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So unterschiedlich können plissierte Stoffe aussehen.

© Tsp/ Kitty Kleist-Heinrich

Plissees: In kunstvolle Falten gelegt

Liegefalten, Stehfalten, Tollfalten, Antikfalten: Die Kunst des Plissierens ist vielfältig und bis heute noch immer viel Handarbeit. Es gibt nur noch wenige Firmen, die das tun. Im Charlottenburger Westend ist so eine, sie wird geführt von Sigrid Gießmann – und die kam dazu wie die Jungfrau zum Kinde.

Von Heike Gläser

Die Altenburger Allee liegt in einem ruhigen Wohnviertel im Charlottenburger Westend. Wäre da nicht das rhythmische Rattern der großen Plisseemaschine, das aus dem Souterrain der Nummer 19 schallt. „Plisseebrennerei Gießmann“ heißt es auf einem Schild neben der Tür, die offen ist an diesem grauen Novembertag. Im Inneren steht Sigrid Gießmann mit Tochter Stefanie Biljesko an der Maschine, die fast den gesamten Raum ausfüllt, drumherum stapeln sich Berge von Papp- und Papierrollen. Die Atmosphäre erinnert eher an eine Druckerei. Die Anwohner seien sehr tolerant, sagt Sigrid Gießmann mit fester Stimme, um die Maschine zu übertönen, „wenn es den Nachbarn über mir nervt, setzt der einfach seinen Kopfhörer auf“.

Die Plisseemaschine ist ein Wunderwerk der Technik, über 23 Jahre alt, entwickelt von der Berliner Firma Rabowsky, die es heute längst nicht mehr gibt. Karl Rabowsky war seinerzeit einer der Ersten, der computergesteuerte Plisseemaschinen auf den Markt gebracht hat. „Diese hier ist aber noch eine alte analoge“, sagt Gießmann. Man kann die Temperatur von Hand einstellen und die Anzahl der Falten pro Minute. Das Prinzip ähnelt einer großen Mangel: Mit heißem Dampf wird der Stoff über eine Walze geführt. Damit der Stoff keinen Schaden nimmt, wird er von beiden Seiten durch Papier geschützt. Die eine Papierbahn dient der Führung, die andere dem Schutz. Es muss ein ganz spezielles Papier sein, das zum einen reißfest ist, zum anderen Dampf und Hitze aushält – „und das ist sehr teuer“, sagt Gießmann.

Was später daraus geschneidert wird, weiß sie nicht

Gerade laufen 67,5 Meter violettfarbener Stoff durch die Maschine mit einer Temperatur von 181 Grad Celsius. Gießmann hat die Maschine auf exakt 108 Falten pro Minute eingestellt. Das rhythmische Geräusch entsteht dadurch, dass der Stoff beim Durchlaufen der Walze vor- und zurückbewegt wird. Ist es nicht anstrengend, den ganzen Tag in diesem Lärm zu arbeiten? „Man gewöhnt sich daran“, sagt Stefanie Biljesko. „Ohrstöpsel können wir nicht verwenden, weil wir sonst das Telefon nicht mehr hören.“ Sie streicht mit der Handfläche über den papierumhüllten Stoff, der nach dem Plissiervorgang von der Maschine wieder aufgerollt wird. Der muss anschließend etwas abkühlen, damit die Falten dauerhaft bleiben. „Das ist wie beim Friseur“, sagt Gießmann, „wenn man sich Locken machen lässt.“

Der violette Stoff stammt von einem Kunden aus der Schweiz. Was später daraus geschneidert wird, wisse sie nicht, es muss sie auch gar nicht interessieren. Nach dem Plissieren ist ihre Arbeit getan. Die Stoffe, egal ob Polyester, Seide oder Kunstleder, ob Meterware oder bereits zugeschnittene Teile, kommen von Auftraggebern aus ganz Europa. Über 300 Bühnen, darunter die Opernhäuser in Berlin, die Dresdner Semperoper oder die Staatsopern in Hamburg und Stuttgart zählen zu ihren Kunden. Aber auch bei diversen Film- und TV-Produktionen oder bei der Haute Couture sind ihre Produkte gefragt. Modemarken wie Wunderkind, Kaviar Gauche, Nanna Kuckuck oder Mashiah, ein israelischer Designer, der sich in Berlin niedergelassen hat und seine Kollektionen ausschließlich in Berlin produziert, kommen zu ihr, wenn es darum geht, spezielle Wünsche bei der Stoffverarbeitung zu erfüllen.

