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Joachim Löw, 50, betreut die deutsche Fußball-Nationalmannschaft am Freitag im EM-Qualifikationsspiel gegen die Türkei zum 60. Mal.

© dapd

Löw vor Türkeispiel im Interview: "Leidenschaft ist nicht alles"

Vor dem EM-Qualifikationsspiel gegen die Türkei: Bundestrainer Joachim Löw über die Verletzung von Michael Ballack, die Verjüngung der Nationalmannschaft, den Erfolg der Mainzer und seine Analyse der Weltmeisterschaft.

Herr Löw, wie haben Sie die Nachricht aufgenommen, dass Michael Ballack in diesem Jahr nicht mehr wird spielen können?

Überrascht hat sie mich nicht. Michael ist im Sommer drei Monate ausgefallen, danach hat er ein paar Spiele gemacht und sich wieder schwer verletzt. Jetzt darf man es nicht überreizen und sagen, der Michael muss dann und dann wieder spielen. Wichtig ist, dass er wieder gesund wird.

Wie lange werden Sie auf ihn warten?

Was wollen Sie jetzt von mir hören? Ich traue Michael zu, dass er zurückkommt. Er ist gut, er ist ehrgeizig. Und wann muss ich mich denn entscheiden?

Sagen Sie es uns!

Drei Wochen vor dem nächsten Turnier! Und das betrifft nicht nur Michael Ballack. Kurz vor der EM muss ich meinen Kader nominieren. Bis dahin kann ich mir alle Optionen offenlassen. Ich muss nicht alle zwei Monate Entscheidungen treffen, die endgültig sind. Das ist gut so, denn es gibt immer unvorhergesehene Ereignisse, auf die man kurzfristig reagieren muss. Wenn ich aber der Meinung bin, dass ein Spieler für mich keine Rolle mehr spielt, weil zwei oder drei definitiv besser sind – dann treffe ich eine Entscheidung. Und dann fliege ich zu diesem Spieler und sage ihm Bescheid. Michael Ballack ist jetzt verletzt, aber ich traue ihm zu, dass er seine Form wieder findet. Er will ja. Es gibt keinen Grund, ihn abzuschreiben.

Ihre Mannschaft wird immer jünger. Heißt das, dass die Karrieren in der Nationalmannschaft früher beginnen und dafür auch früher enden?

Es gibt auch hervorragende Spieler, die älter als 30 sind. Aber generell glaube ich, dass es von Vorteil ist, wenn die Mannschaft jung und entwicklungsfähig ist. Unsere Mannschaft war bei der WM 2010 viereinhalb Jahre jünger als bei der EM 2008. Und man hat gesehen, dass wir körperlich ein höheres Tempo spielen konnten als vor zwei Jahren. 2008 gab es einige Schwankungen. Jüngere Spieler haben einfach kürzere Regenerationszeiten. Sami Khedira zum Beispiel regeneriert extrem schnell. Deshalb finde ich es vernünftig, wenn man den Altersschnitt möglichst versucht nach unten zu drücken. Aber es gibt auch Trainer, die auf Erfahrung bauen, weil Erfahrung für sie Cleverness und Raffinesse bedeutet.

Welche Kriterien sind für Sie entscheidend?

Qualität ist schon das wichtigste Merkmal für die Umsetzung meiner Vorstellungen. Natürlich ist das subjektiv, aber ich weiß ja, was ich spielen möchte. Und deswegen verzichte ich vielleicht auf einen Spieler, den ein anderer Trainer nominiert hätte.

Zum Beispiel?

Kevin Kuranyi. Ich sage ja nicht, dass Kuranyi schlecht ist. Kuranyi ist schon gut. Wenn das Spiel auf ihn zugeschnitten ist, macht er auch immer seine Tore. Aber Miroslav Klose passt besser zu unserer Spielweise, zu Özil, Müller, Kroos oder Podolski, die kombinieren und den Ball flach halten wollen.

Im Moment schwächeln etliche Ihrer Spieler. Die Bayern sind nicht in Tritt, Stuttgart ist Tabellenletzter. Machen Sie sich Sorgen?

Erst einmal muss man feststellen, dass die Spieler, die bei der WM dabei waren, enorm viel leisten. Sie hatten im Sommer kaum eine Vorbereitung, müssen ohne richtige Basis schon wieder permanent spielen. Und bei einigen geht das seit Jahren so. Wohin das führt, sieht man bei den Bayern. Die hatten zwölf Spieler bei der WM. Die Mainzer hatten alle Spieler von Anfang an dabei. Da ist es nicht ungewöhnlich, dass sie einen besseren Saisonstart erwischen als eine Mannschaft, die eine zerstückelte Vorbereitung hatte.

Der Erfolg der Mainzer hängt auch mit der Begeisterung der jungen Spieler zusammen. Ist das etwas, worauf Sie auch bauen?

