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2012 hält ein Fotograf die Bauarbeiten am BER im Bild fest. Im Juni des Jahres hätte der Flughafen eröffnen sollen.

© Patrick Pleul/dpa

1.000 Tage BER-Nichteröffnung: Potztausend!

Zahlen sprechen ihre eigene Sprache. Und diese eine ist von überragender Bedeutung. Mit dem Erreichen der Tausend-Tage-Frist ist der Flughafen BER in eine neue Dimension eingetreten. Aber woher kommt unsere Fixierung auf die runden Gedenktage?

Es war einmal eine Königstochter, die war schöner als die Sonne, sie war schöner als der Mond und die Sterne. Und weil sie so schön war, nannten sie alle Prinzessin Tausendschön.

Es war einmal ein Flughafen, der wurde gebaut und gebaut, und als der Tag seiner Einweihung kam, da wurde er immer noch gebaut. Es vergingen die Wochen, es vergingen die Jahre, da waren die Bauarbeiter noch immer am Werk. Und weil das am tausendsten Tag nach der verschobenen Eröffnung noch immer so war, nannten ihn alle Flughafen Tausenddumm.

Und das ist auch gut so. Denn mit dem Erreichen der Tausend-Tage-Frist ist der BER in eine neue Dimension eingetreten. In die Dimension des Mythischen, womöglich gar des Magischen. Zahlen sprechen ja ihre eigene, nicht immer ganz verständliche Sprache. Und da ist die Tausend von überragender Bedeutung. Denn sie bedeutet zehn mal zehn mal zehn. Und die Zehn war seit jeher, zumindest aber seit dem griechischen Mathematiker Pythagoras, die Zahl, die die Vollkommenheit schlechthin ausdrückte. Und wenn sich dann die Zehn in die dritte Potenz begibt, dann ist die Vollkommenheit so vollkommen, dass sie jegliches denkbare menschliche Maß übersteigt. Sie verlässt die Ebene der zählbaren Zahlen, wird sozusagen unberechenbar. Und verweist damit auf die Unendlichkeit. Was im Zusammenhang mit dem BER-Flughafen so abwegig nicht ist.

Die Zahl Tausend hat eine düstere Facette

Weil das Unendliche nicht nur zahllose Geheimnisse birgt und unbekannte Gefahren, hat die Zahl Tausend seit jeher auch eine düstere Facette gehabt. So wurde zu Zeiten der D-Mark die Tausender Banknote allgemein „der Grimmige“ genannt, was natürlich zunächst auf die Abbildung der Brüder Grimm zurückging. Dennoch hat das Wort einen Nachhall – vor allem wahrscheinlich bei jenen, die einen solchen Geldschein nie im Leben zu Gesicht bekamen.

Hauptsächlich aber geht die beängstigende Seite der Tausend auf die Bibel zurück. Weil der Apostel Johannes in seiner Geheimen Offenbarung von der Wiederkehr Jesu im Jahr 1000 geschrieben hatte, vermutete die Christenheit in eben diesem Jahr den Weltuntergang. Was die Endzeitstimmung des sogenannten Chiliasmus auslöste, und zu Furcht, Schrecken, verzweifelten Gebeten, aber auch zu haltlosen Ausschweifungen führte. Wie man weiß, ist damals dann doch nichts Ernsthaftes passiert, was die Menschheit das zweite Millennium vor 15 Jahren gelassener erleben und sich in der Hauptsache um die Sicherheit ihrer Computerprogramme sorgen ließ. Darüber hinaus zeugt die Tausend auch von Größenwahn und Übertreibungen. Hitlers „Tausendjähriges Reich“ ist ein Beispiel dafür.

Mag die Tausend auch von unerreichter Erhabenheit sein, auch die anderen Zahlen tragen schwer an geheimnisvollen Bedeutungen. So verkörpert etwa die Eins das Symbol des Göttlichen schlechthin. Die Drei die göttliche Dreifaltigkeit mit der theologisch-arithmetischen Verblüffung „drei gleich eins“. Die Sieben die Anzahl der Todsünden und die Tage der Schöpfung. Elf: Unvollkommenheit, kleinste Schnapszahl und Karnevalsbeginn. Dreizehn: Unglückszahl schlechthin. Vierzehn: Heilige, die in der Not anzurufen sind. Dreiundzwanzig: Zahl der Zerstörung bei den Illuminaten. Die Reihung ließe sich fortsetzen – bis ins Unendliche.

Orientierungsversuche in einer komplizierten Welt

All das sind Orientierungsversuche in einer allzu komplizierten Welt, die nach Zuschreibungen sucht, die das Nüchterne, Bedeutungslose der Zahlen mit Bedeutungen auflädt. Ganz unverständlich ist das natürlich nicht. Es ist der Versuch, dem Unbelebten ein Leben einzuhauchen. Denn man kann zwar abstrakt rechnen, aber abstrakt empfinden kann man nicht. Darum müssen die Zahlen, die uns im Leben auf Schritt und Tritt begegnen und beschäftigen, ein Gesicht bekommen. Müssen etwas Zusätzliches erhalten, was über ihren Zahlenwert hinausweist. Sie müssen unsere Freunde werden, womöglich auch unsere Feinde. Auf jeden Fall aber müssen Zahlen eine Seele bekommen.

Mathematiker, denen Zahlen die geläufige Ware ihres Gewerbes sind, werden das naturgemäß anders sehen. Ihr Blick darauf ist kühler und gewiss so rational wie der Blick des Chirurgen ins offene Herz. Fragen wir also einen.

