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Die Karriere von Michael Ballack in der Nationalmannschaft ist beendet. Unvollendet.

© dapd

Michael Ballack: Das Ende einer Karriere: Der Tag, der ein Jahr dauerte

Bundestrainer Joachim Löw erklärt die Nationalmannschaftskarriere von Michael Ballack für beendet – sie endet unvollendet.

Man kennt das vom Boxen her, wenn ein ewiger Sieger plötzlich verliert, und über Nacht ein alter Mann wird. Einfach so, von einen auf den anderen Tag. So was soll es auch im Fußball geben. Wann war dieser Tag für Michael Ballack?

Am Donnerstag war es jedenfalls nicht, als Joachim Löw bekannt gab, dass er nicht mehr mit Michael Ballack plane. Nun sei der Zeitpunkt gekommen, „hier klar Position zu beziehen“, sagte der Bundestrainer. Der richtige Zeitpunkt? Ist der nicht schon lange verstrichen?

War es dieser Tag im Mai vergangenen Jahres, als ihm im englischen Pokalfinale Kevin-Prince Boateng in die Knochen fuhr; ein scheußlicher Tritt. Ballack musste seine Teilnahme an der Weltmeisterschaft in Südafrika absagen, und es war auf den ersten Blick nicht klar, wen es mehr schmerzte: ihn, den eigentlich Unersetzlichen, der seine letzte Chance auf einen großen Titel schwinden sah, oder der Nationalmannschaft?

Das deutsche Team erwischte die Nachricht zu Beginn ihrer WM-Vorbereitung wie eine Naturgewalt. In den Medien war die Rede von einer Katastrophe nationalen Ausmaßes. Die ARD setzte einen Brennpunkt an, in dem die deutsche Elf zum Außenseiter degradiert wurde. Vielen flog an diesem Tag der eine Satz von Rudi Völler durch den Kopf, der als Teamchef mal gesagt hatte, wonach alles passieren könne, nur Michael Ballack nicht ausfallen dürfe. Eine Aussage, die für den deutschen Fußball galt wie ein Naturgesetz.

Für die deutschen Fußballfans war es ein trauriger Tag, für Michael Ballack aber ein tragischer. Bis dahin war er der einzige deutsche Spieler von Weltformat, er hatte die Nationalmannschaft ein Jahrzehnt geprägt, aber seine letzte Chance auf einen großen Titel war zerschellt am Fuß eines Gegners.

Tatsächlich gibt es wenige Spieler, die als Fußballer eine Dekade so geprägt haben. Es war ein Jahrzehnt, in der es hierzulande nicht viele sehr gute Fußballer gab. Was es Ballack zwar leichter machte, herauszustechen, andererseits aber schwieriger, Titel zu gewinnen. Heute weiß Joachim Löw gar nicht, wen er von den vielen aufstrebenden Talenten draußen lassen soll. Neulich in Baku war Philipp Lahm, der Ersatzkapitän, mit 27 Jahren der älteste Spieler in der deutschen Elf. Was also wurde Ballack zum Verhängnis? Sein Alter? Seine Verletzung? Die fehlenden guten Spieler an seiner Seite? Oder doch die geballte Ladung von Klassespielern heute, die ihn überflüssig haben werden lassen?

Seit der WM 2010 hatte Ballack den Nimbus der Unersetzbarkeit eingebüßt. Seine Nachfolger im Zentrum der deutschen Elf heißen Bastian Schweinsteiger und Sami Khedira. Und jetzt, da Ballacks Qualitäten auf dem Rasen nicht mehr fehlen, fragt niemand mehr nach seinem Führungsstil als Anführer.

Als Ballack während des Turniers nach Südafrika zur Mannschaft flog, musste er feststellen, dass niemand auf ihn wartete. Er fand ein funktionierendes Gebilde vor, in dem jeder seine Aufgabe hatte. Nur er nicht mehr. Ballack blieb außen vor und fühlte sich unwohl. „Er hat gespürt, dass er in dem Moment kein Teil der Mannschaft war“, hat Löw vor ein paar Tagen erzählt: „Gerade für Michael war das nicht leicht, er war ja schon bei so vielen Turnieren dabei und der Mittelpunkt.“

War das also der Moment, an dem die Zeit über ihn hinweg gegangen war?

Und wenn ja, warum hat er es nicht gemerkt? Und wenn nicht, warum hat es ihm niemand gesagt. Alle spürten es, als die junge Mannschaft in Südafrika erst England und dann Argentinien aufmischte. Alle, Trainer, Spieler, Gegner. Keiner hat es gesagt. Bis heute nicht. Warum hat dieser Tag für Ballack ein Jahr gedauert?

Lesen Sie auf Seite zwei, warum dieser Tag für Ballack ein Jahr dauerte.

Der Gewaltschuss gegen Österreich bei der EM 2008 rettete Löw den Job.
Der Gewaltschuss gegen Österreich bei der EM 2008 rettete Löw den Job.

