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Das Hauptverwaltungsgebäude des Metallurgischen Stahlwerkes in der ehemaligen Industriestadt Rustawi.

© Jana Demnitz

Rustawi in Georgien: Stalins Stahlwerk – vom Winde verweht

Die Industriestadt Rustawi war einst der Stolz Georgiens. Mit der Unabhängigkeit Anfang der 1990er Jahre kamen aber auch Massenarbeitslosigkeit und der Verfall.

Stalin, selbst Georgier, ließ das erste und einzige Stahlwerk in Georgien zwischen 1944 und 1948 aus dem Boden stampfen und die dazugehörige Stadt gleich mit. Nur eine halbe Stunde Autofahrt von der georgischen Hauptstadt Tiflis entfernt, entstand in der Sowjetära im staubigen Sand ein gewaltiger Industriekomplex.

In Spitzenzeiten waren dort mehr als 12.000 Menschen beschäftigt, die bis zu 100.000 Tonnen Stahl im Monat herstellten. Die Arbeiter fertigten im Schichtsystem Rohre für die Öl- und Gasindustrie. Produziert wurde für die ganze Welt, aber vorrangig für die Sowjetunion.

Mit Perestroika und Glasnost Ende der 1980er Jahre erfüllte sich für viele Arbeiter zwar die Hoffnung auf ein unabhängiges Georgien, aber zugleich erlebte das einstige Vorzeigekombinat auch den Absturz. Die landesweite Wirtschaftsblockade gegenüber der ehemaligen Besatzungsmacht, mit ausgerufen vom georgischen Oppositionsführer und späteren Präsidenten Gamsachurdia, hatte katastrophale Folgen. Die alten Absatzmärkte waren weg, neue gab es nicht und die Produktion kam fast vollständig zum Erliegen.

Mitte der 1990er Jahre waren die Hochöfen komplett aus, Rustawi erlebte einen Niedergang sondergleichen. Etliche Zulieferfirmen mussten dicht machen und Tausende Menschen wurden von heute auf morgen arbeitslos. Von mehr als 100.000 Einwohnern gingen Zehntausende fort, hauptsächlich in die USA, nach Deutschland, nach Asien. Viele Produktionsbereiche gammelten nur noch vor sich hin.

Wenn man heute an dem ehemaligen Industriekomplex entlang fährt, erscheinen einem die Stahlskelette und durchlöcherten Betonwände gespenstisch und faszinierend zugleich. Die Natur kricht voran und erobert sich langsam ihr angestammtes Terrain zurück.

Georgien-Karte
Georgien-Karte

© Tsp/Bartel

Aus den lodernden Schornsteinen, die einst vom Stolz der ganzen Region erzählten, sind graue, stumme Beton-Stelzen geworden. Stalins Vorzeige-Industriestadt bröckelt, zerfällt und wird jedes Jahr ein Stückchen mehr vom georgischen Wind in alle Himmelsrichtungen gepustet.

Mit der Privatisierung 2005 ging es wieder langsam aufwärts, dennoch erreichte das Unternehmen mit Machtkämpfen und wechselnden Eigentümern bisher mehr Aufmerksamkeit als mit wachsenden Produktionszahlen.

Mitglieder einer georgischen Oligarchen-Familie streiten seit Jahren gerichtlich um das Stahlwerk. Das Oberste Georgische Gericht soll ein Urteil darüber fällen. Ausgang offen.

Von mehr als 10.000 Mitarbeitern sind heute noch rund 2.000 Männer und Frauen im Werk beschäftigt.
Mehr als 10.000 Menschen arbeiteten einst im Werk. Heute sind dort wieder rund 2.000 Männer und Frauen beschäftigt.

© Jana Demnitz

Unterdessen arbeiten in den Hallen wieder 2.000 Menschen und stellen wie einst Rohre für die Gas- und Ölindustrie her. Die aktuellen Eigentümer, die Familie des verstorbenen Oligarchen Badri Patarkazischwili, sagen, sie wollen dem Stahlwerk wieder zu neuen Glanz verhelfen und suchen Investoren. Solange jedoch die Besitzverhältnisse nicht geklärt sind, werden ausländische Geldgeber wohl auch weiterhin einen großen Bogen um Rustawi machen, wo immer noch der georgische Wind um die Industriebrachen weht.

