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Mauer auf, Tür zu?: Befehlsverweigerung, unverzüglich

Die Mauer ist gerade offen, doch ein West-Wachmann soll sein Übersiedlerheim dichtmachen. Wie Markus Hesselmann, Journalist beim Tagesspiegel, die historische Nacht in Berlin erlebte.

Von Markus Hesselmann

Der Job war schlecht bezahlt, zehn Mark die Stunde. Die Arbeitszeiten waren gut: nachts. Das ließ sich mit dem Studieren vereinbaren, wenn man es nicht übertrieb und sich nicht zu oft einplanen ließ. Meine Hausarbeiten habe ich fast alle während des Nachtdienstes geschrieben. Zu tun gab es ansonsten eh nie was.

Hart wurde das Los des Wachmanns erst in den letzten beiden Stunden zwischen fünf und sieben Uhr morgens. Da ging es nur noch ums Überleben – schwarzer Kaffee und Mixkassetten haben geholfen. Der Kassettenrekorder gehörte zur Ausrüstung, wenn ich abends um sieben zur Zwölfstundenschicht einrückte.

Das war auch am 9. November 1989 so. In grauer Busfahrerhose und hellblauem Busfahrerhemd – gefühlte 100 Prozent Kratzpolyester, aber Uniform muss sein – schob ich in jener Nacht Dienst in einem Übersiedlerheim in Steglitz. In solchen Plattenpavillons waren DDR-Bürger untergebracht, die im Sommer über Ungarn in den Westen geflohen waren.

Nachdem Günter Schabowski einige Kilometer weiter mittig sein „sofort, unverzüglich“ ins Mikro genuschelt hatte, klingelte das Diensttelefon im Wachmann-Kabuff. Anweisung vom Wachmann-Chef: Keinen reinlassen. Mein Wachmann-Auftrag war klar: Mich Menschen in den Weg zu werfen, die soeben die Berliner Mauer überwunden hatten, um zu ihren Lieben zu gelangen. Lange habe ich über die Befehlsverweigerung nicht nachgedacht. Zurück ins Kabuff, Kassettenrekorder an, Beine hoch, macht doch, was ihr wollt.

Ärger hat’s keinen gegeben. Selbst Wachmann-Chefs haben Sinn für Historisches. Auch wenn sie dafür etwas länger brauchen.

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