© REUTERS

Tritt mit Folgen. Am 15. Mai 2010 zerbrach Michael Ballacks Traum von der WM 2010. Im englischen Pokalfinale fuhr ihm der Berliner Kevin-Prince Boateng vom FC Portsmouth derart in den Knöchel, dass er daraufhin seine WM-Teilnahme absagen musste. Von da an spielte Ballack nie wieder für Deutschland.
Tritt mit Folgen. Am 15. Mai 2010 zerbrach Michael Ballacks Traum von der WM 2010. Im englischen Pokalfinale fuhr ihm der Berliner Kevin-Prince Boateng vom FC Portsmouth derart in den Knöchel, dass er daraufhin seine WM-Teilnahme absagen musste. Von da an spielte Ballack nie wieder für Deutschland.

© REUTERS

Die Gründe hierfür liegen in der Karriere Ballacks verteilt. Eine Karriere, die ihren Ursprung im DDR-Sport hatte, die von Chemnitz aus über Kaiserslautern, Leverkusen, München bis nach London führte. Er hat ein Dutzend Titel gewonnen in Deutschland und England. Titel, die für mehrere Karriere reichten. Nein, es waren die großen Finals, die er erreicht und verloren hatte, die ihn trieben. Sie sind der Grund dafür, weswegen seiner einzigartigen Karriere das Adjektiv unvollendet anhaftet. So paradox es klingen mag, obwohl Ballack nie einen großen Titel gewann, galt er bis zu jenem Maitag 2010 immer noch als das größte Versprechen darauf, dass Deutschland ein großes Turnier gewinnt. Das wird es wohl auch, aber ohne Ballack. Selbst ein letzter kleiner Trost, die Aufnahme im exklusiven Klub der Hunderter, jener Spieler, die es auf 100 Länderspiele gebracht haben, wird ihm verwehrt bleiben. Sollte Ballack am 10. August in seinem Abschiedsspiel die deutsche Elf als ihr Kapitän aufs Feld gegen Brasilien führen, wäre es sein 99. Länderspiel. Vielleicht lässt er es auch weg.

Hat keine 100 geschafft, wird es hinterher so heißen? So, wie es immer hieß: Der Ballack gewinnt keinen großen Titel. Wer fragt, dass Ballack die bedeutendsten Finals des Fußball erreicht hat? WM- und EM-Finale sowie zweimal das Endspiel der Champions League. Er hat mal erzählt, dass es ihn störe, darauf reduziert zu werden. Er hat gesagt, dass es eben kaum deutsche Spieler gibt, die so viele Finals erreicht hätten wie er. „Muss ich mich dafür schämen?“

„Weltmeister bleibt man für immer“, ist noch so ein Satz von Rudi Völler, der Ballack im vorigen Sommer wieder zurück nach Leverkusen holte. Völler ist 1990 Weltmeister geworden. 21 Jahre ist das jetzt her. Seitdem hat Deutschland diesen Titel nicht wieder gewonnen.

Es war die Zeit der deutsche Wende. Michael Ballack war 13, als die Mauer fiel. Schon deswegen waren Günter Netzers Einlassungen mindestens haltlos als er vor ein paar Jahren Ballack Führungsqualitäten absprach, weil dieser im DDR-Kollektiv sozialisiert worden sei. Ballack, der in Görlitz geboren wurde und in Karl-Marx-Stadt aufwuchs, hatten Netzers Aussagen nach außen hin kaltgelassen. Ist er am Ende so geworden als Anführer? Einer, der von oben führte, bisweilen harsch und rüde in der Kritik seinen Mitspielern gegenüber. Ballack gab Ton und Takt vor, was selbst der Bundestrainer zu spüren bekam. Philipp Lahm dagegen, den Löw bei der WM zum Ersatzkapitän ernannte, ist kein Alphamännchen. Lahm schätzt flache Hierarchien und ist „ein kommunikativer Typ, der auch außerhalb des Platzes sympathisch sein will“, wie er es einmal sagte.

Bereits nach der EM 2008 hatte Ballack Löw mangelnden Respekt im Umgang mit verdienstvollen Spielern vorgeworfen. Dieser hatte Ballacks Adjutant Torsten Frings nicht mehr berücksichtigt und diesen einem Konkurrenzkampf ausgesetzt, den Frings nach Ballacks Dafürhalten nicht mehr gewinnen konnte. Schwante ihm da, dass er diesen Kampf auch für sich führte, wenn der Tag bei ihm gekommen sei? Einerseits. Doch gerade wegen seiner Verdienste hat Löw eine Entscheidung im Fall Ballack lange offen gehalten.

Eigentlich konnte man sich die Nationalmannschaft ohne Ballack gar nicht mehr vorstellen. Ballack war der einzige Deutsche, den die Gegner wirklich fürchteten. Er war die Figur, die das Spiel in seinem Zentrum zusammenhielt. Oliver Bierhoff, der Manager der Nationalmannschaft, hat mal gesagt: „Michael ist ein Leader. Er hat das große Bild im Kopf, er muss die Mannschaft führen.“

Lesen Sie auf Seite drei mehr über Ballacks letztes Länderspiel.

