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Einfach drin. Der Paraguayer Miguel Samudio (Mitte) schießt das Tor zum 3:2 gegen die Deutschen. Manuel Neuer sieht es nicht (li.), Kapitän Philipp Lahm muss es sehen.

© dpa

Deutsche Fußball-Nationalmannschaft: Die Toreverhinderungskrise

Die deutsche Nationalmannschaft kassiert zu viele Gegentreffer. Gegen Paraguay am Mittwoch waren es schon wieder deren drei. Dem Team fehlt der Mut zur schlichten Variante.

Um kurz nach halb elf, als es endlich vorbei war, zog Manuel Neuer sein Trikot aus und stapfte zur spontanen Aussprache Richtung Mittelkreis. Es war eher kühl auf dem Betzenberg zu Kaiserslautern, und richtig ins Schwitzen war der Torhüter Neuer auch nicht gekommen. Es war die innere Hitze, die ihn quälte, die hinaus musste nach diesem missratenen Start in die WM-Saison. Viermal hatte der Gegner auf sein Tor geschossen und dabei dreimal getroffen, jeweils unter fürsorglicher Teilnahmslosigkeit von Neuers Vorderleuten. „Für mich als Defensivspieler wäre es schön, wenn wir die Defensive nicht ganz vernachlässigen“, grantelte der Münchner nach dem 3:3 der deutschen Nationalmannschaft im Testspiel gegen Paraguay. „Das einzige Positive war, dass es kein wichtiges Spiel war. So können wir gegen Österreich nicht spielen.“

Der vermeintliche Favorit Deutschland lädt bereitwillig zum Toreschießen ein

Österreich hat einen Ruf zu verteidigen als Schwellenland des internationalen Fußballs. Aber was heißt das schon, wenn der vermeintliche WM-Favorit Deutschland so bereitwillig einlädt zum Toreschießen, wie es gegen Paraguay ja nicht zum ersten Mal zu sehen war? Am 6. September geht es in München in der WM-Qualifikation gegen die Österreicher. Ein Sieg ist fest eingeplant auf dem Weg zur WM nach Brasilien. Aber schon beim Hinspiel vor einem Jahr in Wien hätten es die Deutschen es mit einer Mischung aus Leichtsinn und Larmoyanz beinahe noch geschafft, eine sichere 2:0-Führung zu verdaddeln. Besserung ist seitdem nicht in Sicht.

Neun Gegentoren in den letzten drei Testspielen sind schon ein bisschen mehr als ein Trend (auch wenn bei der USA-Reise Ende Mai die Dortmunder und Münchner fehlten, aber die waren vorher beim 4:4-Desaster gegen Schweden vollständig versammelt). Deutschland, die vormalige Nation der Grätscher und Vorstopper, hat ein Abwehr-Problem.

Bundestrainer Joachim Löw fehlt die Zeit für eine grundlegende Neuordnung der Mannschaft

Der Bundestrainer mag sich dieser Diskussion noch nicht stellen, er kann es wahrscheinlich gar nicht, zehn Monate vor der Weltmeisterschaft. Für eine grundlegende Neuordnung fehlt die Zeit. Es war schon bemerkenswert, mit welchem Gottvertrauen in sein Personal Joachim Löw die auf von ihm so benannten „elementaren Fehler“ als Randerscheinung einer gerade erst beginnenden Saison abtat. „Dem einen oder anderen hat die Frische gefehlt“, sprach Löw, und natürlich gebe es noch „Dinge, die nicht gut funktioniert haben, damit werden wir uns in den nächsten zwei Wochen im Trainerteam beschäftigen. Diese Dinge werden wir mit Sicherheit verbessern“. Und, angesprochen auf die hohe Quote von Gegentoren: „Das wird nicht in diesem Maße so weitergehen. Wir werden uns absolut stabilisieren.“

Alle Gegentore standen exemplarisch für die Probleme des deutschen Teams

Stabilisieren auf dem Niveau des Spiels gegen Paraguay? Alle drei Gegentore am Mittwoch standen exemplarisch für die neuen, alten Probleme der deutschen Mannschaft. Beim 0:1 und 2:3 besetzten die Paraguayer spielerisch leicht das Vakuum zwischen den Innenverteidigern Mats Hummels und Per Mertesacker. Und das 0:2 war Folge eines dramatischen Fehlpasses von Sami Khedira, Resultat des deutschen Anspruchs, auch komplizierte Situationen immer spielerisch lösen zu wollen. So will es der Bundestrainer sehen, er hat es in Kaiserslautern noch einmal bekräftigt: „Ich liebe das Risiko. Ich will eine Mannschaft, die im besten Fall immer in gegnerischen Hälfte ist. Das liebe ich über alles!“

Kaum eine Nationalmannschaft spielt so schön

Schönheit um jeden Preis macht verwundbar. Kaum eine Nationalmannschaft spielt mit einer so hoch stehenden Abwehr, kaum eine mit so vielen Künstlern. Was fehlt ist der Mut zur schlichten Variante. Die Bereitschaft, die Räume zwanzig Meter vor dem eigenen Strafraum zu verdichten und den Ball einfach mal wegzubolzen. „Wir werden uns das bestimmt noch hundertmal anschauen und Konsequenzen daraus ziehen“, versprach Per Mertesacker. „Denn das sind die Feinheiten, die bei einer WM tödlich sein können.“

Per Mertesacker hat gegen Mitternacht noch einen längeren Vortrag über diese neue Verwundbarkeit gehalten. Mit einer Eloquenz, die leider in starken Kontrast stand zu seinem strategischen Geschick auf dem Platz. „Wir waren defensiv immer gut, wenn wir ein bisschen an uns arbeiten durften“, sagte der Mann vom FC Arsenal. „Vielleicht müssen wir uns in den entscheidenden Situationen auch mal fallen lassen, uns nicht ständig gezwungen fühlen, immer so hoch zu stehen.“ Da fehle ein bisschen die Balance: „Wir sind eine gute Mannschaft sind und noch nicht am Ende der Entwicklung angekommen. Aber im Hinblick auf Brasilien brauchen wir noch einen Schub.“

Das rührt am Selbstbewusstsein der deutschen Fußball-Nationalmannschaft

Das Problem sitzt tief. Es rührt am Selbstverständnis und am Respekt, den sich die Deutschen in den vergangenen Jahren mit ihrem ästhetisch anspruchsvollen Spiel erarbeitet haben. Dieser Respekt entsprang der Erkenntnis, dass diese Mannschaft dank Kreativität und individueller Klasse immer in der Lage ist, ein oder zwei Tore zu erzielen. Nach den Ereignissen der jüngeren Vergangenheit aber weiß die Konkurrenz jetzt: Diesen Deutschen können wir jederzeit ein oder zwei Dinger hinten reinsemmeln. Das setzt sich in den Köpfen fest. In denen der Gegners und, schlimmer noch, in den eigenen.

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