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Kommunalwahlen 1989: Zum ersten Mal läuft in Neuglobsow nichts nach Plan

Vor 20 Jahren fanden in der DDR Kommunalwahlen statt. Monika Zimmermann berichtete damals als Reporterin darüber. Später wurde sie Chefredakteurin des Tagesspiegels. Heute ist sie Regierungssprecherin in Sachsen-Anhalt und legte gerade ihren Reportagenband "Honecker bläst zur Hasenjagd" vor.

Manchmal war auch das DDR-Außenministerium für eine Überraschung gut. Als ich Anfang 1989 den Antrag stellte, zur Wahlberichterstattung nach Neuglobsow fahren zu dürfen, hatte ich mit einer glatten Absage gerechnet. Es kam anders. Die Abteilung für journalistische Beziehungen im Außenministerium, die für mich als DDR-Korrespondentin aus der Bundesrepublik zuständig war, gab grünes Licht. So konnte ich als einzige Journalistin am 7. Mai 1989 in Neuglobsow die Kommunalwahl beobachten und miterleben, wie in einem Land gewählt wurde, in dem die Bürger eigentlich keine Wahl hatten.

Mein Artikel erschien am Tag nach der Wahl in der „Frankfurter Allgemeinen Zeitung“, die in der DDR naturgemäß nicht zu lesen war. „Als diese Artikel veröffentlicht wurden, galt ich als noch nicht mündig genug, derartige Beiträge und derartigen Zeitungen überhaupt lesen zu dürfen“, stellte Wolfgang Böhmer, der ostdeutsche Ministerpräsident, in Leipzig aus Anlass der Vorstellung des Buches mit meinen damaligen Reportagen nüchtern fest. Es sei ja ein ganz merkwürdiges Phänomen, so Böhmer, „dass wir Ostdeutsche uns jetzt gelegentlich sogar untereinander darüber streiten, woran und wie wir uns erinnern“. Insofern habe er mit Erstaunen feststellen dürfen, dass „diese Reportagen auch denjenigen dabei helfen, dieses Land kennen zu lernen, die es über die ganze Zeit miterlebt haben“.

Heute, 20 Jahre danach, stellen sich noch ganz andere Fragen: Ist Wahlfälschung auch dann Wahlfälschung, wenn sie auf damals herrschendem Recht und Gesetz beruhte? Die hier abgedruckte Reportage aus Neuglobsow soll zweierlei bieten: einen Rückblick auf einen besonders skurrilen DDR-Kommunal-Wahltag in der brandenburgischen Provinz und einen etwas anderen Beitrag zur Debatte „War die DDR ein Unrechtsstaat?“. Eine Frage, die offenbar gar nicht so einfach zu beantworten ist – wie die aktuellen Auseinandersetzungen dieser Tage zeigen. Viele ehemalige DDR-Bürger reagieren heutzutage empfindlich, wenn sie das Gefühl haben, dass ihre Lebenserfahrungen nichts zählen und die DDR auf Diktatur, Stasi und SED-Unrecht reduziert wird. Und diejenigen, die unter dem Regime gelitten haben, finden genau jene Haltung unerträglich, die all das ausblendet und von den „sozialen Errungenschaften“ Vollbeschäftigung, Kitas, Schulspeisung und Ferien für alle schwadroniert.

Die Reportage aus Neuglobsow jedenfalls wird den Leser gleichermaßen schmunzelnd und kopfschüttelnd zurücklassen, was – wie ich aus ersten Reaktionen auf das Buch feststellen kann – sowohl für West- wie Ostdeutsche gilt. Auch letztere finden in den Beschreibungen des DDR-Innenlebens offenbar manches, was ihre Erfahrungen wie ihre Fantasie im Hinblick auf die Vorgänge im eigenen, inzwischen untergegangenen Land übersteigt.

Dem Wahlvorsteher Wolfgang Glatki steht der Schweiß auf der Stirn. So etwas hat er noch nicht erlebt: Er hat zum ersten Mal die Aufgabe, für den ordnungsgemäßen Ablauf der Kommunalwahl und die korrekte Auszählung der Stimmen in seinem Heimatort Neuglobsow zu sorgen. Und zum ersten Mal läuft in Neuglobsow gar nichts nach Plan. Doch dafür kann Glatki, der parteilos ist und keine politische Funktion bekleidet, am wenigsten. Aber die Neuglobsower spielen verrückt und proben den Aufstand. So ist der Stapel mit den Stimmzetteln, auf denen ein oder auch mehrere Kandidaten gestrichen wurden, am Ende fast genauso hoch wie der Stapel mit jenen blütenweißen Stimmzetteln, die einfach zusammengefaltet und unbesehen in die Wahlurne geworfen wurden.

