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Herz: Herzen hinter Gittern

Im Laufe eines Lebens können Blutbahnen durch Ablagerungen verstopfen - wer das zu spät bemerkt, dem droht ein INFARKT. Mit einem Katheter dringen Ärzte bis zur verengten Ader vor.

Schmerzen? Lassen auf sich warten. Elisabeth Meyer* liegt auf dem OP-Tisch, milde lächelnd erzählt sie von ihrem Mann, mit dem sie seit 53 Jahren verheiratet ist. Dabei steckt schon ein halber Meter Draht in ihrem Körper. »Ich merke nichts«, sagt Meyer. Und während aus einem kleinen Einstich in ihrer Leistengegend Blut auf das blaue OP-Tuch spritzt, grinst die 73-jährige Berlinerin, weil eine Krankenschwester einen Witz erzählt hat. Nur die Einstichstelle wurde betäubt. Elisabeth Meyer liegt im Herzkatheterlabor des Helios-Klinikums Emil von Behring. Den Weg nach Zehlendorf nimmt sie wegen Norbert Kokott in Kauf.

"Inzwischen gibt es Stents, die sich selbst auflösen" - Norbert Kokott, Kardiologe.
"Inzwischen gibt es Stents, die sich selbst auflösen" - Norbert Kokott, Kardiologe.

© Mike Wolff

Der Kardiologe behandelt Meyer seit Jahren. Seine Praxis hat der niedergelassene, also freiberufliche Herzspezialist gemeinsam mit einem Kollegen am Tempelhofer Damm. Doch Kokott braucht zusätzlich zur Behandlung seiner Patienten die Helios-Klinik in Zehlendorf, die über das notwendige Katheterlabor verfügt. Auch nahezu alle seiner anderen niedergelassenen Kollegen in Berlin, die Herzkatheter nutzen, arbeiten mit einem Krankenhaus zusammen. Ein Katheterlabor bietet Hochtechnologie zur Diagnose und Therapie von Durchblutungsstörungen, die ihren Preis hat: Mehr als eine halbe Million Euro kostet so ein komplett eingerichtetes Labor.

Die Krankenschwestern reichen dem schlanken, großen Kardiologen die Patientenakte von Elisabeth Meyer, die zu Kokott kam, weil sie schon nach wenigen Schritten außer Atem geriet. Viele ältere Menschen haben Probleme mit dem Herzen. Fettes Essen, Rauchen und wenig Bewegung können mit der Zeit dazu führen, dass sich die Arterien durch Ablagerungen verengen. Im Fachdeutsch: eine Kranzgefäßverkalkung droht. Nur 30 Prozent der Betroffenen sind Frauen, körpereigene Östrogene scheinen die Arterien zu schützen. Allerdings können auch die weiblichen Hormone Raucherinnen nicht immer vor einem Infarkt bewahren. Auch Frauen landen also auf Herzkatheterplätzen, auch sie bekommen Herzinfarkte, auch wenn diese sich nicht immer so zeigen, wie bei Männern (siehe Seite 32)

Patienten mit Herzbeschwerden sind häufig älter als 65 Jahre, also weniger belastbar als junge, gesunde Menschen. Eine aufwendige Operation ist für sie also eine Gefahr. Und generell gilt natürlich auch, dass man selbst bei jungen Menschen nicht wegen jedem Brustschmerz den Brustkorb öffnen kann, um nachzusehen, wie es dem Herzen geht. Wie also kommen Ärzte an ein Herz heran?

Mit einem Katheter! Das ist ein, zwei Millimeter dünner und knapp 1,10 Meter langer Plastikschlauch, der durch die Hauptschlagader von der Leistenbeuge bis ins Herz vorgeschoben wird. Manchmal nutzen die Ärzte auch einen Zugang über den Unterarm. Die Leistenbeuge wird betäubt, der Einstich tut kaum weh. Norbert Kokott erklärt Elisabeth Meyer am Bildschirm über dem OP-Tisch, was er in wenigen Minuten in ihren Blutgefäßen tun wird. Kokott hat eine fünf Kilo schwere, giftgrüne Bleischürze übergezogen und eine Schutzbrille aufgesetzt, die vor den Röntgenstrahlen schützen soll. Ein schwarzer Ring an seinem kleinen Finger misst die Strahlung, monatlich wird die Belastung ausgewertet. »Beim Röntgen ist man vorsichtiger geworden«, sagt Kokott.

