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"Das Reinheitsgebot finde ich prinzipiell voll in Ordnung, es ist mir aber total egal". Johannes Heidenpeter, Craft-Beer-Brauer

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Trend: Geschmack braucht kein Reinheitsgebot

Dient das 500 Jahre alte Gesetz dem Schutz eines wichtigen Lebensmittels oder ist es nur noch bloßes Marketing für deutsche Biere? Die junge Generation der Craft-Beer-Brauer setzt lieber auf Kreativität und neue Aromen

Das Jahr 1516 war ein sehr bewegtes: Heinrich VIII. gründete den britischen Postdienst. Thomas Morus veröffentlichte „Utopia“, seine Vision einer idealen Gesellschaft, Götz von Berlichingen schmetterte einem erzbischöflichen Amtmann den „Schwäbischen Gruß“ entgegen. Aber das wohl nachhaltigste Ereignis war die Verordnung der bayerischen Herzöge Wilhelm IV. und Ludwig X. vom 23. April 1516: „Ganz besonders wollen wir, dass forthin allenthalben in unseren Städten, Märkten und auf dem Lande zu keinem Bier mehr Stücke als allein Gersten, Hopfen und Wasser verwendet und gebraucht werden sollen.“ Der Erlass des bis heute gültigen „Reinheitsgebots“ sollte die Gesundheit der Bayern schützen, denn im Mittelalter trank man reichlich Bier zu jeder Tageszeit. Es war sauberer und somit weniger gesundheitsschädlich als Wasser. Bedenkliche Zutaten wie Tollkirschen, Bilsenkraut, Baumrinde oder Rinderdarm sollten gebannt werden, der Befehl, nur mit Gerste zu brauen, reservierte wertvolleres Getreide wie Weizen und Roggen fürs Brotbacken.

Biergesetze sind im deutschen Sprachraum schon seit 1156 überliefert, aber das bayerische Gebot betraf zum ersten Mal ein größeres Gebiet, nämlich ganz Bayern. Der Begriff „Reinheitsgebot“ selbst ist viel jünger. Am 4. März 1918 sagte der bayerische Landtagsabgeordnete Hans Rauch: „Wir halten fest am Reinheitsgebote, weil wir der Tradition treu bleiben.“ Bayern machte die flächendeckende Übername der Zutatenreglementierung zur Bedingung für den Beitritt zur Weimarer Republik. Unsere heutige offizielle Gesetzgebung ist das „Vorläufige Biergesetz der Bundesrepublik Deutschland“ aus dem Jahr 1993. Erst um 1950 erschien der Begriff auch auf Flaschenetiketten.

Grundsätzlich begründete diese Tradition noch heute das sehr hohe Niveau deutscher Biere und verhindert, dass deutsche Brauer bestimmte Inhaltsstoffe verwenden, obwohl die europaweit geltende Brüsseler Verordnung 1129/2011 sie erlaubt: Günstige Malzersatzstoffe wie Reis, Mais oder ungemälzte Getreide, aber auch Benzoesäure, Emulgatoren, Aspartam, Enzyme, Ascorbinsäure und 30 weitere E-Stoffe. Denn Bier gemäß dem Reinheitsgebot genießt in Deutschland den Status eines „Traditionellen Lebensmittels“, der es ermöglicht, auf nationaler Ebene das EU-Zusatzstoffrecht auszuhebeln und deutsche Biere „rein“ zu halten. Aber ausländische Biere gemäß EU-Recht dürfen heute in Deutschland als „Bier“ verkauft werden und deutsche Brauer dürfen solche Biere brauen, wenn sie für den Export vorgesehen sind.

Der Schein trügt. Denn deutsche Brauer dürfen in Übereinstimmung mit dem Reinheitsgebot und meist ohne Deklarationspflicht erstaunlich viele Zusatzstoffe verwenden. Beispielsweise Röstmalzbier, ein Bierkonzentrat zum Einfärben, oder diverse Zuckerzusätze. Während der Produktion ist noch mehr erlaubt: Einer der Pioniere der Craft-Bewegung, Fritz Wülfing, Braumeister von „Ale Mania“, erläutert: „Hopfenextrakt, gelöst durch Hexan oder Methylenchlorid, klingt nicht wirklich appetitlich. Mit physikalischen Methoden darf Bier in jeder Weise malträtiert werden. Gesundheitlich unbedenklich ist die Pasteurisierung oder Kurzerhitzung, die das Bier allerdings zu einer toten Konserve macht. Bedenklich, da nicht einmal deklarationspflichtig, ist die Stabilisierung durch Polyvinylpolypyrrolidon.“ PVPP, ein weißes Pülverchen aus der Chemiefabrik, soll dem Bier unerwünschte Substanzen entziehen. Aber trotz Filterung bleiben davon immer noch Reste im reinen Bier.