Doch Neuglobsow, wunderschön am Stechlin-See in der Mark Brandenburg gelegen, hatte schon vor der Wahl auf sich aufmerksam gemacht. Dieser kleine Ort, in dem Fontane einst auf der Durchreise weilte, hatte sich die Freiheit genommen, den Wahlvorschlag der Nationalen Front abzulehnen und ihm erst beim zweiten Anlauf, nachdem drei Kandidaten, darunter der SED-Bürgermeister, ausgetauscht worden waren, zuzustimmen. Das hat es in der DDR noch nicht gegeben. Nach diesem Vorspiel mochte im Ort niemand voraussagen, wie die Wahl hier ausgehen würde. In Neuglobsow schien alles möglich. Und die selbstbewussten Neuglobsower mochten sich auch nicht in die Karten schauen lassen: Fast alle, die am Sonntag in das Wahllokal kamen, das im Gemeindehaus eingerichtet war, ließen es sich nicht nehmen, die Wahlkabine zu benutzen. Manche hatten den Stift zum Ausstreichen ganz offen in der Hand.

Wolfgang Glatki ließ sie alle gewähren und schickte zwei Helfer mit der sogenannten fliegenden Wahlurne zu Alten und Kranken, um dort die Stimmen jener abzuholen, die nicht selbst ins Wahllokal kommen konnten. Da es in der DDR aus verständlichen Gründen keine Briefwahl gibt, muss jeder, der am Wahltag verhindert ist, entweder im Verlaufe von vier Wochen vorher in einem Sonderwahllokal seine Stimme abgeben oder aber gewärtig sein, dass die fliegende Urne am Wahltag zu ihm ins Haus kommt – ob er dies ausdrücklich wünscht oder nicht. Schon die Wahlberechtigungskarten werden jedem einzelnen Bürger persönlich, zumeist sogar von einem ihm wohlbekannten Nachbarn, ausgehändigt, so dass die Hemmschwelle zum demonstrativen Wahlverzicht hoch ist. Wer nicht wählt, muss hinterher mit Repressalien rechnen. So ist es nicht verwunderlich, wenn die Wahlbeteiligung, wie dieses Mal, bei 98,77 Prozent liegt.

Die Jastimmen sind in Neuglobsow schnell gezählt. 158 Neuglobsower haben dem Wahlvorschlag der Nationalen Front uneingeschränkt ihre Zustimmung erteilt. Das ist nicht viel, wenn man bedenkt, dass Neuglobsow klein ist und nur insgesamt 346 stimmberechtigte Bürger hat. Davon sind neun dieses Mal gar nicht zur Wahl erschienen. Das sind zwei mehr als bei der letzten Kommunalwahl. Von 337 Wählern haben also strenggenommen nur 158 mit einem klaren Ja gestimmt. Wenn Wahlvorsteher Wolfgang Glatki am Ende der Auszählung dennoch verkünden kann, dass der Wahlvorschlag der Nationalen Front mit 334 zu 4 Stimmen angenommen wurde, Neuglobsow also mit einem Wahlergebnis von rund 99 Prozent Zustimmung in die Annalen dieser Kommunalwahl eingehen wird, zeigt sich, dass das offizielle Wahlergebnis wenig von dem widerspiegelt, was die Wähler durch die Wahl bekunden.

Das amtliche Wahlergebnis wird eher beeinflusst durch eine ausgeklügelte Wahlordnung, die dazu führt, dass selbst ablehnende Stimmen am Ende den zustimmenden zugeschlagen werden. Wahlvorsteher Wolfgang Glatki hat durchaus richtig gezählt, einmal abgesehen davon, dass sich schließlich eine Stimme mehr in der Wahlurne fand, als dort eigentlich der Statistik nach hätte sein dürfen – ein Geheimnis, das sich am Wahlabend nicht aufklären ließ. Doch die Auszählung fand insgesamt öffentlich statt, und über dreißig Neuglobsower schauten dem Wahlvorsteher und seinen Helfern auf die Finger. Für Schmu war da wenig Gelegenheit. Schmu ist auch gar nicht nötig, um Wahlsiege von beinahe hundert Prozent in der DDR zur Normalität zu machen.

Das Geheimnis liegt in der Wertung der Neinstimmen. Es ist für einen Wähler in der DDR gar nicht so leicht, seine Ablehnung auf dem Stimmzettel auszudrücken. Ein wütendes Kreuz über den gesamten Zettel mit dem Kandidatenvorschlag wird als Jastimme gewertet. Nur jene Kandidatennamen, die zufällig direkt durchkreuzt sind, gelten als gestrichen. Ähnlich wird mit Stimmzetteln verfahren, auf denen einer oder mehrere Kandidaten waagerecht durchgestrichen sind, wobei auch hier darauf zu achten ist, dass dieser Strich nicht zu weit nach unten gerät, denn dann gilt der Kandidat als unterstrichen und damit ausdrücklich als gewählt. Insgesamt gelten auch all diese Zettel als Jastimmen, wenn nicht sämtliche Kandidaten einzeln gestrichen wurden.

