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Andrea Bör tritt ihr Amt als Kanzlerin am 1. Juli an. Zuvor war sie in dieser Position fünf Jahre lang an der Universität Passau tätig.

© Bernd Wannenmacher

Neue Kanzlerin an der Freien Universität: „Es sind die Menschen, die mich interessieren“

Ein Gespräch mit Andrea Bör, künftige Kanzlerin der Freien Universität Berlin, über ihre neue Aufgabe in Dahlem, Beruf und Familie und die Herausforderung, sich einen Überblick zu verschaffen.

Sie ist gerne ganz oben. In der Reichstagskuppel zum Beispiel oder auf dem Berliner Fernsehturm. „Ich finde es faszinierend, sich einen Überblick zu verschaffen“, sagt Andrea Bör. Vielleicht komme das daher, dass sie in ihrer Jugend viel in den Alpen unterwegs gewesen sei. Andrea Bör ist waschechte Bayerin – demnächst mit Wohnsitz in Berlin. Vom 1. Juli an steht die promovierte Ingenieurin an der Spitze der Verwaltung der Freien Universität, als erste Kanzlerin der Hochschule.

Jugendlicher Kurzhaarschnitt, offener Blick, gewinnendes Lachen: Die Frau, die da in hellen Jeans und sportlichem Karo-Blazer im Innenhof des Campus-Hotels Seminaris sitzt und an einem Wasserglas nippt, wirkt selbstsicher und entspannt. Das einflussreiche Amt, das sie in Kürze an der Freien Universität antreten wird, ist ihr grundsätzlich vertraut: Seit 2011 ist die 45-Jährige Kanzlerin der Universität Passau. Nur die Dimensionen in Berlin sind neu: Das Dreifache an Studierenden, das Fünffache an Personal, das Achtfache an Budget und das Achtzigfache an städtischer Einwohnerzahl, wie sie hochgerechnet hat. Von der kleinsten bayerischen Universität an die größte Berliner Universität – das sei „schon eine Herausforderung. Aber ich stelle mich ihr gerne“.

Andrea Bör hat Erfahrung mit Herausforderungen: Nach dem Abitur an einer Mädchenschule studierte die gebürtige Münchnerin Elektrotechnik und Informationstechnik an der dortigen Technischen Universität – als eine von nur 20 Frauen unter 600 Studienanfängern. Sie bekam – als erste Frau – eine Stelle als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Kommunikationsnetze der TU München, an der sie 2005 auch promovierte. Zwei Jahre zuvor, mit 32 Jahren, war sie zum vierten Mal Mutter geworden. Es folgten Posten als Referentin eines Vizepräsidenten der TU München, später als Geschäftsführerin der dortigen Fakultät für Elektrotechnik und Informationstechnik. Im Jahr 2008 wechselte sie als Chief Information Officer an die Universität des Saarlandes in Saarbrücken, 2011 wurde sie Kanzlerin der Universität Passau. Sie war die erste Frau in der Hochschulleitung dort.

Karriere mit vier Kindern - ohne Hilfe wäre es nicht gegangen

Karriere mit vier Kindern – wie geht das? Andrea Bör kennt die Frage, dieses ungläubige Staunen in den Gesichtern. Ohne Hilfe wäre es nicht gegangen, das weiß sie: „Ich hatte viel Unterstützung durch die Eltern und meinen Mann. Er ist selbstständig, daher konnten wir uns die Arbeit teilen. Wenn jemand gefragt hat, habe ich gesagt: Mein Mann passt tagsüber auf die Kinder auf und ich nachts. Ja, so geht das auch!“ Nur das kurze Auflachen an dieser Stelle verrät, dass es wohl nicht immer so einfach war.