Pavle Tsereteli, dienstältester Mitarbeiter

Pavle Tsereteli ist mit 87 Jahren der älteste Mitarbeiter des Stahlwerkes. Der Ingenieur ist noch in beratender Funktion tätig.

Am 27. April 1950 ist das Werk feierlich eröffnet worden. An dem Tag wurde der erste Stahl hergestellt. Stalin hatte aus strategischen Gründen und auf persönlichen Wunsch das Werk hier in Rustawi errichten lassen. Die Stadt lag einfach günstig. Jeweils zweihundert Kilometer entfernt von unseren Zulieferfirmen in Georgien und Aserbaidschan, die uns die Vorprodukte für die Stahlproduktion herstellten.

Ich habe am 8. Juli 1951 im Werk angefangen zu arbeiten. Die ersten vier Monate wurde ich gleich nach Nikopol in die Ukraine geschickt, um die Herstellung der Rohre zu erlernen. Die Ukrainer wollten mich auch gleich dort behalten, aber mich hat es wieder nach Rustawi gezogen. Hier war meine Frau und mit meinem Universitätsabschluss konnte ich gleich als Ingenieur weiterarbeiten.

In den 1960er Jahren besuchte uns der damalige sowjetische Staatschef Leonid Breschnew. Ich war damals Ende 30, Abteilungsleiter und unheimlich stolz. Zu dieser Zeit gab es auch einen Wettlauf zwischen dem westdeutschen Unternehmen Mannesmann und uns. Sie stellten 350er Rohre her, wir in einer Kooperation mit rumänischen Kollegen 400er gegossene Hochdruckrohre für die Gas- und Ölproduktion. Diese Produktionslinien gab es nur in Rumänien, in der Ukraine und hier bei uns in Rustawi. Eine tolle Zeit.

Pavle Tsereteli, 87 Jahre
Pavle Tsereteli, 87 Jahre

© Jana Demnitz

Verstehen Sie mich nicht falsch, aber der Zusammenbruch der Sowjetunion hat uns schwer getroffen. Bis 1990 hatten wir intensive Wirtschaftsbeziehungen mit den Sowjetrepubliken. Aber mit dem ersten Tschetschenienkrieg im Nordkaukasus gab es auch keine Bahnverbindung mehr nach Russland, ein Transport war gänzlich unmöglich geworden. 1996 kam die Produktion zwischenzeitlich komplett zum Erliegen. Ich denke, es war Anfang der 1990er ein Fehler, die Fertigung zu stoppen und zu demonstrieren. Ich habe damals persönlich mit unserem Präsidenten Gamsachurdia gesprochen und ihm gesagt, wir müssen hier im Werk weiterarbeiten. Das ist wichtig für das gesamte Land. Er sagte, er würde uns unterstützen, aber da war es schon längst zu spät. Unsere früheren Abnehmer in der ehemaligen Sowjetunion waren schon längst verloren und kauften ihre Rohre woanders.

Von 1996 bis 2003 war es eine sehr, sehr schwierige Zeit für das Stahlwerk. Auch die Zeit unter den wechselnden privaten Eigentümern war nicht einfach, weil das auch Interessenten abgehalten hat, Geld in neue Produktionsanlagen zu investieren. Wir hoffen, dass es in Zukunft nun endlich Aufwärts geht. Es hängt von der Gerichtsentscheidung ab.