Ballacks letztes Länderspiel war das gegen Argentinien im März 2010. Seitdem ist viel passiert. Inzwischen führen andere die Mannschaft, im Kollektiv. Seit Südafrika hat die Mannschaft ihre sieben EM-Qualifikationsspiele gewonnen. Ballack versuchte derweil in Leverkusen noch einmal auf die Beine zu kommen und Anschluss zu finden. Er verletzte sich erneut, und fiel zurück. Löw hat ihn nie wieder nominiert. Hat Ballack irgendwo mittendrin die Schlacht verloren? Eine Schlacht, in der er gar nicht auf dem Feld stand?

Michael Ballack hat seine Stellung, seine Autorität und ja, auch sein Ego, aus seiner sportlichen Leistung und der Wichtigkeit für die Mannschaft gezogen. Und Ballack war wichtig. Auch das hat ihn sein Fußballerleben lang begleitet. Schon zu Zeiten, als er noch in Chemnitz spielte. Wenn seine Mitspieler erfuhren, dass Ballack zwei Tage vor einem Spiel mal wieder in der Disco war, was eigentlich verboten war, dann hielten sie den Mund. Denn Ballack war es, der ihnen oft genug ihre Siegprämie sichert.

Was also prägte Ballack mehr, seine Herkunft, oder dass er in einer Zeit groß wurde, in der es so gut wie keine Talente gab, maximal Mitläufer. Ist Ballack am Ende deswegen so hart zu sich an anderen geworden, weil er gern ein paar Spieler der heutigen Generation um sich gehabt hätte, mit denen die Chancen auf einen Titel größer gewesen wären? Einen Özil, Müller, Götze? Hieß es nicht immer: Ein Ballack reicht nicht! Und war es nicht so, dass er, wenn mal wieder kein Titel heraussprang, zum Schuldigen gemacht wurde?

Joachim Löw hat – wenn man es positiv wenden will – lange auf Ballack gewartet. Er hat ihn nicht zum Rücktritt aus der Nationalmannschaft überredet wie einst Jens Lehmann oder einfach aussortiert hat wie Frings. Selbst Löw, der sich die mediale Macht teilen musste, solange Ballack noch dabei war, hat sich das Ende dieses Spielers anders vorgestellt. In der öffentlichen Wahrnehmung agierte Ballack als eine Art Gegengewicht, obgleich beide selten unterschiedlicher Meinung waren. Ballack hatte eine Bedeutung, wie selten zuvor ein Spieler. Es war ja auch Ballacks Genius, der den deutschen Fußball über viele Abgründe hinweg hievte. Ohne Ballack wäre das Jahrzehnt um einiges schlechter ausgefallen als die Vizeweltmeisterschaft 2002, der dritte Platz bei der WM 2006 und die Endspielteilnahme bei der EM 2008. Deutschland war erfolgreich, weil Ballack gut war. Das mag heute mancher nicht hören, weil es ein paar Begleiterscheinungen mit sich brachte. Etwa die Sonderstellung auf dem Platz, in der Werbung und den Medien.

Löw war damals gerade arbeitslos, als Ballack sich bei der WM 2002 im Halbfinale zu einem Foul an einem Südkoreaner entschloss, von dem er wusste, dass es ihn die Finalteilnahme kosten würde. Er sah die Gelbe Karte, seine zweite, und war damit gesperrt. Minuten später erzielte Ballack das 1:0, das die Deutschen ins Endspiel brachte. Sechs Jahre später, bei der EM 2008, rette sein Gewaltschuss über Österreich Löw den Job. Und nun? Wer rettet Ballack?

Michael Ballack ist die Zeit davongerannt. Oder ist er ihr hinterhergerannt? Im September wird er 35. Warum hat er sich dieses Jahr angetan? Wusste er es nicht besser? Konnte er nicht loslassen?

Heute erscheint einem Ballack wie einer, der aus der Zeit gefallen ist. In Wirklichkeit ist sie über ihn hinweggegangen, ohne dass er die Chance hatte, den Mantel der Geschichte zu ergreifen. Das Glück, dass etwa auf politischer Ebene ein Helmut Kohl hatte. Dessen Tage als Kanzler waren gezählt, bis ihn das große Glück des Mauerfalls streifte. Kohl griff zu, setzte sich an die Spitze der Bewegung, hatte noch ein paar bedeutungsvolle Jahre in Amt und Würden und heute seinen festen Platz in der deutschen Geschichte. Und Ballack?

Michael Ballack sucht noch seinen Platz in der Historie des deutschen Fußballs. Man will ihm einen besonderen einräumen. Aber alle spüren und wissen, dass irgendetwas fehlt.

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