Nicht jeder hatte damals Verständnis. In einer Zeit, in der die Rollen fest verteilt waren, sei es für viele unvorstellbar gewesen, dass „eine Frau vier Kinder hat und sich nebenher noch selbstverwirklicht, wie man das zu dieser Zeit nannte“, sagt Andrea Bör und rutscht ein Stück nach vorne im Sessel. „Rabenmutter“ habe sie ein Kollege einmal genannt. Eine Bemerkung, die sie als junge Frau verunsichert hat. „Manchmal habe ich mich tatsächlich gefragt: Machst du wirklich das Richtige?“ Ja, lautet ihr Urteil heute rückblickend. „Ich kann Frauen nur ermutigen, früh Kinder zu bekommen.“ Und der Kollege von damals sei heute selbst Vater und denke mittlerweile ganz anders darüber.

Das Angebot einer Kinderbetreuung ist für sie seither unverzichtbarer Baustein einer familienfreundlichen Hochschule. Ebenso wie Arbeitszeitregelungen, die es Mitarbeitern ermöglichen, sich um pflegebedürftige Eltern zu kümmern. „Ich bin ein sehr logisch denkender Mensch“, sagt Andrea Bör, „und ich sehe eine Organisation als Gesamtsystem, dessen Zusammenhänge beachtet und bedacht werden müssen. Aber es sind vor allem die Menschen in diesem System, die mich interessieren.“ Vielleicht sei sie deshalb heute nicht als Ingenieurin tätig.

Vielleicht aber auch, weil sie schon immer vielseitig interessiert war, schon in der Schule: „Ich hatte Mathe und Französisch als Leistungskurse. Aber ich konnte mir damals auch vorstellen, Ärztin zu werden oder Jura zu studieren.“ Dass es dann Elektrotechnik wurde, sei eher ein Zufall gewesen. Oder auch nicht. „Junge Frauen, die auf eine Mädchenschule gehen, ergreifen später häufiger technische Berufe“, sagt Andrea Bör. „Das ist statistisch bewiesen.“ Zu den Gründen pflegt sie ihre eigene Philosophie: „Möglicherweise entscheiden sie sich etwas freier als Mädchen in gemischten Klassen. Aber dazu gibt es sicher viele Studien ...“

Glück allein reicht nicht, man muss sich auch was trauen

Dass sie selbst auf ihrem Berufsweg mehrfach als erste Frau vorangegangen ist, hat für Andrea Bör nicht allein mit dem Glück zu tun, zur richtigen Zeit am richtigen Ort gewesen zu sein: „Man muss sich einfach zutrauen, in diese Sonderrolle zu gehen.“ Durchsetzungskraft und den Mut, gegen den Strom zu schwimmen, hat sie während des Studiums praktisch nebenbei gelernt. Noch heute erinnert sie sich an die gemeinsamen Mensa-Besuche mit ihren männlichen Kommilitonen aus der Elektrotechnik. „Da gab es zwei Themen: die neuesten Computer und die Zeit bei der Bundeswehr.“ Es waren zwei Welten, die da aufeinandertrafen. Manche ihrer Kommilitoninnen haben das Fach gewechselt.

Dass es heute an Universitäten noch Fachbereiche gebe mit mehr als 50 Prozent Studentinnen, aber nur zehn Prozent Professorinnen, hält sie für nicht mehr zeitgemäß: „Ich glaube, dass wir da eine Frauenquote benötigen.“ Die Freie Universität sieht die designierte Kanzlerin in punkto Gleichstellung in einer Vorreiterrolle: In den vergangenen Jahrzehnten habe die Hochschule sehr erfolgreich daran gearbeitet, die Zahl der Professorinnen zu erhöhen.