Wer in Neuglobsow mit Nein stimmen wollte, musste also alle vierundzwanzig Kandidaten der Gemeindevertretung fein säuberlich einzeln durchstreichen. In Neuglobsow haben es nur vier Wähler geschafft, ihren Wahlzettel auch vor den kritischen Augen des Wahlvorstehers als Neinstimme durchzubringen. Einige andere, eindeutig ablehnende Zettel wurden dagegen den Jastimmen zugeschlagen, weil sie, gemäß der Wahlordnung, einige Formfehler aufwiesen. Auf vielen anderen Zetteln aber waren beinahe alle Kandidatennamen gestrichen. Überhaupt kam in Neuglobsow kein Kandidat ohne Gegenstimme durch. Zwei Kandidaten gar waren von 118 beziehungsweise 114 Wählern aus der Stimmliste gestrichen worden. Doch das alles half nichts. Da ein Kandidat erst dann als nicht gewählt gilt, wenn ihm fünfzig Prozent der Stimmen verweigert werden, waren auch sie gewählt. So konnte Wolfgang Glatki verkünden, dass der Wahlvorschlag der Nationalen Front in Neuglobsow mit großer Mehrheit angenommen sei.

Mit großer Mehrheit? Sämtliche Neuglobsower Bürger jedenfalls, die bei der Stimmauszählung dabei waren und miterlebten, wie das Zählen der gestrichenen Kandidaten kein Ende nehmen wollte und das Ergebnis dennoch überwältigend positiv ausfiel, wird jenes Unbehagen, das in Neuglobsow offenbar schon seit längerem angesichts der politischen Verhältnisse schwelt, noch mehr beschlichen haben. Die, die gewählt wurden, obwohl beinahe die Hälfte der Mitbürger ihnen das Vertrauen ausdrücklich verweigert hat, können sich eigentlich auch nicht so recht als gewählte Vertreter ihrer Gemeinde fühlen. Auch wenn Neuglobsow nun, statt des offenbar missliebigen alten Bürgermeisters, eine neue, junge Bürgermeisterin hat, die ebenfalls der SED angehört, so ist wohl vieles von dem, was die Bürger derartig erbost hat, dass sie beinahe heldenhaft gegen die politische Führung aufmuckten, durch die Wahl nicht bereinigt worden.

Keiner in Neuglobsow will an diesem Wahltag mit der Sprache herausrücken, was sie eigentlich dazu gebracht hat, drei Kandidaten im Voraus von der Liste zu kippen und anderen jetzt einen harschen Denkzettel zu verpassen. Überhaupt wird man in Neuglobsow den Eindruck nicht los, als handle es sich hier gar nicht in erster Linie um eine politische Missfallenskundgebung, sondern um einen Bürgerprotest gegen zu große Schlamperei und Unordnung und gegen allzu unmoralische Lebensweise. Denn Neuglobsow ist ein ausgesprochen herausgeputzter bürgerlicher, um nicht zu sagen, kleinbürgerlicher Ort. Längst wird das Leben in Neuglobsow nicht mehr von den reichen Unternehmern und wohlhabenden Künstlern bestimmt, die vor dem Krieg hier einmal ihre Ferienhäuser hatten, sondern vom Feriendienst des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes (FDGB).

Die 513 Einwohner von Neuglobsow leben inzwischen gut von den 14 000 Urlaubsgästen im Jahr, die nicht nur wegen des Fontane- Hauses, sondern vor allem wegen der herrlichen Landschaft des Naturschutzgebietes kommen. Bei der Beliebtheit des Ortes lässt sich denken, dass die Baulandreserven leicht aufgebraucht wären, würde man damit nicht haushalten und eher an die eigenen Kinder als an vermeintlich einflussreiche Fremde denken. Darüber hat es offenbar Streit im Ort gegeben, auch über die ungerechte Erteilung von Baugenehmigungen. Darüber hinaus wirft man manchem Gemeindevertreter seinen Lebenswandel vor. „Er ist nun mal ein Frauenheld“, mehr will auch Dieter Nespethal, der vor fünfzig Jahren in Neuglobsow geboren wurde und seit zwanzig Jahren Gemeindevertreter und SED-Mitglied ist, nicht über seinen Parteifreund, den ehemaligen Bürgermeister sagen, an dessen Person sich hauptsächlich der Volkszorn entzündete.

Monika Zimmermann

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