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Grenzgang: Jubel mit Rotkäppchen

Der Abend begann ruhig. Mit Krimi-Lektüre. Aber als Tagesspiegel-Leser Ditmar Danelius die Nachricht von der Maueröffnung hörte, wurde es eine unvergessliche Nacht, die alles andere als ruhig war.

November. Kein schöner Monat. Schmuddelwetter. Die letzten goldenen Herbsttage sind vorbei. Novemberstürme haben die Blätter von den Bäumen gefegt. Bizarr wirken draußen beim Blick aus dem Fenster die Bäume im Schein der Straßenlaternen. Die Stadt ist grau. - Es ist ein Abend wie viele andere. Ich liege auf dem Sofa und las. Ein Krimi von -ky. Verdammt spannend. Im Hintergrund leise Musik vom West-Berliner Privatsender 100,6.

Immer wieder verstummte die Musik. Stattdessen Rauschen, Knacken, Knistern. Das nervte. Scheiße, dachte ich, was soll denn das?! Die Stasi störte den Sender seit ein paar Tagen. Privatsender – war wohl eine ganz besonders schlimmer Ausgeburt der westlichen Medienwelt und der Stasi ein Dorn im freudlosen Auge des Überwachungsstaats. Ich stehe auf, gehe zum Radio, will es ausschalten. Den Finger schon am Knopf, da klappt der Empfang wieder. Ich drücke trotzdem, gehe zum Fernseher, schalte ihn ein. Die Tagesthemen müssten angefangen haben. Guck ich jeden Abend. Es läuft aber ein Fußballspiel. 1. FC-Kaiserslautern gegen 1. FC Köln. Verlängerung, denke ich, Nachrichten werden gleich kommen. Ich gehe in die Küche, gucke noch mal in den Kühlschrank. Bekomme Appetit und mach mir was zu Essen. Mit der Schnitte in der Hand gehe ich ins Wohnzimmer. Die Tagesthemen laufen. Der Moderator verkündet: Die DDR hat mitgeteilt, dass ihre Grenzen ab sofort für jedermann geöffnet sind. Die Tore stehen weit offen.

Plötzlich bin ich hellwach. Aufgekratzt, wie nach zehn Tassen starken Mokka.  Zur Grenze, denke ich. Bornholmer Straße. Sind nur vier U-Bahn-Stationen! Blitzschnell ziehe ich mich an. Ziehe im Vorübergehen noch das Schubfach auf, wo mein Geld liegt. Stecke mir 200 Ost-Mark ein. Werd’ ich umtauschen. Am Bahnhof Zoo oder irgendwo. Denn soviel weiß ich: Ohne Geld macht der Westen keinen Spaß.  Mit der U-Bahn fahre ich vom Alex, wo ich damals wohnte, zur Schönhauser Allee. Das Abteil ist für den trüben Tag an einem unwirtlichen Novemberabend ungewöhnlich voll. Und die Menschen sind  nicht die, die ich sonst kenne. Ihre Gesichter sind wie verwandelt. Keine Alltagsgesichter - sorgenvoll, gleichgültig, in sich gekehrt. Stumm. Im Gegenteil. Es wird geplaudert, gelacht, neu einsteigenden Fahrgesten zu gewunken. Als würden sich alle von irgendwo her kennen. Und alle zu einer aufregenden, Riesenparty unterwegs sein, auf die man sich so lange schon gefreut hat.

