die Rede, wenn über die Migration aus Syrien und anderen Krisengebieten nach Europa und die europäische Flüchtlingspolitik geschrieben wird.

Doch welche Assoziationen weckt ein solcher Vergleich? Und wird hier tatsächlich auf Migrationsereignisse im 4. und 5. Jahrhundert n. Chr. Bezug genommen? Oder beschwören Journalisten und Leserbriefschreiber durch den Verweis nicht eher ein Stimmungsbild von Epochenschwelle, Chaos und Untergang, das sich aus Schulbüchern, historischen Romanen, Gemälden und Filmen speist?

Dies war der Ausgangspunkt für Kerstin P. Hofmann, Felix Wiedemann und Hauke Ziemssen vom altertumswissenschaftlichen Exzellenzcluster Topoi. Gemeinsam mit Michael Meyer, Professor für Prähistorische Archäologie an der Freien Universität Berlin, konzipierten sie eine wöchentliche Ringvorlesung, die am kommenden Mittwoch, 20. April, beginnt. Ziel ist es, Migrationsphänomene in der Antike wie die Völkerwanderung, die griechische Kolonisation oder Wanderungsbewegungen um 3000 v. Chr. in Europa und der eurasischen Steppe zu beleuchten. „Wir wollen die historischen Bezüge, die in der aktuellen öffentlichen Debatte sehr oft hergestellt werden, auf eine breitere Wissensbasis stellen“, erklärt Hauke Ziemssen, Geschäftsführer von Topoi.

Es geht um die mexikanisch-amerikanische Grenze ebenso wie um die Massenmigration im 19. und 20. Jahrhundert

Ein Blick in das Programm zeigt, dass es Wanderungsbewegungen zu allen Zeiten und in allen Formen geben hat, Migration also eher als Normalfall menschlichen Zusammenlebens betrachtet werden sollte denn als Ausnahmesituation. Und noch etwas fällt auf: Die Vortragsreihe beschränkt sich nicht auf das Altertum, den genuinen Forschungsgegenstand des Forschungsverbundes. Eingeladen sind auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, die sich mit der jüngeren Vergangenheit und der Gegenwart beschäftigen. Den Eröffnungsvortrag etwa hält die renommierte Soziologin Saskia Sassen von der Columbia University, New York. Der Situation an der mexikanisch-amerikanischen Grenze wird ebenso eine Vorlesung gewidmet wie der Massenmigration im 19. und 20. Jahrhundert.

Für Kerstin P. Hofmann, Prähistorikerin und Leiterin einer Nachwuchsforschergruppe an der Freien Universität Berlin, ist das ein typischer Ansatz für den Exzellenzcluster Topoi. In dem Forschungsverbund von Freier Universität und Humboldt-Universität in Kooperation mit außeruniversitären Partnereinrichtungen werde zwar die Alte Welt erforscht, wissenschaftsgeschichtliche Aspekte spielten dabei aber stets eine Rolle. Außerdem versteht die Prähistorikerin Archäologie, oder allgemeiner: Altertumswissenschaften als gesellschaftliche Praxis. Auch Hauke Ziemssen meint: „Als Altertumswissenschaftler sind wir uns vielleicht noch stärker als Vertreter anderer historischer Fächer bewusst, dass wir einen Transfer zur Gegenwart leisten müssen, da wir uns mit Themen beschäftigen, die zeitlich weit zurückliegen.“ Das berge auch eine Chance: „Die Distanz ermöglicht in manchen Fällen vielleicht einen unbefangenen Blick.“

"Lasst und vorsichtig sein - vor allem mit Vergleichen"

Die Vorträge zeigen die Vielfalt möglicher Formen von Migration und Mobilität, die gerade unter dem Eindruck der aktuellen Flüchtlingskrise aus dem Blick zu geraten drohen. Wenn heute etwa von „Flüchtlingsströmen“ die Rede ist, dokumentiert das wenig Aufmerksamkeit für einzelne Schicksale und individuelle Fluchtgründe. „Ein historischer Rückblick kann dabei helfen, sensibel für Unterschiede zu bleiben“, sagt Ziemssen. So befasse sich ein Vortrag beispielsweise mit dem Begriff des Exils in der Zeit des Nationalismus, der oftmals gar nicht in Verbindung gebracht werde mit Migration. Ein weiterer Fokus liegt auf der Frage nach Identität und Migration. Dieser Aspekt ist in der Geschichte der jüdischen Diaspora – ebenfalls Thema eines Vortrags – besonders offensichtlich. Dass sich aber auch die Identität der Wikinger im Kulturkontakt ausgeprägt hat, dass bis heute unklar ist, ob „Wikinger“ auch eine Selbstbezeichnung für ein Volk war oder die Seefahrer aus Skandinavien von anderen, nämlich den von ihnen ausgeraubten Menschen nur so genannt wurden, wissen nur wenige. Diesem Thema widmet sich Kerstin P. Hofmann in ihrem eigenen Vortrag.

„Es ist unsere Aufgabe als Historiker zu sagen: Lasst uns vorsichtig sein – vor allem mit Vergleichen“, sagt Felix Wiedemann, Mitorganisator der Reihe. Er befasst sich aus wissenschaftsgeschichtlicher Perspektive damit, wie Historiker im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert Migration im Altertum dargestellt haben. Auch damals sei Migrationsgeschichte unter dem Eindruck aktueller Flüchtlingsströme – in diesem Fall von Industriearbeitern und Juden aus Osteuropa, die vor antisemitischen Pogromen flohen – geschrieben worden. Ähnlich wie heute habe es Befürworter einer rigorosen Abschottung und Fürsprecher einer „Willkommenskultur“ gegeben, die davon ausgingen, dass eine Gesellschaft nur durch Impulse von außen zukunftsfähig sei. Oftmals war die sogenannte Völkerwanderung das historische Ereignis, an dem diese Szenarien durchgespielt wurden, um Erkenntnisse für die Gegenwart zu gewinnen. Zum Thema Migration in der Spätantike sind deshalb zwei Vorträge im Programm der Ringvorlesung vertreten. „Wir sind heute in der Pflicht, bestimmte Begrifflichkeiten und Bezüge zu entmystifizieren“, sagt Hauke Ziemssen. „Die Geschichte lehrt nur, dass es nicht so einfach ist, wie man manchmal denkt.“

Ringvorlesung „Migration. Wanderungsbewegungen vom Altertum bis in die Gegenwart“, immer mittwochs vom 20. April bis 20. Juni, 18.15 Uhr, Hörsaal 1a, Rostlaube, Habelschwerdter Allee 45, 14105 Berlin

Nina Diezemann

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