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Verloren in Berlin: Eine wilde Verfolgungsjagd

Es war schon irgendwie komisch, dass der blaue Trabi immer dicht am Fahrzeug unseres Lesers Donat Schober klebte. Das muss die Stasi sein, mutmaßten die Kinder und animierten ihren Vater zu einer Verfolgungsjagd durch West-Berlin.

Es ist ein Sonnabend. Mitte Dezember 1989. Wir kommen mit dem Auto von einem Ausflug zu den Mauerpickern in der Nähe des Brandenburger Tores, wo die Kinder mit Hämmern Betonstücke herausgeschlagen haben, die sie in einer Pappschachtel wie Trophäen in den Händen halten. Als wir gerade die Plastik „Der Rufer“ von Gerhard Marcks passiert haben, startet ein blauer Trabant, der in unmittelbarer Nähe des Sowjetischen Ehrenmals im Tiergarten geparkt hat. Leipziger Nummernschild.

Der Mann startet hastig mit hörbar quietschenden Rädern, deswegen fällt er uns sofort auf. In der Straße des 17. Juni fährt er zunächst leicht versetzt in der Spur rechts hinter uns. Nach jedem Ampelstart versucht er schnellstmöglich wieder aufzuschließen und kein Fahrzeug zwischen sich und uns zu lassen.

Mal sehen, wie lange der dran bleibt, sagt einer unserer Söhne, während wir uns dem Ernst-Reuter-Platz nähern. Der Kreisverkehr hier ist für einen Ortsunkundigen nicht ohne Tücken. Da wir seit dem Mauerfall schon mehrfach bei Verwandten im Westteil Berlins gewesen und folglich diese Strecke schon mehrfach gefahren sind, passieren wir den Kreis mit einiger Routine. Unser Verfolger bleibt dran. Als wir nach rechts in die Bismarckstraße abbiegen, biegt auch der blaue Trabant ab. Die Kinder sagen, fahr mal schneller, mal sehen, ob der dran bleibt. Wir überschreiten die erlaubte Höchstgeschwindigkeit um gut 20 Stundenkilometer. Der Sachse lässt nicht locker.

Fahr jetzt mal ganz langsam, sagen die Kinder. Wir fahren 30 bis zur nächsten Ampel. Unser Verfolger tut das Gleiche. Der ist bestimmt von der Stasi, sagt unser zwölfjähriger Sohn. Wie er denn darauf komme. Wenn die öfter mal bei uns vorm Haus standen den ganzen Tag, mit Standheizung und mit Notizblock in der Hand, dann habt ihr gesagt, dass sie uns wieder im Auge haben. Naja und außerdem macht der alles, was wir machen. Eindeutig, der verfolgt uns.

Die beiden Jungs auf der Rückbank tuscheln einem Moment, dann ruft der Neunjährige: Bieg jetzt mal ganz schnell irgendwo ab, mal sehen, was er nun macht. Ohne zu blinken biegen wir an der Fritsche-Straße rechts ab. Der blaue Trabant bleibt hinter uns. Das könnt ihr doch nicht machen, sagt meine Frau, was kann da alles passieren. Die Kinder lachen und rufen: Und jetzt sofort links. Wir biegen, diesmal mit Blinker, in die Zillestraße ein und fahren vor bis zur Schloßstraße, um von dort wieder auf unsere eigentliche Strecke zu kommen. Da wir nicht gleich abbiegen können, schaue ich mir im Rückspiegel unseren Verfolger etwas genauer an. Der Mann am Lenkrad ist schmächtig, hat schütteres Haar und träg eine Brille. Die neben ihm sitzende korpulente Frau hat einen hochroten Kopf. Ununterbrochen redet sie gestikulierend auf den Mann ein. Der starrt reglos geradeaus. Als wir nach links in die Schloßstraße einbiegen, folgen uns die Beiden. Die Kinder jubeln. Die Verfolgungsjagd geht weiter! Die Stasi bleibt dran, habt ihr doch gesagt! Vor der Ampel über die Bismarckstraße sagt meine Frau, jetzt halten wir aber an und fragen, was los ist. Die sind doch fix und fertig.

Wir fahren in die Suarezstraße, passieren die Kantstraße und halten hinter dem Amtsgericht am rechten Straßenrand an. Der Trabant stoppt wenige Meter hinter uns. Ich steige aus und gehe Richtung Trabant. Schon beim Näherkommen ist zu sehen, dass sie am Ende ihrer physischen und psychischen Kräfte sind. Der Mann klammert sich schweißgebadet ans Lenkrad, die Frau schweigt. Mit beiden Händen hält sie einen kleinen Übersichtsplan der Stadt Berlin. Als ich neben der Fahrertür stehe, dauert es einem Moment, bis der Mann die Scheibe runter kurbelt. Seine Brille beschlägt. Er sagt zunächst kein Wort, sondern starrt mich an. Erst als ich frage, ob ich helfen könne, platzt es aus ihm heraus: ich dachte, weil Sie ein Potsdamer Kennzeichen haben, wissen Sie, wie man aus Westberlin raus kommt und bin Ihnen deswegen immer nachgefahren. Potsdam kennen wir. Von da aus weiß ich, wie man zur Autobahn nach Leipzig kommt. Wir sind das erste Mal durch die Mauer. Und nun haben wir in der Aufregung die Orientierung verloren.

Ich sage ihm, dass wir gar nicht aus der Stadt raus, sondern Verwandte in Dahlem besuchen wollen. Die Frau gibt mir, immer noch zitternd, den Stadtplan, auf dem lediglich die großen Magistralen namentlich hervorgehoben sind. Ich zeige ihr, wo wir hier sind und wo sie lang müssen: zurück zur Kantstraße und von da zur Autobahn usw. Sie bedanken sich mehrfach in freundlichstem Sächsisch. Als wir weiterfahren, sehe ich im Rückspiegel, dass das Auto, bis es aus unserem Sichtfeld verschwunden ist, stehen bleibt. Die Beiden werden diesen Berlin-Besuch wohl nicht vergessen. Wir auch nicht.

Donat Schober

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