Der Zug mit den aufgekratzten Fahrgästen fährt im Bahnhof Schönhauser Allee ein. Fast alle steigen aus. Und als ich auf die Ost-Berliner Einkaufsstraße komme, strömen schon Hunderte in Richtung Bornholmer Strasse. Das gelbe Licht der Peitschenlaternen gibt der Szenerie etwas Diabolisches. Die für diese Stunde ungewöhnlich belebte Straße kommt mir trotzdem vor, wie von unerwartet ausbrechender Lebensfreude der vielen Passanten plötzlich lebendig geworden. So viele Menschen sind sonst nur am Tage nach einer absolvierten SED-Feierlichkeit, Aufmärschen wie am Tag der Republik oder am 1. Mai, unterwegs. Ich kann es nicht fassen! Die bald nächtliche Stunde. Die fröhlichen Menschen. Viele haben Wein-  oder Sektflaschen in der Hand. Trinken, lachen. Böller blitzen auf, und der Knall wird mit aufflammendem Jubel der Menschen eskortiert. Sylvesterstimmung, denke ich. Ist wie um Mitternacht, wenn das neue Jahr begrüßt wird. Und ich wusste damals noch nicht: Es wird wirklich etwas ganz Neues begrüßt. Ein neues Leben. Ein nie gekanntes Leben. Das größte Abenteuer, das es für Menschen gibt – ein Leben in Freiheit!   Der lose Zug erreicht die Bornholmer Straße. An der Ecke ein Lokal. Die Fenster sind mattgelb erleuchtet. Du brauchst was zu trinken, denke ich. Schampus! Hoffentlich hat der Laden noch auf. Ich drücke die Klinke, tatsächlich, die Tür öffnet sich. Die Kneipe ist verqualmt. Mit dösigen Gesichtern sitzen ein paar Stammgäste in der Destille. Knorrige Gesprächsfetzen erfüllen den trüben Raum. Am Tresen die propere rothaarige Wirtin. Gelangweilt schaut sie ins Leere. Den neuen Gast beachtet sie nicht. Ich fixiere das braune Holzregal hinterm Tresen. Sehe Rotkäppchen Sekt. Zeige auf die Flasche. Rotkäppchen! Nehm’ ich eine. Lege 10 Ost-Mark auf den nassen Tresen. Die Wirtin schaut mich an, nimmt die Flasche aus dem Regal und stellt sie auf den Tresen. Ich schnapp sie mir, sie will mir Wechselgeld rausgeben. Stimmt so, sage ich. Vor Aufregung. Ich hab keine Zeit, mir das Geld herausgeben zu lassen. Und die Kneipenstimmung gefällt mir nicht. Ich will raus. Raus auf die Strasse zu den anderen. Den lachenden Gesichtern. Mit ihnen trinken, anstoßen, zur Grenze laufen.

Aus allen Richtungen kommen Menschen. Die Bornholmer Strasse ist voller Menschen, so viele habe ich hier noch nie gesehen. Umso näher wir der Grenze kommen, umso mehr Menschen. Bis wir in die Menschenmenge vor der Grenze eintauchen. Jetzt schiebt sich die riesige Menschentraube nur langsam vorwärts. Schritt für Schritt. Und kommt immer wieder ins Stocken. Stimmengewirr. Lachen. Knallende Sektkorken. Flaschen klirren dumpf aneinander. Die Eisenverstrebungen der Bornholmer Brücke wölben sich links und rechts wie drohend vor uns.

Die Grenze naht, die Mauer. Und rundum Partystimmung. Die ersten Grenzer sind zu sehen. Beleidigte Gesichter. Stumm schauen sie der Szenerie zu. Die Kalaschnikow auf dem Rücken. Wie neidisch schauen sie dem Treiben zu, an dem sie nicht teilhaben. Verkrampfte Verständnislosigkeit. Keine Arroganz. Kein Machtgehabe. Leere, gelähmte Gesichter. Jungengesichter, denen man ihr Spielzeug verboten hat. Soldaten ohne Führung, Offiziere ohne Befehlsgewalt. Machtlos. Die Menge strömt an ihnen vorbei.

Vergessen all die Angst, der Schrecken. Vergessen die Macht der Mächtigen. Plötzlich in sich zusammengesackt. Lächerlich, erbärmlich. Im trüben Schwarzgrau der Novembernacht. Als gäbe es die Mauer nicht, die Todesschüsse. Die Minen, die bellenden Hundestaffeln.  – Alles nur für Momente? Alles nur ein kurzer Traum? Wacht die Macht wieder auf? Die Partei. Die Stasi. Die Grenzer. Der SED-Staat. Egal. Das ist unser Tag. Unsere Nacht. – Weiter schiebt sich die Menge voran. Dicht gedrängt. Lachende Menschen. Sehr stille Menschen unter ihnen. Und viele haben Tränen in den Augen. Tränen der Freude. Über das plötzlich Unerwartete. Tränen der Trauer bei den Älteren über all die verlorenen Jahre, das lange Warten. Und alles hat sich doch schon vorbereitet. Der Tag der Freiheit. Musste er nicht kommen?! Die Massenflucht über Ungarn. Der mächtige Jubelschrei in der Prager Botschaft, als Genscher den Menschen die Botschaft brachte, dass sie in den Westen ausreisen können. Die Montagsdemonstrationen in Leipzig. Die große Demonstration von fast einer Million Berliner am 4. November auf dem Alexanderplatz.