Vieles ist mühevolle Handarbeit

Nur ein Teil der Fertigung geschieht maschinell, viele Stücke entstehen auch in mühevoller Handarbeit. Es gibt eine Vielzahl von Mustern, die mithilfe von handgefertigten Plisseepappen und Schablonen hergestellt werden. Auch hier wird – ähnlich wie in der Plisseemaschine – der Stoff zwischen zwei Pappschablonen gelegt. Diese werden in einem speziellen Dampfschrank plissiert, der in einem Nebenraum steht.

Die Kunst des Plissierens ist im wahrsten Sinne des Wortes vielfältig: Es gibt Liegefalten, Stehfalten, Tollfalten, Antikfalten, um nur einige Grundarten zu nennen. Sie unterscheiden sich in Struktur und Falttechnik. Es ist eine sehr alte Kunstfertigkeit. Schon die alten Ägypter hatten Kenntnis davon. Auf alten Reliefs sind gefaltete Lendenschurze zu sehen. „Diese wurden mit Stäbchen hergestellt und mit Mehlstärke fixiert, damit sie dauerhaft halten“, weiß Gießmann. Später im Mittelalter erlebte das Plissieren eine Hochzeit, wie man an den typischen Maria-Stewart-Kragen sehen kann. Die aufwendige Technik war von jeher kostenintensiv und deshalb früher vornehmlich den Wohlhabenden vorbehalten. Gießmann spricht mit Begeisterung über ihr Metier, ihre Kenntnisse über Stoffe, Papier und Falttechniken gibt sie gerne und regelmäßig auch an Studenten der Berliner Modeschulen weiter.

Kreativität verbunden mit einem Blick fürs Praktische

Bundesweit gibt es nur noch fünf namhafte Plisseebrennereien. Sigrid Gießmann zählt zu den wenigen, die sich auf Sonderanfertigungen spezialisiert hat. Es hat sich über die Jahre in der Modebranche herumgesprochen, dass sie auch Lösungen für besonders ­ausgefallene oder knifflige Wünsche parat hat. Dabei ist Sigrid Gießmann weder gelernte Schneiderin noch Modedesignerin, zumal „das Handwerk des Plissierens gar kein Lehrberuf ist“. Sie ist ausgebildete Arzthelferin. Eigentlich wollte sie nicht den Beruf wechseln. Ihr Mann führte die Plisseebrennerei sehr erfolgreich und drängte seine Frau, doch auch mit einzusteigen. Sie zögerte und zeigte wenig Ambitionen. Doch dann kam alles anders, wie so oft im Leben. „Es ist eine traurige Geschichte, über die ich eigentlich gar nicht mehr reden möchte“, sagt Gießmann. Und dann erzählt sie sie doch. Wenige Monate nach der Hochzeit verstarb ihr Mann ganz plötzlich – im Alter von nur 42 Jahren an einem Herzinfarkt. Dann stand sie da und konnte gar nicht anders, als das Traditionsunternehmen zu übernehmen.

Sie brachte sich alles autodidaktisch bei, schaffte die Rabowsky-Plisseemaschine an, ohne genau zu wissen, wie sie zu bedienen ist – und fuchste sich ein. Ihrer Experimentierfreude und kreativer Ader ist es zu verdanken, dass sie heute eine Spezialistin auf dem Gebiet des Plissierens geworden ist. Das ist nun über 20 Jahre her. Damals beschäftigte sie sieben Mitarbeiter, heute machen sie und ihre Tochter die Arbeit ganz allein.

Der Grund: Plissee ist aus der Mode gekommen. Dabei gebe es tolle Designer wie Issey Miyake. Sigrid Gießmann holt ein großformatiges Buch aus dem Regal. „Pleats Please“, ein wunderschöner Band mit beeindruckenden Entwürfen des japanischen Stardesigners. Sie hat sich von ihm inspirieren lassen – für ihre eigenen Entwürfe, denen sie sich immer dann widmet, wenn mal weniger Aufträge zu erledigen sind. „Ich liebe Stoffreste“, aus denen sie Schals, Scherpen und Stulpen kreiert. Oder sie fertigt kleine Einkaufstaschen in Karoplissee, die in leerem Zustand handflächengroß sind. Befüllt man die Tasche zum Beispiel mit einem Netz Kartoffeln, dehnt sie sich aus. Nach dem Gebrauch schnurrt sie wieder zusammen. Bei aller Kreativität hat sie immer auch einen Blick fürs Praktische. In den Anfängen hat sie beispielsweise für große Automarken das Innenleben von Airbags hergestellt, denn auch diese bestehen aus nichts anderem als gefaltetem Stoff.

Dieses Stück erschien zuerst im Wirtschaftsmagazin "Köpfe" aus dem Tagesspiegel-Verlag, das Sie hier bekommen können: Tagesspiegel Köpfe bestellen

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