Mainz ist doch nicht der Maßstab für die Nationalmannschaft. Es sind gerade sieben Spieltage vorüber. Selbstverständlich spielen die Mainzer mit einer enormen Leidenschaft, keine Frage. Aber wie sieht es in den nächsten zwei, drei oder vier Jahren aus? Leidenschaft alleine ist nicht das Maß aller Dinge. Du möchtest ja auch irgendwo Fußball spielen können.

Inwieweit kommt das Spiel der Mainzer Ihrem Ideal vom Fußball nahe?

Die Mainzer haben schon eine andere Spielanlage als die Nationalmannschaft. Sie spielen gerne mal lang nach vorne und gehen dann auf den zweiten Ball. Das ist eine klasse Philosophie für diese Mannschaft, aber unsere sieht etwas anders aus. Mainz hat auch ein paar technisch hervorragende Spieler wie Lewis Holtby oder André Schürrle, die super Voraussetzungen mitbringen, aber wer kann denn endgültig beurteilen, ob sie schon in der Lage sind, auf höchstem Niveau zu spielen: nämlich bei einer WM gegen Spanien, Argentinien, England? Das ist die höchste internationale Klasse. Das ist mein Maßstab, und der ist ein ganz anderer als die Bundesliga.

Aber aus der Bundesliga drängen etliche Talente nach.

Wir haben insgesamt mehr talentierte Spieler, das stimmt. Die Vereine haben umgedacht. Es ist gut, wenn Mario Götze mit 18 Jahren in Dortmund regelmäßig spielt. Früher hätte man vielleicht gesagt: Wir bauen ihn in Ruhe auf, damit er mit 22 bei den Profis spielen kann. Dann hätte er vier Jahre versäumt. Aber es gibt auch nicht unendlich viele Talente in Deutschland. Wenn jetzt gegen die Türkei hinten links Marcell Jansen ausfällt, wird schon diskutiert, ob Philipp Lahm da wieder spielen muss. Brasilien hat wahrscheinlich acht Verteidiger mit einem starken linken Fuß, wir haben ein paar weniger.

Sie haben in der vergangenen Woche Ihre Analyse der Weltmeisterschaft abgeschlossen. Was ist dabei herausgekommen?

Natürlich wären wir gern Weltmeister geworden, aber ein Trainer misst eine Entwicklung auch an anderen Dingen. Und die sind für mich überaus befriedigend.

Nämlich?

Wir haben die wenigsten Fouls begangen und hatten die meisten Ballgewinne. Wir waren die Mannschaft, die am schnellsten vom Ballgewinn zum Abschluss kam. Wir waren mit Spanien die Mannschaft, die die meisten vertikalen Bälle gespielt hat, die auch ankamen: 85 Prozent. Besonders erfreulich ist für mich aber, dass wir relativ schnell spielen. Und nicht nur schnell, sondern auch präzise.

Woran kann man das festmachen?

Wir haben 2005 angefangen zu messen, wie lange es im Schnitt von der Ballannahme bis zum Abspiel dauert. Damals waren es 2,8 Sekunden, 2008 waren es 1,7 Sekunden, und jetzt bei der WM 1,1 Sekunden. Spanien liegt bei 1,0. Das lässt schon den Rückschluss zu, dass unser Spiel von guter Qualität war. Wir hatten aber auch Spiele, in denen wir schlecht waren. In der ersten Halbzeit gegen Serbien lag der Wert bei 1,6 Sekunden. Da ist alles ein bisschen zähflüssig gewesen.

Inwiefern kann die Mannschaft aus dem Stand solche Werte erreichen?

Wir arbeiten daran. Sonst hätte es diese signifikante Verbesserung nicht gegeben. Andere Trainer wollen vielleicht viel Ballbesitz, den Gegner laufen lassen, das Spiel kontrollieren. Da haben die Spieler ganz andere Ballbesitzzeiten. Dieser Weg kann auch zum Erfolg führen. Mir sind andere Faktoren wichtig: Ich möchte keine dummen Foulspiele, ich möchte Bälle gewinnen. In der Bundesliga führen 44 Prozent der Freistöße, die aus unnötigen Fouls resultieren, zu Toren oder Großchancen. Ich möchte das Spiel nicht durch Fouls unterbinden, ich möchte schnelle Ballzirkulation Richtung Tor.

Wann braucht die Mannschaft diese intensive Vorbereitung nicht mehr?

Es ist für jede Mannschaft besser, wenn sie eine längere Vorbereitung hat: für Bayern München, für den FC Barcelona, für Spanien, für Deutschland. Selbst die beste Mannschaft kann nicht den besten Rhythmus finden, wenn sie sich heute trifft und morgen spielen muss. Das ist aber nicht zwangsläufig so. Entscheidend ist die Spielweise, die wir uns über Jahre erarbeitet haben. Da kann es zwar Brüche geben, aber die Gesamtkurve muss stimmen.

Die Fragen stellten Stefan Hermanns und Michael Rosentritt.

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