zum Hauptinhalt

Lange Freundschaft: Aufbruch in ein neues Leben

Als unser Lübecker Leser Arnold von Jagow von der Nachricht des Mauerfalls überrascht wurde, bot er einer aus der DDR stammenden Familie sein Haus als Unterkunft an. Daraus entstand ein tiefe Freundschaft, die bis heute andauert.

An diesem denkwürdigen Tag schwitzte ich in meiner kleinen Kellersauna in Lübeck.Wir hatten uns lange Jahre daran gewöhnt, direkt an der "Zonengrenze" zu leben. Dass sich dort etwas ändern würde, fiel uns im Traum nicht ein.Natürlich hatten wir die Unruhen in Leipzig verfolgt, aber der Gedanke und der Glaube an eine Grenzöffnung mit allen ihren möglichen Folgen lagen uns so fern wie Lübeck von China. Meine Frau hörte Radio.Plötzlich stürmte sie die Treppe herunter, riss die Tür auf: "Die Grenze ist auf, Lübeck ist voller Trabis, die Leute von drüben suchen Unterkünfte, die Straßen sind verstopft, sie können nicht zurück, wir müssen helfen!"

So schnell bin ich noch nie in die Klamotten gekommen. Anruf im Rathaus. Wir haben Platz im Reihenhaus, wir können eine Familie mit Kindern unterbringen!

Nach einer Viertelstunde Rückruf vom Rathaus. Eine Familie , Eltern und zwei Kinder aus Schwerin, suchen ein Quartier, Abholung auf dem Schrangen.

"Ich bin in 10 Minuten da" - das ist die Zeit, die ich normalerweise brauche, um mit dem Auto in die Innenstadt zu kommen.

Ich traue meinen Augen nicht: Die Straßen sind voll, verstopft mit stinkenden Trabis und Wartburgs, auf den Gehsteigen links und rechts, geparkt in jeder Lücke, noch drei km vom Zentrum entfernt.Das Durchkommen ist fast nicht möglich.

Nach 40 Minuten im Rathhaus angekommen, sagt man mir, die vier hätten schon fast die Hoffnung aufgegeben,abgeholt zu werden.Ich mache mich auf die Suche. Der Schrangen ist voller Menschen.Ganz hinten in der Ecke ein Elternpaar, zwei noch kleine Kinder, ängstlich an Pappa und Mama gedrückt.Ich frage: Sind Sie Familie Weber? Ich entschuldige mich für das Zuspätkommen, habe die Lage falsch eingeschätzt, allgemeine Verstopfung. So - und nun ab nach Hause. Auch das dauerte, aber schließlich haben wir es geschafft.Wir zeigen ihnen die Zimmer."Es tut uns leid,aber wir sind heute Abend zu einer runden Geburtstagsfeier eingeladen. Da müssen wir hin.Unsere Töchter helfen Ihnen. Sie wissen Bescheid und können alle Fragen beantworten.Den Kühlschrank finden Sie in der Küche. Fühlen Sie sich zu Hause. Tschüss bis morgen früh." Mit zweifelnden Augen sehen sie uns an.

Das war der Beginn einer Freundschaft, die bis heute hält. Wir sind in den folgenden Jahren zusammengewachsen. Jedes Jahr um den 9. November herum feiern wir die Wiedervereinigung, umschichtig - mal bei uns, dann bei ihnen.

"Gernot, wir schlafen bei unserem Klassenfeind", hat Hannelore in der ersten Nacht in Lübeck gesagt."Die kennen uns doch gar nicht". Was dann in den folgenden Wochen mit uns geschah, ist unvergesslich.Sie besuchten uns oft. Sie brachten Benzin in Kanistern mit - es war "drüben" erheblich billiger als bei uns - wir bezahlten das, was wir hier auch zu bezahlen hatten. Das waren ihre ersten D-Mark, die sie ohne Gesichtsverlust erhielten.Wiederaufnahme der jahrelang unterbrochenen fruchtbaren Handelsbeziehung zwischen Lübeck und Mecklenburg-Vorpommern.... 

Begrüßungsgeld, Obst- und Gemüseläden, Baumärkte, Kaufhäuser. Dem Überfluß standen sie lange hilflos gegenüber.Vorsichtig tastend und mit zunehmender Herzlichkeit haben wir uns angenähert. Sie luden uns nach Schwerin in die Oper ein. Es gab Carmen. Eine hervorragende Aufführung mit wunderbaren Sängern. Als ich meinem alten Vater von dem Opernbesuch in Schwerin berichtete, fragte er, was wir denn gesehen hätten. "Ach, in Schwerin! Das war dort in den zwanziger Jahren mein erstes Theatererlebnis,es gab Carmen!" 

Voller Stolz zeigten sie uns ihre Wohnung in einem Altbau mit großen Aschecontainern vor der Tür. Die hatten schon oft gebrannt.Tatsächlich war es die Hälfte der ursprünglich großen Wohnung. Die Küche hatte Gernot geteilt und ein Bad mit Toilette eingebaut.Den Haken als Türverschluss hatte er selbst gebaut. Passendes war nicht zu kriegen.Die Kinder waren früh gekommen. Das half, die Wohnung zu bekommen.

Sie hatten ihr junges Alter auf ihrer Seite.Sie wollten aufbrechen. Sie hatten Kraft, Ehrgeiz und Ideen.Sie wollten etwas für sich und die Kinder erreichen.Wir hatten das Glück, sie auf diesem Weg zu begleiten, ihnen dort zu helfen, wo es dringend erforderlich war.Sie verließen Schwerin und fingen 30 Kilometer  von uns entfernt ein neues Leben an, im Westen. Das brachte ihnen in Schwerin den Vorwurf der Freunde ein, ihr Land verraten zu haben.

Inzwischen sind sie erfolgreich selbständig, die Kinder haben es ihren Eltern gleich gemacht.

Gerade haben wir die Hochzeit des Jüngsten gefeiert; er ist Bauingenieur in kürzester Studienzeit geworden.Die Tochter ist weit weg in Süddeutschland verheiratet, hat einen tüchtigen Mann, ein Baby und ist beruflich in einer Spitzenposition.

Für unsere Freunde kam der Tag der Grenzöffnung noch zum richtigen Zeitpunkt.

Eigentlich wollten sie nur mal sehen, ob die Grenze wirklich auf war und was das mit dieser Grenze, die für sie bis dahin tabu gewesen war,auf sich hatte.Sie hatten die Fenster zu Hause aufgelassen, die Tür nicht zweimal umgeschlossen.Dass es ein Aufbruch sein würde, der ihr weiteres Leben von Grund auf verändern würde, haben sie nicht geahnt.Deutsch deutsche Geschichte, im Kleinen.

Arnold von Jagow

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false