Durch eine getönte Scheibe - das Glas ist mit Blei versetzt - blickt man auf den OP-Tisch. Dort steht Kokott und schaut auf die Bildschirme, steuert mit einem Fußpedal den Röntgenkopf, der um die Brust seiner Patientin herumbewegt werden kann. So verfolgt er den Weg des Katheterdrahtes im Körper. Über der Brust von Elisabeth Meyer steht der bewegliche Röntgenkopf des Katheterlabors. Er ist so groß wie ein kleines Metallbierfass aus dem Supermarkt. Damit wird der Arzt ihren Körper von allen Seiten durchleuchten. Über der Liege hängen sechs Monitore: Allein vier für die Röntgenbilder. Über den anderen flimmern Herzschlagkurven und blinken Zahlenreihen. Der Draht ist nun noch ein Stück tiefer in den Oberkörper geschoben worden. Ob sie Schmerzen habe? »Nein, noch nicht«, sagt Meyer. Erst als Kokott ein sogenanntes Kontrastmittel benutzt, um die Adern auf einem Monitor sichtbar zu machen, brennt es. Ein paar Mal lässt Norbert Kokott ihre Herzkranzgefäße auf dem Bildschirm kurz aufscheinen, denn das Kontrastmittel absorbiert die Röntgenstrahlen.

Auf dem grauen Monitor ist nun für Sekunden ein dunkles, zuckendes Geflecht aus Adern und Äderchen sichtbar, die den Herzmuskel umgeben. Das Herz selbst bleibt unsichtbar. Eine Ader zeigt eine kleine Verengung: »Da fließt weniger durch«, sagt Kokott routiniert.

Die Operation wird nicht nur digital übertragen, sondern auch auf den Festplatten der Krankenhauscomputer gespeichert. Die Telefonnummer des Reanimationsteams steht in roten Ziffern vor dem OP-Raum, aber schief geht selten etwas. Komplikationen treten nur bei jedem tausendsten Patienten auf. Doch wer sich falsch ernährt, raucht oder einfach Pech mit seinen Genen hat, landet manchmal zu spät beim Kardiologen. Einige warten zu lange, ignorieren Schmerzen im Brustkorb, Atemnot, Schwindel. Das wird wieder vorbeigehen, denken sie. Bis zum Herzinfarkt.

Bei einem Infarkt, also einem plötzlichen Verschluss eines oder mehrerer Herzkranzgefäße, erleiden die Patienten oft einen »Vernichtungsschmerz« und haben dabei Todesangst. Auch Luftnot, Schweißausbrüche, Übelkeit und Herzrhythmusstörungen treten auf. Dann entscheiden Minuten. Eine Stunde nach den ersten Symptomen ist ein Fünftel der Betroffenen bereits tot - eine miese Quote.

Es zählt also jede Minute. Nach dem Infarkt muss das verstopfte Herzkranzgefäß schnell wieder geweitet werden. Das geschieht mit einem kleinen schlanken Ballon an der Katheterspitze, der das Gefäß auseinanderdrückt. Damit es auf Dauer offen bleibt, pflanzen Ärzte im gleichen Arbeitsschritt auch eine Gefäßstütze in die Ader, einen sogenannten Stent. Ein Stent ist zwischen zwei und fünf Millimeter breit und bis zu vier Zentimeter lang. Das aus Edelstahl gefertigte Teil sieht flüchtig betrachtet aus wie eine Staubflocke. Der Nachteil: Da Stents zwischen die Innenwände der Arterie - also innerhalb menschlicher Blutgefäße - eingesetzt werden, können sich dicke Narben bilden.