Mein Lebensmotto ist, immer in Bewegung bleiben und arbeiten. Das einzige, was mir mit meinen 87 Jahren zu schaffen macht, sind meine Knie. Die wollen nicht mehr so richtig mitmachen. Ich arbeite immer noch von Montag bis Freitag. Sehen Sie hier, da kommt gerade ein fertiges Rohr. Auf meinem Computer kann ich über eine Webcam immer sehen, was gerade in den Hallen passiert. Manchmal sitze ich auch am Sonnabend vor dem Computer und schaue einfach nur zu, wie die Produktion läuft. Ich denke gar nicht daran, aufzuhören. Ich hätte schon mit 54 in Rente gehen können. Aber was sollte ich da? Zwar produzieren wir heute im Vergleich zu früher viel weniger, aber von der Qualität her können wir uns mit den restlichen Stahlwerken in Europa durchaus messen. Heute exportieren wir unsere Rohre nach Zentralasien.

Alexander Kutshukhidze, ehemaliger Gewerkschaftsführer

Alexander Kutshukhidze ist 82 Jahre alt und hat bis 2005 als Gewerkschaftsführer in Rustawi gearbeitet.

Am 11. Dezember 1951 habe ich im Werk angefangen zu arbeiten. Da war ich 21 Jahre alt. Ich hatte gerade zwei Jahre bei der Armee hinter mir. In der neuen Stadt Rustawi und im Stahlwerk zu arbeiten, war etwas ganz Besonderes, eine Auszeichnung für jeden Georgier.

Ich hatte keinen speziellen Beruf erlernt. Ich habe einfach gefragt, ob sie Arbeit für mich haben und sie haben mich eingestellt. Als erstes habe ich bei der Stahlrohrherstellung mitgeholfen. Nach zwei Wochen bin ich schon zum Gruppenleiter befördert worden. Die Ausbildung zum Metallarbeiter habe ich im Abendstudium nachgeholt. Später wurde ich stellvertretender Abteilungsleiter, habe in Moskau an der Hochschule für Gewerkschaft studiert und bin Gewerkschaftsführer geworden. Ich habe mit Stolz hier gearbeitet. Mein erstes Gehalt betrug 2000 Rubel. So viel Geld hatte ich vorher noch nie gesehen. Als Offizier bei der Armee hatte ich nur zwölf Rubel im Monat verdient.

Bevor hier mit der Produktion begonnen wurde, wurden 5.000 Georgier in die Ukraine geschickt, um den Beruf des Metallbauers zu erlernen. Die wurden bei uns „Goldene Jungs“ genannt, die ihr Handwerk wirklich verstanden. Über die Jahre kamen immer mehr Aufträge dazu, vor allem von sowjetischen Unternehmen. In den 1980er Jahren gab es Fünfjahrespläne, die wir auch immer eingehalten haben. Wir haben in Schichten gearbeitet. Manchmal haben wir die Fünfjahrespläne sogar in 3 ½ Jahren erfüllt. Es war wichtig, dass wir die geforderten Produktionsmengen erreichen, sonst hätten wir keine Prämien und weniger Gehalt bekommen. Manchmal haben wir Tag und Nacht gearbeitet.

Ende der 1980er Jahre wurden wir aufgefordert, gegen die kommunistische Regierung zu demonstrieren. In den Zeitungen und im Fernsehen wurden wir aufgerufen, die Arbeit niederzulegen, und uns an der Wirtschaftsblockade gegen die Sowjetunion zu beteiligen. Natürlich haben wir Stahlwerker auch demonstriert. Wir hofften auf eine bessere Zukunft und wir wollten die Unabhängigkeit von Georgien.

Obwohl wir dafür waren, war es für uns Arbeiter auch eine schwierige Situation. Besonders schwer war es Anfang der 1990er Jahre nach der Unabhängigkeit. Das Werk war meine Familie. Das hat mir sehr wehgetan, den Niedergang dieses einst großen Werkes mit anzusehen. Ich habe bis zum 14. März 2005 hier gearbeitet. Mehr als 50 Jahre. Es gab eine kleine Abschiedsfeier für uns Pensionäre. Wir haben eine Prämie von 900,00 Lari (900,00 Georgische Lari sind rund 400,00 Euro. Anm. d. Red.) und einen Farbfernseher erhalten.

