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Tagebuch: Als die Mauer bröckelte - und fiel

Während der Wendezeit 1989/90 führte Tagesspiegel-Leserin Christa Ronke genau Tagebuch. Im Folgenden ist auszugsweise nachzulesen, was die Berlinerin in der Zeit unmittelbar vor und nach dem Mauerfall erlebte.

28. Oktober 1989

Was für eine Wende in der DDR! Nachdem nun im September Tausende von flüchtenden DDR-Bürgern über Ungarn, wo sie vier Wochen lang in der deutschen Botschaft kampierten, in den Westen ausreisen durften, herrscht große Aufregung. In Leipzig und Dresden wird jetzt auch noch mit Unterstützung der Kirche demonstriert. Es gibt Parolen „Wir sind das Volk“, „Wir bleiben hier“, „Keine Gewalt“. Alles bisher friedlich, keine russischen Panzer wie 1953, welch Wunder, Dank Gorbi? Noch beim 40. Jahrestag des SED-Regimes war Gorbi in Ost-Berlin und hat gewarnt. Demonstranten mit Parolen „Gorbi hilf uns“. Kurz darauf wurde Honecker abgesetzt, Nachfolger Krenz. Man will jetzt die Flüchtlinge durch Amnestie zurückholen, denn Arbeitskräfte fehlen. Als erstes hat seit gestern jeder das Recht, für 30 Tage im Jahr in den Westen zu reisen. Wird Krenz, der ja den blutigen Aufstand in China gutgeheißen hat, einen besseren demokratischen Staat aufbauen können? Sehr fraglich.

Die Massen von Flüchtlingen kommen erstmal in engen Lagern unter. Arbeitsmäßig werden ja noch junge Leute im Westen gebraucht, hauptsächlich Facharbeiter, aber die Wohnungsnot ist sehr groß. Hier wohnen jetzt schon die in diesem Semester neu beginnenden Studenten teilweise in Messe- und Turnhallen oder Containern.

10./11. November 1989
Die Mauer ist offen! Es gibt freie Durchgänge, unfassbar, kein Schuss! Ost- und West-Berliner stehen nicht getrennt vor und hinter der Mauer, sondern gemeinsam jubelnd auf der Mauer. „Wahnsinn“ ist das Wort der Stunde. --- Astrid rief aus Kalifornien an, ob das denn wirklich wahr ist. --- Karl-Heinz und ich standen am Wittenbergplatz und empfingen mit anderen West-Berlinern die aus dem U-Bahnhof strömenden Menschen aus dem Osten. Wir umarmten uns, lachten, sangen. Die meisten wollten weiter zum Kurfürstendamm und in die Kaufhäuser. Viele hatten eine Blume, oft eine Rose, in der Hand, die sie an der Grenze bekommen hatten. Am Eingang zum KaDeWe habe ich auf Holzbrettern gesessen und mich lebhaft mit den Ostlern unterhalten. Es gab Kaffee, Thoben-Pfannkuchen, später Suppe. Alles natürlich umsonst. An der Post und Bank standen stundenlang Ostler an, um die von der BRD für jeden gespendeten DM 100,- abzuholen. Sonst ist der Kurs z.Zt. 1:10. Später auf dem Kurfürstendamm demonstrierten ein paar Hundert Autonome gegen den Kapitalismus. Passte natürlich gar nicht. Die Ostler staunten, verstanden das überhaupt nicht, manche riefen „geht doch rüber“. Wir kamen völlig erschöpft, aber fröhlich nach Hause. Ich konnte lange nicht einschlafen.

19. November 1989
Sollte der Kalte Krieg nun wirklich vorbei sein? Denn auch der Kommunismus in den anderen Ost-Ländern bröckelt. Ich kann es noch gar nicht fassen. Die große Euphorie ist jetzt natürlich vorbei. Keiner weiß, wie es weitergehen soll. Sicherlich werden die Ostler ihren Staat mit wirklich freien Wahlen nun besser aufbauen wollen, am besten so ein Mittelding zwischen Kapitalismus und Kommunismus. Der Westen wird tüchtig mithelfen, besonders finanziell. Neben Krenz, der wahrscheinlich bald abgewählt wird, ist jetzt Modrow, der „Gute aus Dresden“, den das Volk wollte, Ministerpräsident. Man spricht auch von Wiedervereinigung, aber das ist doch wohl illusorisch. Russland, England, Frankreich werden das nicht zulassen - wohl immer noch aus unbegründeter Angst vor einem starken großen Deutschland.

Bis jetzt nach Öffnung der Grenzen sollen ca. 8 Millionen Ostler in West-Berlin gewesen sein. Bus, Bahn, Arztbesuch und vieles andere gibt es für sie umsonst. Alles ist proppenvoll. Für die Westler ist der Zustand nicht gerade angenehm, aber sie nehmen es für die freudige Situation gerne hin, unbequemer einzukaufen, schlechtere Luft durch die stinkenden Trabis einzuatmen, und länger bei Bank oder Post anzustehen.

R. rief aus USA an, ich solle ihr doch einen Mauerstein für ihren Schreibtisch kaufen. Ich war daraufhin gestern am Breitscheidplatz. Dort gibt es einige fliegende Händler, die für DM 3.- bis 5.- Mauersteine verkaufen. Viele Menschen lachten nur skeptisch darüber, manche voller Abscheu. Ich kaufte so einen Stein für DM 5.-. Ob der tatsächlich von der Mauer stammt? Was soll’s. Hauptsache er schmückt einen amerikanischen Schreibtisch. Auch gab es T-Shirts mit der Aufschrift „9. November 1989 - Ich war dabei“.

Christa Ronke

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