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Meisterin der Levitation. Die argentinische Pianistin Martha Argerich, 72, befreit die Töne von ihrer Schwerkraft.

© dpa

Die Staatskapelle beim Musikfest Berlin: Die kindliche Kaiserin

Ovationen für Martha Argerich: Die große Pianistin sorgt mit Barenboims Staatskapelle und Beethovens 1. Klavierkonzert für einen Höhepunkt des Musikfests.

Nach der zweiten Zugabe, als Martha Argerich sich noch einmal ans Klavier gesetzt hat, um sich gemeinsam mit Daniel Barenboim in Schuberts Rondo op. 17 zu vertiefen, als die beiden die Köpfe zusammengesteckt haben wie ins Spiel versunkene Kinder (auf zwei quer gestellten Klavierhockern, schönes Zeichen künstlerischer Individualität), als sie ihr Haupt mit der offenen grauen Haarpracht, die sie Susan Sontag ein wenig ähnlich sehen lässt, kurz auf seine Schulter gelegt hat, um dann Hand in Hand und wie immer ein wenig verlegen die Ovationen des Publikums entgegenzunehmen – nach dieser zweiten Zugabe stehen sie alle im Saal, im Jubel vereint.

Martha Argerich beehrt Berlin mit einem Musikfest-Gastspiel. Ihre Natürlichkeit, ihre Anmut bei Beethovens erstes Klavierkonzert animiert die Staatskapelle derart zur Feier des Lyrischen, dass die 72-jährige Argentinierin mit ihrem Landsmann Barenboim vor der Pause wohl auch den Flohwalzer anstimmen könnte, und die Begeisterung in der Philharmonie wäre kein bisschen geringer.

Allein das Largo des C-Dur-Klavierkonzerts wird zur puren Poesie. Eine traumverlorene Seele im  Zwiegespräch mit der Klarinette, old school mit reichlich Pedal, aber ohne falsche Gefühligkeit. Im Rondo macht Argerich Tempo, jazzt ein wenig, ohne Beethovens Notentext untreu zu werden, noch im Übermut bleibt ihr Spiel vollkommen klar. Ihr kraftvoller und im nächsten Moment gläsern perlender Anschlag, die kleinen Widerhaken, die sie bei Wiederholungen setzt, ihre Kunst, Schönheit, Koketterie und  Virtuosität, Zärtlichkeit und Eleganz zu vereinen – Martha Argerich kann man sich nur als glücklichen Menschen vorstellen. Ein Glück, das auf der Stelle ansteckend wirkt. Wenn Klavierspiel auf Tastendruck basiert, beweist Argerich das Gegenteil. Die Töne befreit sie von jeglichem Gewicht und driftet doch nie ins Unverbindliche ab. Eine Meisterin der Levitation, eine kindliche Kaiserin – und  Barenboim bringt das Orchester zum Schweben.

So singen sie alle. Das Klavier unter den Händen der Argentinierin. Der Rundfunkchor, der bei den beiden A-cappella-Stücken von Verdis „Quattro pezzi sacri“ einmal mehr seine Homogenität und Klangkultur unter Beweis stellt und Argerichs gelassene Intensität in die zweite Konzerthälfte rettet. Und die Staatskapelle, gleich zu Beginn, mit Lutoslawskis schemenhaft anhebenden 15-Minuten-Werk „Mi-parti“, dem einzigen Tribut an die Musikfest-Schwerpunkte bei diesem Konzert. Holz und Hörner vor sphärisch flirrendem Horizont, aparte Klangtupfer mit Klavier, Harfe und Celesta, Bratschen-Pizzicati und Hornrufe  – rund um das zentrale, katastrophische Fortissimo-Chaos mit den unerbittlichen Paukenschlägen siedelt Barenboim Pastellfarben an, eine scheue, verschreckte Musik bis an den Rand des Verstummens.

Nur Verdi kann nicht restlos überzeugen. Beim „Stabat Mater“ wie beim „Te Deum“ setzt Barenboim die Sforzati überdeutlich, forciert Crescendi und theatralische Effekte. Große Oper, sakrale Feierlichkeit und verwegene Harmonik bleiben unvermittelt nebeneinander stehen, bei aller atmosphärischen Dichte ergibt das Ganze doch weniger als die Summe seiner Teile. Und die Soprane des Rundfunkchors müssen sich in der Höhe zunehmend anstrengen. Wenn die höchsten Violinen und tiefsten Kontrabässe zum disparaten Ende jegliches Pathos jedoch Lügen strafen, ist die Staatskapelle wieder ganz bei sich. Und bei jener Kontemplation, die den Abend insgesamt prägt: mit dem schönsten Piano seit Erfindung des Leise-Spielens.

Das nächste Mal kommt Martha Argerich übrigens schon in drei Wochen nach Berlin, zum Benefizkonzert für die Menschenrechte in Russland am 7. Oktober im Kammermusiksaal, mit Barenboim, Gidon Kremer, Emmunael Pahud und tutti quanti.  

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