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Der Offizier Harald Jäger trifft unter dem Ansturm der Massen am Grenzübergang Bornholmer Straße die Entscheidung seines Lebens: Wir fluten!

© epd

9. November 1989: Der Ausbruch - Geschichten vom 9. November 1989

Eine Physikerin fährt in die Sauna, ein Chefredakteur hat Angst vor morgen, und ein Pfarrer bereitet sich auf die Demo vor. Vor ihnen liegt die wichtigste Nacht ihres Lebens. Aber das ahnt am 9. November 1989 selbst nachmittags kein Mensch.

In der Nacht überquerte eine Kaltfront die Stadt. Das Tief hatte sich über Südengland gebildet, am frühen Morgen zog sein schmales Regengebiet ostwärts ab. Vielleicht fallen der jungen Wissenschaftlerin noch die letzten Tropfen ins Gesicht, als sie ihre Zwei-Zimmer-Wohnung in der Schönhauser Allee 104 verlässt und nach Adlershof fährt, ins Zentralinstitut für Physikalische Chemie. Es ist der 9. November 1989. Jeden Morgen beginnt sie um 7.15 Uhr mithilfe eines sowjetischen Computers über neue Verfahren der Plasteherstellung nachzudenken. Der Computer braucht Lochkarten zum Rechnen. Soweit ihre Aussichten, aber da ist noch eine: Heute ist Donnerstag, donnerstags geht sie in die Sauna, zur Saunaperle Knoppich im Thälmannpark. Sie gehört keiner Partei an, keiner Oppositionsgruppe, keiner Bürgerbewegung, sie gehört zur Internationale der Saunagänger. Schweigen und schwitzen. Schwitzen und schweigen. Noch zwölf Stunden bis zum ersten Aufguss!

Der Chefredakteur der „Jungen Welt“ fühlt seit kurzem ein gewisses Unbehagen, wenn er der Tatsache ins Auge blicken muss, dass ein neuer Tag beginnt. Nicht, dass er feige wäre, im Gegenteil. Es hat ihn nie gestört, gegen eine Welt zu stehen. Er stellte sich und seine Zeitung im Juni am Tiananmen fest an die Seite der chinesischen Genossen, er pflegt keinen Unterschied zu machen zwischen Bürgerrechtlern, Skinheads und Westmedien und hält dies für die tiefere Sicht der Dinge. Seine Zeitung hat eine Auflage von 1,5 Millionen, sie gilt im Unterschied zum „Neuen Deutschland“ als weitgehend lesbar, wenn nicht originell. Ist er gar der wichtigste Mann im Staat? Als Hintergrundmensch besitzt er das Talent des Hintergrundmenschen, still seine Wirkung zu genießen. Er ist ein Pathetiker, leidensfähig für das, was er für das Gute hält. Aber er muss mit allen Sinnen daran glauben können.

Wie soll er das Gefühl nennen? Angst?

Etwas ist anders geworden. Soll er das Gefühl, das er nicht mehr los wird, Angst nennen? Und was hat es zu bedeuten, dass es Momente gibt, die ihn glücklich machen in diesem Herbst, obwohl sie ihn nicht meinen, ja, obwohl sie ihn ausschließen? Ein neuer Tag, eine neue Zeitung.

Während Hans-Dieter Schütt beginnt, die „Junge Welt“ vom 10. November vorzubereiten – sie werden wohl mit der ZK-Tagung aufmachen müssen –, sitzt eine Sekretärin im Westteil der Stadt im Kinderzimmer ihrer Freunde und beginnt Kisten zu packen. Heute zieht sie um, in ihre erste eigene Wohnung im Westen. Sie kann nicht ewig in einem leer geräumten Kinderzimmer schlafen. Ihr Name ist Karin Gueffroy, am 5. Februar starb ihr Kind an der Berliner Mauer, im September war sie ausgereist. Ein neues Zuhause? Dieses Wort meint sie nicht mehr. Der Leiter der Hauptabteilung Pass- und Meldewesen, Oberst Gerhard Lauter brütet seit 9 Uhr über einer neuen Ausreiseregelung. Die CSSR hatte der DDR am Vortag ein Ultimatum gestellt: Ab sofort keine Ausreisen mehr über ihr Gebiet!

Eine Frau steht am Grenzübergang Friedrichstraße und will - in die DDR

Der Offizier Harald Jäger trifft unter dem Ansturm der Massen am Grenzübergang Bornholmer Straße die Entscheidung seines Lebens: Wir fluten!
Der Offizier Harald Jäger trifft unter dem Ansturm der Massen am Grenzübergang Bornholmer Straße die Entscheidung seines Lebens: Wir fluten!