Professor Günter M. Ziegler von der Freien Universität Berlin teilt diese Ansicht keineswegs. Auch für ihn können Zahlen etwas Besonderes haben, eine Schönheit hier, eine Banalität dort, keine ist wie die andere. Viel spannender als die plumpe Tausend findet er zum Beispiel die 1024, sehr interessant für Informatiker, ist sie doch zwei hoch zehn, hat elf Teiler und jede Menge anderer Besonderheiten, „eine sehr spezielle Zahl“. Oder die 24, weil sie ein Polyeder beschreibt, einen Platonischen Körper im vierdimensionalen Raum. Während „die 91 nicht so viel hergibt": Sieht aus wie eine Primzahl, aber der Schein trügt (sieben mal dreizehn).

Zahlen werden zu Glücksbringern oder zu Teufelskerlen

Für den Laien sind solche Vorlieben eher schwer verständlich. Er hält sich lieber an einfachere Zuschreibungen, wie sie etwa bei der Benennung von Hochzeitstagen sichtbar werden. Die puren Zahlen genügen offenbar nicht, sie brauchen Namen. Da gibt es nicht nur die Silberne Hochzeit und die Goldene, sondern auch die Hölzerne für fünf Jahre, die Rosenhochzeit für zehn, die Porzellanhochzeit für zwanzig oder die Perlenhochzeit für dreißig. So erwachen Zahlen zum Leben.

Solcherart beseelt werden Zahlen zu Glücksbringern oder zu Teufelskerlen. Unser Alltag ist umstellt von ihnen. Ein Würdenträger ist hundert Tage im Amt, schon gibt es Anlass, das Datum zu feiern. Der Weltkrieg jährt sich, der Erste, der Zweite, der Anfang, das Ende, der Mauerbau, der Mauerfall, die Kanzlerschaft Kohls, die Kanzlerschaft Schmidts, die Kanzlerschaft Schröders, Mozarts Todesjahr, Goethes Geburtsjahr, die Schüsse auf Kennedy, auf Johannes Paul II., auf Rudi Dutschke. Es jährt sich etwas, jeden Tag jährt sich etwas. Und wenn sich etwas Rundes jährt, zehn, zwanzig, dreißig, dann jährt es sich doppelt so gut.

Ordnung muss sein

Aber woher kommt diese Fixierung auf die runden, gefälligen Gedenktage? Könnte man nicht auch den 223. Geburtstag von Beethoven begehen oder den 13. von Nine Eleven? Es wäre gar kein Unterschied, das Gedenken wäre genauso würdig. Und doch warten alle geduldig, bis sich wieder einmal ein Gedenkjahr zur Zehn gerundet hat. Warum nur? Weil Ordnung sein muss.

Weil Zahlengerüste Ausdruck von Harmonien sind. Auch die Harmonie in der Musik ist ja nichts anderes als ein rechnerisches System (die ihre Gipfel selbstverständlich immer dann erreicht, wenn dieses System wohlberechnet durchbrochen wird). Diese Harmonien grundieren das Leben, geben Zuverlässigkeit, Struktur und oft auch die Wiederkehr des Immergleichen, was für die Ökonomie des Gefühlshaushalts nicht unbedingt das Allerschlechteste ist. Warum aber müssen diese Daten immer mit der Zehnerzahl zu tun haben? Weil der Mensch zehn Finger hat.

Spezielle, geheimnisvolle Vorstellungen von Zahlen

Wahrscheinlich ist das der Grund, weshalb sich in den meisten Teilen der Welt das Dezimalsystem durchgesetzt hat. Es ist relativ einfach zu bedienen, da es nicht nur dem Kopf einleuchtet, sondern auch dem Körper. Es schließt unmittelbar an eine Körpererfahrung an. Bis zehn können die Finger zählen, und alle anderen Zahlen im Dezimalsystem sind nichts als Ableitungen davon. Die Zehn ist das Ende aller Ziffern, sie erscheint als magische Grenze, als Vollendung der Zahlen – und wächst deshalb über sie hinaus. Darum die zehn Gebote, es hätten ja auch neun oder elf sein können; darum die zehn biblischen Plagen; der Zehnte als früheste Steuer der Geschichte; die zehn Schwerter in den Tarot-Karten; die Summe der ersten vier Zahlen; die zehn Stämme Israels; die Rückennummer des Spielmachers in Fußballmannschaften. Selbst in traditionsbrechenden Systemen hat die Zehn Bedeutung erlangt: Auch der Französischen Revolution war die Zehn von besonderer Bedeutung. Sie schuf die Zehn-Tage-Woche.

Ganz besonders wild geht es mit der Zahlensymbolik in der Kabbala zu, der mystischen Tradition des Judentums, die sich im 15. Jahrhundert auch Christen aneigneten. Hier existieren sehr spezielle, geheimnisvolle Vorstellungen von Zahlen. Da jeder Zahl eine bestimmte Bedeutung zugeordnet ist, lassen sich durch deren geschickte Kombinationen die verblüffendsten Weissagungen, Prophetien und Verschwörungstheorien entwickeln. Was durchaus auch auf den BER anzuwenden wäre. Addiert man zum Beispiel die Geburtsjahre von Klaus Wowereit und Hartmut Mehdorn und teilt diese Summe durch die Zahl der geplanten BER-Anflugrouten – es müsste mit dem Teufel zugehen, wenn da nicht die Zahl Tausend herauskäme. Jedenfalls beinahe.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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