Deshalb sind viele Stents mit Medikamenten beschichtet. Die Mittel geben sie an die Ader ab. Sie sollen verhindern, dass das Gewebe durch den Stent wächst und die Blutbahn wieder verengt. Solche Stents sind kaum ein Gramm schwer.

Aber auch hier gibt es Nachteile: Kritiker sagen, durch medikamentenbeschichtete Stents würden Thrombosen ausgelöst: Arzneibeschichtete Stents heilen langsamer als unbeschichtete in die Gefäßwand ein.

Trotzdem greifen deutsche Kardiologen in 90 Prozent der Fälle zu solchen Stents. Eine neue Entwicklung sind Gefäßstützen, die nach einiger Zeit vom Körper abgebaut werden, berichtet Kokott. Nach sechs bis zwölf Monaten lösten sie sich von selbst auf, denn dann haben sich die erkrankten Gefäße wieder regeneriert.

Schon vor einem möglichen Eingriff müssen sich Mediziner grundsätzlich entscheiden: Reichen durchblutungsfördernde Medikamente, gar Acetylsalicylsäure wie in handelsüblichem Aspirin? Oder muss man mit einem Kathetereinsatz intervenieren, so nennen Mediziner Eingriffe, bei denen der Körper nicht geöffnet wird. Oder soll man gar eine offene OP wagen, wie zum Beispiel die Implantation eines Bypasses, mit dem die Engstelle umgangen wird (siehe Seite 24).

Auch Kokott fragt sich das bei jeder Behandlung. Sind Stents tatsächlich nötig? Norbert Kokott hat Elisabeth Meyer keinen Stent eingesetzt. Es war nicht nötig.

Die ambulanten Spezialisten haben es schwer, sich gegen die Kliniken zu behaupten: Es gibt rund eine Handvoll kardiologische Praxen in Berlin, in denen die Ärzte Katheter einsetzen - etwas über 3000 Mal im Jahr. Und es gibt doppelt so viele Krankenhäuser, die diese Untersuchungen anbieten - und das jährlich zehn Mal so oft, wie die ambulanten Kollegen. Kliniken bekommen unter anderem wegen der obligatorischen Übernachtung des Patienten rund 1100 Euro von den Krankenkassen. Kokott und Berghöfer für einen ambulanten Patienten weniger als die Hälfte. Wird ein Stent eingesetzt, bezahlen die Kassen den Kliniken oft 2600 Euro, den niedergelassenen Ärzten etwa 1600 Euro. Aber das dürfte vor allem Krankenkassen und Gesundheitspolitiker interessieren. Elisabeth Meyer ist es egal: »Hauptsache, es tut nicht weh. Ambulant ist man aber schneller wieder zuhause.« * Name geändert

Mehr zum Thema lesen Sie im Magazin für Medizin und Gesundheit in Berlin "Tagesspiegel Gesund - Die besten Ärzte für Herz & Kreislauf".

Weitere Themen der Ausgabe: Sport. Welches Training tut ihrem Herz gut?; Stress kann krank machen - und trifft oft die Armen der Gesellschaft; Cholesterin. Über die guten und schlechten Seiten des Blutfetts; Navigator. Routenplaner zum gesunden Herzen; Bypass-OP. Eine Reportage aus dem Operationssaal; Herztransplantation. Das lange Warten auf den Spender; Lebensrettung. Wie ein Patient einen Herzanfall überlebte; Herzklappen, die man per Katheter durch die Adern schiebt; Herzkatheter. Ein Stent wird eingesetzt; Metabolisches Syndrom. Jugendliche lernen in der Adipositas-Ambulanz, nein zu sagen; Herzreha. Lernziel: Lebensstil radikal ändern; Telemedizin. Wenn der Arzt virtuell zum Hausbesuch kommt; Beininfarkt. Gefäßverschlüsse können gefährlich sein; Krampfadern. Erfolgreich therapieren; Thrombose. Ursachen und Behandlung; und außerdem in übersichtlichen Tabellen: Kliniken und Ärzte im Vergleich

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