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Und dann klart es auf. Seltsam ist es schon, dass beide Teile Berlins das gleiche Wetter haben, bemerken ein paar Rentner, die am Grenzkontrollpunkt Friedrichstraße für ein paar Stunden das System wechseln wollen, von West nach Ost. Aber es geht nicht vorwärts. Vorn steht eine junge blonde Frau, die alles aufhält. Die Rentner beginnen zu murren, dann schimpfen sie. Es sind Westrentner, die anderen würden sich besser benehmen. Irgendwann dreht die Blonde sich um, erklärt etwas, worauf der Chor der Veteranen zu fordern beginnt: „Reinlassen! Reinlassen! Reinlassen!“ Ein bundesdeutsches Kamerateam streift durch Ostberlin. Es findet nichts als November. Zwei Polizisten fangen vor dem Palast der Republik einen Schwan. Ein junger Arbeiter spricht in die Kamera: „Wir haben eine Weltanschauung, obwohl wir uns die Welt noch gar nicht angeschaut haben. Das ist es doch.“ Ist es das?

Sollen für oder dagegen demonstrieren?

Ein paar Meter von Spree und Schwan entfernt findet die 10. Tagung des Zentralkomitees der SED statt, zweite Runde. Gestern waren viele Genossen spontan vor dem ZK zusammengeströmt, sie wussten nicht genau, ob sie für oder gegen das neue Politbüro demonstrieren sollten, denn das neue ist im Grunde das alte. Sie sangen die Internationale, sie sangen sich Mut an. Die SED hat mehr als zwei Millionen Mitglieder. Wahrscheinlich treten die meisten im Geist gerade aus. Der NBC-Reporter Tom Brokaw fliegt inzwischen über den Atlantik, wegen diesem „Parteitagsscheiß“ (Originalton Brokaw), er weiß wirklich nicht, ob das eine gute Idee war. In der sowjetischen Botschaft und in Moskau klingeln die Telefone Daueralarm. Krenz’ Mitarbeiter müssen die Genossen sprechen! In Mauerdurchlassfragen sind sie nicht entscheidungsberechtigt. Doch die sowjetische Partei- und Staatsführung hat soeben den 72. Jahrestag der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution gefeiert, es war ein mehrtägiges kollektives Blackout. Niemand nimmt ab. „Reinlassen! Reinlassen! Reinlassen!“

Die Frau am Grenzübergang Friedrichstraße ist Vera Wollenberger, sie kommt genau wie das Tief über Berlin aus Südengland. Cambridge ist ihr Verbannungsort, gewissermaßen, die DDR hatte sie im Februar 1988 ausgewiesen, nachdem sie Rosa Luxemburg zitiert hatte. „Freiheit ist immer die Freiheit …“ Jetzt knallte sie den Grenzpolizisten ihren Ausweis auf den Tisch: „Ich muss hier rein!“ Sie will zum Volksbildungsministerium, sie hat es ihrem Sohn versprochen. Philipp, der mit sieben seiner Freunde von der Schule flog, weil sie vorgeschlagen hatten, den Republikgeburtstag statt mit einer Militärparade mit einem Volksfest zu feiern. Philipp ist jetzt in Cambridge, aber seine Freunde? Vera Wollenberger hat ihrem Kind versprochen zu helfen. Sie geht hier jetzt nicht weg.

Was, wenn alles nur eine Simulation war?

Günter Schabowski ist der neue Pressesprecher des ZK, genauer: Beauftragter für den „Umgang mit den Medien“. Bis gestern hieß die Funktion „Beauftragter für Lenkung und Anleitung der Medien“. Aber Chefredakteur Schütt musste nie jemand anleiten, das macht er selbst. Doch was, wenn alles nur Simulation war, wenn er in einer Scheinwelt gelebt hätte? Die alten Genossen waren im Untergrund sozialisiert worden, weshalb sie den Staat wie eine konspirative Zelle leiteten. Bei ihm war das anders.„Sie werden in diesem Land nie eine Rolle spielen!“, hatte einst ein Lehrer zu ihm gesagt. Seitdem beweist er das Gegenteil. Am 4. November sah er auf dem Alexanderplatz ein Transparent, das forderte „Schütt zu Schnitzler!“. Er schaute unwillkürlich nach dem Loch im Erdboden, das für solche Gelegenheiten vorgesehen ist. Das Land zerfällt vor aller Augen, zugleich baut sich von innen ein enormer Druck auf. Am Ende ist eben doch alles Physik. Oder sollte man von paradoxer Physik sprechen? Wann beginnen die Ersten von einer „Ventillösung“ zu sprechen? Die Adlershofer Physikerin ist Spezialistin für auseinanderstrebende Verbindungen, drei Jahre zuvor hat sie über das Thema „Untersuchung des Mechanismus von Zerfallsreaktionen mit einfachem Bindungsbruch und Berechnung ihrer Geschwindigkeitskonstanten auf der Grundlage quantenchemischer und statistischer Methoden“ promoviert. Natürlich musste sie auch eine Arbeit in Marxismus/Leninismus schreiben, ihr Thema: „Was ist sozialistische Lebensweise?“. Noch acht Stunden bis zum ersten Aufguss! In Rostock demonstrieren sie wieder. 40 000 Menschen

Der Offizier Harald Jäger trifft unter dem Ansturm der Massen am Grenzübergang Bornholmer Straße die Entscheidung seines Lebens: Wir fluten!
Der Offizier Harald Jäger trifft unter dem Ansturm der Massen am Grenzübergang Bornholmer Straße die Entscheidung seines Lebens: Wir fluten!