"95 Prozent der Stone-Biere Erfüllen das Reinheitsgebot, aber es bedeutet mir nichts, daher schreibe ich es nicht auf die Flaschen". Greg Koch, Gründer von Stone Brewing
"95 Prozent der Stone-Biere Erfüllen das Reinheitsgebot, aber es bedeutet mir nichts, daher schreibe ich es nicht auf die Flaschen". Greg Koch, Gründer von Stone Brewing

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Angesichts solcher Heuchelei ist es kein Wunder, dass die deutschen Brauer in den Verdacht gerieten, das Reinheitsgebot nur zur Marktabschottung zu missbrauchen. Einen ersten Rückschlag erlitten sie mit dem leidenschaftlich ausgefochtenen „Bierurteil“ des Europäischen Gerichtshofs vom 12. März 1987, als die Richter diesen wettbewerbsrechtlich fragwürdigen Sonderweg beendeten. Deutschland musste nun zumindest Importbiere zulassen, denen andere Rezepturen zugrunde liegen, köstliche traditionelle Biere aus England oder Belgien wie Chocolate Stout, Kirsch-Lambic oder Witbier mit Orange und Koriander.

Dazu war das reine deutsche Bier immer langweiliger geworden. Der wirtschaftliche Druck hatte viele Mittelständler zur Aufgabe gezwungen, die meisten Brauereien konzentrierten sich auf Pils und Weizen und verzichteten auf saisonale Spezialsude und historische Bierstile.Altbier, Berliner Weiße, Leipziger Gose oder Steinbier starben aus. Andererseits nahm die Marktmacht der uniformen „Fernsehbiere“ aus den Großkonzernen weiter zu. Der Begriff „Einheitsgebot“ machte in den Nuller-Jahren zunehmend die Runde, insbesondere wenn Reisende in den USA, Großbritannien, Belgien oder Skandinavien eine Vielfalt der Braukunst erlebt hatten, die Deutschland längst vergessen hat.

Die neue Craft-Beer-Bewegung ist die hoffnungsträchtige Antwort auf diese Situation. Selbst innerhalb der Grenzen des Reinheitsgebots zeigt sie, wie verstaubt und eingeschlafen die Bierkultur hierzulande ist. Der kraftvoll gehopfte Bierstil „India Pale Ale“ steht als Symbol für die neuen Trends, bleibt aber nicht allein: Röstmalziges Imperial Stout, hefebetonte rote Ales im flandrischen Stil oder auch untergärige Lagerbiere mit Aromahopfen belegen, welche fruchtig-florale Duftigkeit im Bier möglich ist. Es ist nur konsequent, dass die neue Generation von Kreativbrauern nun auch gegen die Gesetzeslage aufbegehrt und Zutatenbeschränkungen im Bierrecht abschaffen will, zugunsten von mehr Natürlichkeit im Brauprozess. Warum nicht traditionelle Naturprodukte wie Orangenschalen, Pfeffer, Kaffee oder Koriander in historischen Bierstilen verbrauen?

Immerhin besteht die Möglichkeit, eine Deklaration als „Besonderes Bier“ von den Landesbehörden genehmigt zu bekommen - allerdings nicht in Bayern und Baden-Württemberg. Präzedenzfall war der „Schwarze Abt“ aus der Klosterbrauerei Neuzelle. Das historische Schwarzbier wird mit Zucker gesüßt, was 1993 die Reinheitsgebotswächter in Brandenburg auf den Plan rief. Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig urteilte 2005 in letzter Instanz, dass es sich beim „Schwarzen Abt“ sehr wohl um ein Bier handele. Seither akzeptieren die Länderbehörden im Norden der Republik immer mehr dieser Anträge - und selbst der Deutsche Brauerbund findet das gut. Hauptgeschäftsführer Holger Eichele bekennt: „Das Reinheitsgebot ist ein hohes und wertvolles Gut, aber Craft-Beer hilft dem ganzen Biermarkt und allen Brauern. Der Blick geht endlich wieder auf mehr Vielfalt.“

