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Unwirkliche Nachrichten: Die Mauer im Kopf

Die ersten Nachrichten vom Mauerfall mochte Tagesspiegel-Leser Martin Wurzel zunächst nicht glauben. Erst am 10. November machte er sich auf den Weg in den Ostteil der Stadt.

Den 9. November 1989, besser: den Abend des selbigen Tages, habe ich verschlafen. Nachrichten, die ich bezüglich der Maueröffnung hörte, kamen mir so unwirklich vor, dass ich sie nicht ernst genommen habe und statt weiterzuhören und zu erleben, nach anstrengender Arbeit ins Bett ging. Mein 9. November fand einen Tag später statt. Am Morgen dieses Tages telefonierte ich mit meinem Vater bei Köln. Er sprach schon von der Wiedervereinigung: „Wenn die Mauer jetzt fällt, ist es nicht mehr weit zur Wiedervereinigung.“

Nichts konnte ich damals mit diesem Satz anfangen, zu fest war die Mauer im Kopf einbetoniert, die beiden Deutschen Staaten so sehr Realität geworden, dass ich mit keine andere vorstellen konnte. Die Realität wurde für mich am Abend des 10. November zur unbegreiflichen Surrealität: Mit dem Fahrrad habe ich mich von Steglitz aus auf den Weg gemacht. Ziel war der Potsdamer Platz und das Brandenburger Tor, Checkpoint Charlie usw. Ahnungslos kam ich am Rathaus Schöneberg vorbei, hinein in die große Kundgebung mit Tausenden von Menschen, Mit Helmut Kohl, Willy Brandt, Dietrich Genscher und Walter Momper. Begeisterung und Buhrufe lagen da so dicht nebeneinander, die Stimmung war für mich nicht einzuordnen.

Am Brandenburger Tor kletterte ich auf die Mauer, was mit der hilfreichen Unterstützung helfender Hände und Arme gut gelang. Auf der Krone wurden Sekt und Schnaps geteilt, die Stimmung war ruhig, leicht angespannt, auf keinen Fall ausgelassen und übermütig. Vielleicht waren die Grenzpolizisten auf der anderen Seite die Spaßbremse: Sie standen wie aufgereiht, drei Meter Abstand von der Mauer, drei Meter Abstand vom nächsten Mann, Hände auf dem Rücken und beobachteten das ganze Treiben. Ich machte mir Sorgen und fragte mich, was passieren würde, wenn doch im Übermut Flaschen auf sie geworfen würden. Ich entfernte mich mit Unbehagen, fuhr weiter über den Potsdamer Platz zum Checkpoint Charlie.

Hier war Trabi-Klopfen angesagt, Bilder, wie man sie aus dem Fernsehen sieht: „Wahnsinn!“ Weiter ging es an der Mauer entlang, durch Kreuzberg zur Oberbaumbrücke. Spontan entschied ich mich, das Fahrrad anzuketten und in den Osten zu gehen, alleine gegen den Strom. An der Grenze musste jemand geholt werden, der die Personenkontrolle durchführte und mir die 25 DM Zwangsumtausch abnahm, die ich dann, in einem fast verwaisten Rathauskeller im Roten Rathaus versuchte, zu verzehren. Andere Gäste, die an meinem Tisch platziert wurden, gingen auf die Ereignisse wenige hundert Meter weiter gar nicht ein.

Kurz darauf war ich wieder am Brandenburger Tor, diesmal auf der anderen Seite, an den Absperrungen vor dem Pariser Platz. Durch das Tor konnte die kleine Ansammlung von etwa einem Dutzend Zuschauern die Menschen auf der Mauerkrone sehen. Unter ihnen herrschte Unverständnis: „Was wollen die?“ – "Offene Grenzen, wie zwischen der BRD und den Niederlanden!“ – Das glaubst Du doch selbst nicht, das die Grenzen offen sind!“

Ein Rollstuhlfahrer wurde aus dem abgesperrten Teil des Pariser Platzes herausgeschoben: “Freiheit, Freiheit!“ rief er mit erhobenen Armen. Keine Reaktion. Sein Ruf verhallte in der Nacht und der Starre von Menschen, die keine Orientierung mehr über das Gesehen hatten.

Wenig später setzten sich LKWs in Bewegung und stellten sich vor die Öffnungen des Tores, so dass der Durchblick versperrt war: Ende der Veranstaltung! Zu meiner Verwunderung befanden sich plötzlich zahlreiche Uniformierte, meiner Schätzung nach mindestens eine Hundertschaft, hinter uns und brachten sich in Position. Nein, Freude kam da keine auf. Mit wurde sehr mulmig, und ich sah zu, dass ich Platz verlies, ging zur Friedrichstraße. Ich musste zurück zur Oberbaumbrücke, nicht nur weil mein Fahrrad da stand, sondern weil man über den Grenzübergang ausreisen musste, über den man auch eingereist war.

Dort reihte ich mich in die lange Schlange der „Ost“-Berliner ein, die in den Westen wollten. Es ging alles sehr diszipliniert zu. Zu meiner Erleichterung wurde ich als Ausländer an der langen Warteschlange vorbeigeführt, so dass ich rechtzeitig vor 2 Uhr (das war die zeitliche Begrenzung bei einem eintägigen Aufenthalt im Osten) wieder nach Kreuzberg kam. Die Rückfahrt nach Steglitz über den Kuhdamm, über die Berge von Resten einer ausgelassen RiesenStraßeParty stellten dann doch einen starken Kontrast zu dem da, was ich in Mitte erlebt habe.Erst später konnte ich nachlesen, wie unentschieden die Situation am Abend des 10. November 89 noch gewesen war.

Martin Wurzel

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