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Fenster an einem Haus.

© dpa

Blog zum Musikfest Berlin (11): Das Fenster zur Welt

Berlin hat großartige Orchester. Und dennoch ist es wichtig, dass auch Spitzensensembles aus aller Welt bei uns gastieren. Denn alle haben eigene Traditionen - und klingen darum tatsächlich oft ganz unterschiedlich.

Mit dem fulminanten Auftritt des Philharmonia Orchestra London unter Esa-Pekka Salonen ist der Reigen der Gastorchester beim Musikfest schon wieder vorbei, und in der letzten Woche bleiben die Berliner Ensembles weitgehend unter sich, abgesehen von kleinen Formationen wie der Musikfabrik oder solistischen Darbietungen. Sechs großartige Konzerte von Gastorchestern konnten die Berliner hören, von denen freilich kaum eines ausverkauft war. So ist die Frage schon verständlich, die mir ein – durchaus sehr begeisterter - Tagespiegel-Leser nach dem Probenbesuch beim Philharmonia Orchestra stellte: Wozu der enorme Aufwand, ein ganzes Orchester nach Berlin einzufliegen – hätte man Salonen nicht auch als Gast zu einem Berliner Orchester einladen können?

Die Frage ist natürlich berechtigt – selbst wenn man nicht so weit geht, die Schlaglöcher in Berlins Straßen oder die Situation der Schultoiletten gegen Kulturinvestitionen aufzurechnen. Aber abgesehen davon, dass man selbst mit allen Berliner Orchestern in 19 Tagen nicht diese Anzahl von Programmen proben und spielen kann, geht es ja um etwas anderes.

Orchester sind schwer zu vergleichen, die Unterschiede bisweilen sehr fein, und die Erinnerung an ein Konzerterlebnis flüchtig und schwer zu fassen. Und doch verbergen sich hinter den Nuancen große Traditionen, Gedankenwelten wie auch persönliche Konstellationen, die natürlich immer wieder Veränderungen unterworfen sind.

Meine Erfahrung mit den verschiedenen Orchestern und zahlreichen Dirigenten zeigte immer wieder: Eine glückliche Einheit zwischen einem Orchester und einer Dirigentenpersönlichkeit lässt sich weder vorhersehen noch erzwingen. Das Verhältnis der Gruppe zum leitenden Individuum ist diffizil und geheimnisvoll. Manche Dirigenten sind offener und flexibel, aber dann bisweilen nicht so zwingend. Andere sind Diktatoren, die gleichzeitig geliebt und gehasst werden. Wieder andere arbeiten lieber mit freien Orchestern, bei denen sie selbst Einfluss nehmen können, welche Musiker mitspielen und welche nicht.

Es erscheint mir immer noch als paradox, eine ganze Hundertschaft auf höchstem Niveau musizierender Individuen zu einer Gemeinschaft, zu einem Klang und einer Interpretation eines Werkes zusammen zu schweißen. So wünscht man sich, möglichst gerade diejenigen Weltklasseorchester einzuladen, die gerade eine überzeugende Verbindung zu einem prägenden Dirigenten haben wie eben ein Salonen mit dem Philharmonia oder Jansons mit dem Orchester des Bayerischen Rundfunks.

Ein anderes Aspekt wird durch die Frage beleuchtet, welche Stellung Berlin im internationalen Musikleben beansprucht Wenn die Berliner Orchester in andere Musikzentren eingeladen werden wollen – und sie wollen alle -, muss es auch den Weg nach Berlin geben. Berlin ist damit Teil eines internationalen Netzwerks an Festivals und Veranstaltern, das starke Partner wie das Musikfest braucht. Und das Musikfest ist für uns Berliner ein Fenster zur Welt: Orchester repräsentieren musikalische Traditionen, Sichtweisen auf Musik, auf Kultur und Geschichte.

Englische oder Französische Orchester klingen unterschiedlich, ja spielen sogar unterschiedliche Instrumente. Den Amerikanern wird Brillanz in Klang und Technik nachgesagt, Osteuropäern bisweilen eine Mischung aus Schwermut und Volkstümlichkeit. Immer wieder ist die Rede vom „Deutschen Klang“, ob man ihn nun Daniel Barenboim oder Christian Thielemann mit ihren Orchestern bescheinigt, ein dunklerer Orchesterklang, vibratoreicher, mit großen Bögen gestaltet. Aber auch Über-Kreuz-Verbindungen können sehr interessant sein, z. B. wenn ein amerikanisches Orchester französische Musik spielt und umgekehrt. Das eigene durch die Brille eines Fremden zu sehen kann neue Blicke auf die eigene Geschichte und Identität eröffnen, man erfährt sich selbst im Spiegel der anderen. Und nichts anderes ist ein Kulturaustausch, der wirklich tief geht: eine Beschäftigung mit Identitäten, von der wir alle lernen können im Dialog der Kulturen.

Andreas Richter

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