"Ich bin absolut für das Reinheitsgebot, aber derzeit funktioniert es eher als Scheinschutzschild und verhindert kreative Gestaltungsmöglichkeiten“. Wolfgang Alois Unertl, Weißbierbräu
"Ich bin absolut für das Reinheitsgebot, aber derzeit funktioniert es eher als Scheinschutzschild und verhindert kreative Gestaltungsmöglichkeiten“. Wolfgang Alois Unertl, Weißbierbräu

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In Bayern dagegen beruft man sich weiterhin auf das noch strenger interpretierte „Bayerische Reinheitsgebot von 1516“. Der mächtige Bayerische Brauerbund lehnt jegliche Form von „Besonderen Bieren“ ab. In einem einstimmigen Beschluss von 2014 besteht der Beirat auf der Unzulässigkeit der „Besonderen Biere“ und giftet dabei nach Thüringen, wo für die Köstritzer Brauerei gerade ein Witbier genehmigt worden war. 2015 wurde die Camba Bavaria Brauerei im Oberbayerischen sogar dazu gezwungen, ihre Bestände an „Milk Stout“ komplett zu vernichten, einem traditionellen Bier, bei dem Milchzucker im Brauvorgang zum Einsatz kommt. In Bayern ticken die Uhren anders.

Der Kreuzberger Brauer Johannes Heidenpeter aus der Markthalle Neun verwendet gerne einmal Sternanis, Zimt oder Salbei in seinen Bieren und sagt: „Das Reinheitsgebot finde ich prinzipiell voll in Ordnung, es ist mir aber total egal. Schade, dass die Reinheitsgebotler das andersherum nicht so entspannt sehen.“ Aber selbst in Bayern bröckelt der Widerstand. Im Januar schlug Jeff Maisel von der gleichnamigen Weißbierbrauerei vor, einen verbindlichen Rahmen für jene Bierstile zu schaffen, zu deren Herstellung nicht zugelassene natürliche Zutaten wie Koriander und Orangenschalen unerlässlich sind.

Entspannt amüsieren sich internationale Brauer über das bayerische Dilemma. Greg Koch, Chef von Stone Brewing, der derzeit in Mariendorf 25 Millionen in den Bau einer Craft-Beer-Brauerei investiert, spricht von einem „großen Missverständnis“ und einem „Marketing-Gag“: „95 Prozent der Stone-Biere erfüllen die Kriterien des Reinheitsgebots, aber es bedeutet mir nichts, daher schreibe ich es nicht auf die Flaschen“. Innerhalb des Reinheitsgebots, sagt er, könne man unglaublich schlechte Biere brauen.

So sieht es wohl auch die Unesco, die im Dezember 2014 den Antrag ablehnte, das Reinheitsgebot in ihre Liste des immateriellen Kulturerbes aufzunehmen. „Hier stand die Lebensmittelvorschrift zu sehr im Vordergrund“, hieß es zur Begründung, „wir hatten auch den Eindruck, dass die Bierproduktion inzwischen sehr industriell geprägt ist. Der Mensch als Wissensträger der Brautradition scheint zunehmend eine nachrangige Rolle zu spielen.“ Die Unesco hat das echte Handwerk vermisst, das ein Kulturerbe erst begründen könnte, und das ist kein guter Start für die Feierlichkeiten zum 500. Jubiläum. Das folgende Jahr 2017 wäre dann der richtige Zeitpunkt für eine einheimische Reform des Reinheitsgebots, bevor erste Brauer sich durch alle Instanzen klagen und die EU die Verordnung für das Reinheitsgebot in Gänze kippt - die größte Sorge der Brauer.

Wolfgang Alois Unertl, Besitzer der Unertl Weißbierbrauerei in Mühldorf am Inn, fasst die Meinung zahlreicher Brauer zusammen: „Ich bin absolut für das Reinheitsgebot,“ bekräftigt er „es kann als echtes Qualitätssiegel großen Sinn machen und beispielsweise verhindern, dass genmanipulierte Rohstoffe zum Einsatz kommen. Aber derzeit funktioniert es eher als Scheinschutzschild und verhindert kreative Gestaltungsmöglichkeiten. Gut, dass es eine neue Generation von jungen Wilden am Braukessel gibt, die dagegen aufbegehrt.“

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Peter Eichhorn

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