Jetzt sind wir mitten auf der Brücke. Links und rechts die Mauer. Der Betonwall. Stacheldraht. Und immer noch stumm dastehenden Grenzer. Nicht mal die Personalausweise werden kontrolliert. Plötzlich ein Schrei. Wir sind drüben! Im Westen! Wir haben es geschafft. Der Ruf der Freiheit wird aufgenommen von der Menge. Wiederholt sich hundertfach. Geht über in ein Lachen, Singen, Jubeln. Und zwischen der Menge die knatternden Trabis und Wartburgs. - Die ersten Häuser werden sichtbar. Die Fenster weit geöffnet, winken die Menschen ihren Brüdern und Schwestern zu. Ihren  Landsleuten. Berliner wie sie. Winken sie herbei. Aus den Parterre-Wohnungen wird Bier und Schnaps rausgereicht. Zigarettenschachteln werden entgegengestreckt. Es wird angestoßen, es wird gelacht, Hände werden geschüttelt. Brüderlich und schwesterlich. Der erste Händedruck der Freiheit.    Der Menschenzug durch die Nacht hat sich längst verbreitert, heraus gequollen aus der Enge des Grenzübergangs. Alles sieht hier so anders aus. Die Häuser, die Straßen, die Geschäfte. Heller, schöner, gepflegter. Bunt und vielfältig. Lebenspraller. Kneif mich, sagt neben mir eine junge Frau zu ihrem Freund. Kneif mich, damit ich weiß, dass ich wach bin. Da bin. Dass ich es bin. Und kein Traum. Der junge Mann kneift sie sanft in die Wange. Dann umarmt sich das Liebespaar. Küsst sich. Und als ich mich noch mal umdrehe, sehe ich, wie der junge Mann sein Mädchen mit beiden Händen wie in den Himmel hebt.

Wir erreichen den U-Bahnhof Osloer Straße. Die Menge ergießt sich dicht gedrängt auf dem Bahnhof. Immer wieder Jubelschreie. Die, als der Zug einfährt, anschwillen  - zu einem einzigem lang anhaltenden Begrüßungsjubel. Dicht gedrängt stehen die Menschen in den Abteilen. Gesprächsfetzen, Lachen, Scherze – eine nächtliche überdimensionale, völlig sorglose, fast hysterische Fahrt ins Blaue. Der Zug fährt am Bahnhof Zoo ein. Die Menschen drängen heraus. Als könne keiner  das große Erlebnis erwarten. Als wäre jede Sekunde kostbar. Als wolle jeder zuerst ans Licht. Und dann kam es: das Licht. Gleißend. Blendend. Als wäre plötzlich die Nacht zum Tage geworden. Die hell erleuchteten Schaufenster, die Neonreklame. Der Trubel. Die Menschen. Viele gelöst, gelassen flanierend. Alles ist bunter, schöner, heller, freundlicher. Alles riecht besser. Das Benzin der Autos. Die Straße, der Duft nach gutem Essen aus den Restaurants. Die Luft. Als wäre die ganze Stadt plötzlich parfümiert.

Ein riesiges, nicht abschwellen wollendes Hupkonzert der West-Berliner Autofahrer empfängt uns auf dem Ku’damm. Als wäre die ganze Stadt zu einer riesigen Feier geladen. Als wären Tausende und Abertausende auf einmal im Freudentaumel des Glücks. – Ich stehe vor einem Restaurant Kurfürstendamm Ecke Joachimstaler Strasse. Joe am Ku’damm, lese ich. - Fühle meine Geldscheine in der Hosentasche. Musst du doch umtauschen, denke ich. Bloß wo?!

Da nimmt mich ein ausgelassener Trupp junger Menschen in die Mitte, spült mich mit ihnen durch die offne Eingangstür. Musik, Stimmengewirr erfüllt den großen Raum. Dicht gedrängt stehen die Menschen am Tresen. Jeder Sitzplatz ist besetzt. Plötzlich klopft mir jemand auf die Schulter, drückt mir ein großes Glas Bier in die Hand. Im bayrischen Dialekt sagt der junge Mann: Komm, lass uns anstoßen. Meine Unsicherheit löst sich. Wir prosten uns zu. Bist Berliner, sagt der junge Mann. Ja, sage ich, aus Mitte. Ach, aus Ost-Berlin. Ja. Na, dann wollen wir mal ein paar frisch gezapfte Maß nehmen.

Als wäre es nie anders gewesen, stehe ich mitten in West-Berlin am Tresen, trinke Bier. Rede mit wildfremden Menschen, die mir plötzlich so nah sind, proste ihnen zu, lache, erzähle.  An diesem Abend, in dieser Nacht, ist es mir, als würde alles von mir abfallen. Die Unsicherheit, das Ungewisse angesichts des Unbekannten, des fremden Lebens im anderen Teil der Stadt, als wäre West-Berlin ein Fest des Lebens. - Mein Geld brauche ich in dieser Nacht nicht mehr umzutauschen. Mal werde ich eingeladen, mal fließt Freibier. Ich brauche nur stolz zu sagen: Ich bin Ost-Berliner…

Ditmar Danelius

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