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„Reinlassen! Reinlassen! Reinlassen!“ Irgendwann geben die Grenzer auf: „Gehen Sie!“ Dann trifft Vera Wollenberger der Schock. „Es roch wie DDR, es sah aus wie DDR.“ Würde man sie je wieder rauslassen? Und Vera Lengsfeld, damals Wollenberger, fährt statt zum Volksbildungsministerium geradewegs zum Polizeipräsidium am Alexanderplatz. Sie braucht ein Wiederausreisevisum! Vorher kann sie keinen klaren Gedanken fassen.
In Rostock bereitet sich der Pfarrer der Marienkirche auf die abendliche Demonstration vor. Es ist zwar Donnerstag, aber die Montagsdemonstrationen finden in Rostock immer am Donnerstag statt.
Autos aus den Nordbezirken wurden bereits mit Schimpfwörtern bemalt und Mecklenburger an sächsischen Tankstellen nicht mehr bedient, weil sich nichts tat da oben im Norden. Auch Pfarrer Joachim Gauck wäre von selbst kaum auf die Idee der Widerständlerei verfallen, aber als man ihn fragte, wollte er nicht nein sagen.
Vera Wollenberger wartet seit Stunden im Polizeipräsidium.

Auftritt Schabowski

18 Uhr. Die Pressekonferenz des Zentralkomitees beginnt. Auftritt Schabowski. Was redet der denn für einen Dünnschiss?, fragt in der Kantine des Grenzkontrollpunktes Bornholmer Straße der Oberstleutnant Harald Jäger. Er ist der Einzige, der zugehört hat. Zur selben Zeit übt ein Ostberliner Tischler-Ehepaar im Kirchenchor ein Weihnachtslied: „Macht auf die Türe, die Tor macht weit …“, während sich im Französischen Dom gleich die Oppositionsgruppen des Landes zu einem gegenseitigen Kennenlernen treffen. Sie träumen von einer neuen DDR, sie glauben an einen Dritten Weg. Kein Mensch denkt an die Mauer. 18.57 Uhr. Die Physikerin ist wieder zu Hause. Sie packt ihre Saunasachen und stellt kurz den Fernseher an. Die Mauer ist auf! Nicht schlecht, denkt Angela Merkel und geht – in die Sauna. Gegen 20 Uhr trifft sie bei Sauna-Perle Knoppich ein. Und dann kommt er, der erste Aufguss! Bürgerrechtlerin Vera Wollenberger hat ihr Ausreisevisum, nach einem ganzen Tag im Flur des Polizeipräsidiums. Als sie hört, dass sie es nicht mehr braucht, fährt sie zu Christa Wolf und fragt, ob sie Präsidentin der DDR werden will.

Joachim Gauck sagt: "Bleiben Sie mal auf dem Teppich."

In Rostock demonstrieren am Abend 40 000 Menschen. Als der Pfarrer der Marienkirche von der Rednertribüne steigt, treten zwei Polizisten auf ihn zu. In Berlin falle die Mauer. Joachim Gauck antwortet: „Meine Herren, bleiben Sie mal auf dem Teppich und machen Sie weiter ihren Dienst!“ Das Ehepaar, das eben noch „Macht auf die Türe, die Tor macht weit …“ gesungen hat, geht noch ganz allein über die dunkle Bösebrücke in den Westen, im Pass ist ein Stempel überm Lichtbild, der bedeutet: „Wiedereinreise verweigert“, aber das wissen sie nicht. Karin Gueffroy ist müde vom Kistentragen und Auspacken. Die erste eigene Wohnung im Westen! Na und? Sie schaltet weder Radio noch Fernseher ein, sie will nur schlafen, sie geht auch nicht ans Telefon, es waren immer nur Anrufe für den Vormieter gewesen.

Der Offizier Harald Jäger trifft unter dem Ansturm der Massen am Grenzübergang Bornholmer Straße die Entscheidung seines Lebens: Wir fluten!
Angela Merkel kommt aus der Sauna – und geht in die Kneipe, in die „Alte Gaslaterne“.
Die Mauer ist auf? Der Chefredakteur der „Jungen Welt“ spürt eine ungeheure Erleichterung, eine schlagartige Entlastung. Er wird bald schon sehr viel Zeit haben und zum größten Peter-Handke-Leser des Landes werden, einer der wortmächtigsten Autoren der Gegenwart, süchtig nach den Lücken der Erkenntnis.
Die Saunagängerin Angela Merkel wird an der Bornholmer Straße an Harald Jäger und den starren Grenzposten vorbei hinausgeschwemmt in die Nacht. Irgendwann geht Karin Gueffroy doch ans Telefon. Es ist ihr Sohn Stephan, um drei Uhr morgens. Ob sie sich vorstellen könne, wo er sei? „Am Ku’damm!“ Sie hält einen Augenblick inne, dann schreit sie ihren Sohn an. Wie habe er das tun können, wie nur? Es bricht aus ihr heraus, die Mutter des letzten Mauertoten lässt ihn nicht zu Wort kommen, bis sie endlich versteht. Dann fragt sie, nur um irgendetwas zu sagen: Musst du morgen früh nicht zur Arbeit?

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

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