Gela Bitsadze, Ingenieur

Der Ingenieur Gela Bitsadze ist 64 Jahre alt. Seit 1 ½ Jahren ist er wieder im Stahlwerk angestellt.

Ich habe im „Tuci-Hochofen-Werk“ 1974 als einfacher Ingenieur angefangen. Später wurde ich bis zum Abteilungsleiter befördert. Insgesamt haben hier 1.000 Menschen aus Koks und Eisenerz Roheisen hergestellt, das in anderen Hallen weiter zu Stahl verarbeitet wurde. Die Arbeit an den Hochöfen war anspruchsvoll und anstrengend. Wir hatten mit Feuer und Metall zu tun. Manchmal waren wir schweißgebadet. Das war etwas für uns junge Männer. Wenn wir total k.o. waren, gab es für uns extra Ruheräume, wo wir duschen und etwas schlafen konnten. Das Werk war wie eine Familie für mich. Wir haben viel zusammen unternommen und gefeiert.

Als Ende der 1980er Jahre auch hier zu Streiks aufgerufen wurde, haben wir dennoch weitergearbeitet. An den Hochöfen konnte man nicht einfach die Arbeit niederlegen. 1989 haben wir sogar unser bestes Produktionsergebnis in all den Jahrzenten erzielt. Ich habe mich nicht an den Streiks beteiligt, aber auch ich wollte, dass sich in Georgien etwas ändert. Als Zeichen der Solidarität hatten wir an einem Hochofen die georgische Nationalflagge gehisst. Wir hatten die Hoffnung, dass wir als souveräner georgischer Staat, eine eigene Stimme in der Staatengemeinschaft haben werden.

Als 1993 die Hochöfen dicht gemacht wurden, war das ein schwerer Schlag für uns alle. Meinen letzten Arbeitstag hatte ich am 7. März. Nach der Wirtschaftsblockade war aber eigentlich schon 1992 klar, dass die Hochöfen nicht mehr lange in Betrieb sein werden. Monat für Monat fuhren wir weiter die Produktion runter. Wir waren damals so naiv zu glauben, dass wir nach einem Jahr weitermachen können. Uns wurde gesagt, die Produktionsanlagen werden überholt, dann geht es weiter. Dem war aber nicht so. Erst kam der Abchasienkrieg, dann der erste Tschetschenienkrieg von 1994 bis 1996. Wir bekamen keine Rohstoffe mehr und konnten auch nichts mehr ins Ausland exportieren. Nach der Stilllegung der Hochöfen sind viele Menschen hier weggezogen. Es gab ja keine Arbeit mehr, für niemanden. Ich bin auch weggegangen. Ich habe seit dem in Indien, Algier und in Ungarn gearbeitet.

Auf dem Werksgelände ist es jetzt wie auf dem Friedhof, still und leer. Aber dieser Verlust von einst spielt für mich keine Rolle mehr. Ich blicke nach vorn. Wir haben jetzt die Hoffnung, dass es wieder los geht.

Alexander Kutshukhidze, 82 Jahre alt
Alexander Kutshukhidze, 82 Jahre

© Jana Demnitz

Vor 1 ½ Jahren bin ich zusammen mit ein paar anderen Kollegen wieder eingestellt worden. Der jetzige Eigentümer will die Hochöfen wieder in Betrieb nehmen. Wir arbeiten mit vier Firmen aus der Ukraine, aus Luxemburg, China und Russland an einem neuen, zukunftsfähigen Konzept. Aber zurzeit fehlt uns für die Modernisierung noch das Geld. Wir brauchen mehrere Millionen Euro.

Früher stand bei uns auf einer Wand der Spruch "Das Stahlwerk ist wie eine zweite Familie und das Gewissen der Fabrik ist deine Ehre". Je älter ich werde, desto tiefer ist dieser Spruch auch in meinem Bewusstsein verankert. Das Werk ist wirklich wie eine zweite Familie für mich. Ich glaube fest daran, dass wir hier in Rustawi eine positive Zukunft haben werden.

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