Auf Andrea Bör warten Herausforderungen an anderen Stellen: Im Herbst beginnen für die Berliner Universitäten die Verhandlungen mit dem Senat über die neuen Hochschulverträge, und die nächste Runde der Exzellenzinitiative ist eingeläutet – für die Freie Universität, als eine der elf deutschen Exzellenzuniversitäten, ein wichtiger Wettbewerb. Parallel dazu hat die neue Kanzlerin die bauliche Entwicklung der Hochschule im Blick – als einen Schwerpunkt ihrer Arbeit für die kommenden zehn Jahre, die ihre Amtszeit beträgt. „Die Universität kann stolz sein auf ihren grünen Campus, das ist etwas ganz Besonderes.“ Sie will darüber hinaus die Gründungsförderung weiter unterstützen und die Anstrengungen für den Klimaschutz im Universitätsalltag fortsetzen: „Das fordern auch die Studierenden ein. Und sie sind schließlich die Hauptklientel der Universität.“

Ein Herzensanliegen ist Andrea Bör die Personalentwicklung: „Nur durch die besten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter – sowohl im wissenschaftlichen als auch im administrativen Bereich – kann eine Exzellenzuniversität den aktuellen und zukünftigen Anforderungen von Forschung, Lehre und Gesellschaft erfolgreich begegnen.“

„Ich weiß, dass ich in große Fußstapfen trete“

Ihren Vorgänger, Ex-Kanzler Peter Lange, kennt und schätzt sie. „Ich weiß, dass ich in große Fußstapfen trete“, sagt Andrea Bör. Sie habe keine Angst, wohl aber Respekt vor der neuen Aufgabe. Der künftigen Chefin von mehr als 2000 Verwaltungsmitarbeiterinnen und -mitarbeitern ist ein kollegialer Führungsstil wichtig: „Ich versuche, wertschätzend und respektvoll mit allen umzugehen.“ Der freundliche Ton sollte allerdings niemanden dazu verleiten, die neue Kanzlerin zu unterschätzen: „Ich glaube schon, dass ich fordernd bin und klar in meinen Ansagen. Aber ich bin auch sehr offen und tolerant. Und diese Offenheit wünsche ich mir ebenso von den anderen, wenn ich mal etwas falsch machen sollte. Man lernt nie aus!“ Nur bei einer Sache kennt sie keine Toleranz: „Wenn jemand gedankenlos handelt, regt mich das schon mal auf.“

Die Zeit bis zu ihrem Amtsantritt in Berlin will Andrea Bör für die Wohnungssuche nutzen – möglichst nahe an der Uni, damit sie mit dem Fahrrad fahren kann. Ob ihr Mann und der zwölfjährige Sohn mitziehen werden, ist noch nicht entschieden. Vorerst wird sie am Wochenende pendeln, so wie die acht Jahre zuvor schon von München nach Saarbrücken und nach Passau. Ihre drei anderen Kinder seien mittlerweile aus dem Haus, sagt Andrea Bör: „Der 22-Jährige beendet gerade seine Ausbildung in München, die 20-Jährige studiert in Wien, und unsere 17-jährige Tochter besucht ein College in den USA.“ Natürlich freuten sich alle darauf, ihre Mutter in Berlin zu besuchen, „und die Hauptstadtkultur mal live zu erleben“.

Ob die passionierte Standardtänzerin Zeit haben wird, Musik zu machen – ihr zweites großes Hobby –, ist eher fraglich. Bis zu ihrem 20. Lebensjahr hat Andrea Bör im Münchener Jugendsymphonieorchester Geige gespielt, auch Bratsche und Klavier beherrscht sie. „Ich werde an der Freien Universität keine 35-Stunden-Woche haben“, sagt sie. „Aber ich freue mich riesig auf die neue Aufgabe. Auch wenn ich langsam ein bisschen Lampenfieber bekomme.“ Und was hilft dagegen? „Ich scrolle dann mal durch die Internetseiten der Universität oder nehme mir den Hochschulentwicklungsplan zur Hand“, sagt Andrea Bör. Schließlich heißt einer ihrer Grundsätze: „Tue dein Möglichstes, um perfekt vorbereitet zu sein!“ Und wie könnte man das besser, als sich erst einmal einen Überblick zu verschaffen.

Christa Beckmann

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