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Angela Merkel, Bundeskanzlerin.

© REUTERS

Bundeskanzlerin Angela Merkel: „Berlins Regierender Bürgermeister schiebt seine Verantwortung von sich“

Kurz vor der Berlin-Wahl greift die Bundeskanzlerin den Regierenden Bürgermeister Michael Müller an. Im Interview verteidigt Angela Merkel ihre eigene Flüchtlingspolitik.

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Frau Bundeskanzlerin, sind Sie mit sich im Reinen?

Ja, das bin ich. Mit dem Amtseid habe ich mich verpflichtet, dem Wohle Deutschlands zu dienen und dafür arbeite ich mit aller Kraft.

Ein Jahr nach dem Beginn der Flüchtlingskrise sieht die Bilanz so aus: Die rechtspopulistische AfD zieht in die Landesparlamente ein, in Mecklenburg-Vorpommern ist sie sogar stärker als die CDU und Ihre Flüchtlingspolitik spaltet die Deutschen bis in die Familien hinein. Haben Sie etwas falsch gemacht?

In der Geschichte der Bundesrepublik hat es immer wieder intensive politische Debatten gegeben, die bis in die Familien kontrovers geführt wurden. Dabei ging es um unser Selbstverständnis, unsere Werte und die Frage, wie wir uns international einbringen sollen. Denken Sie an die Nachrüstungsdebatte oder die Herausforderung durch den Terrorismus.

Damals wie heute gilt: Wer richtungsweisende politische Entscheidungen zu treffen hat, muss das tun, auch wenn sie polarisieren und muss gleichzeitig immer die Gründe für die Entscheidungen benennen und um Unterstützung werben. Ich jedenfalls sehe das als meine Pflicht an. Die meisten Entscheidungen in der Flüchtlingspolitik wurden im Übrigen von der überwältigenden Mehrheit der Abgeordneten im Bundestag, den Bundesländern und Kommunen als eine nationale Kraftanstrengung getragen.

Ist es ungerecht, dass die Flüchtlingskrise und ihre Folgen trotzdem Ihnen allein angelastet werden?

Nein. Ich bin die Bundeskanzlerin dieses Landes. Es kommt vor, dass gemeinsam erzielte Erfolge allein mit mir nach Hause gehen; genauso werden auch gemeinsam noch nicht gelöste Probleme mit mir verbunden.

Ist die Flüchtlingskrise die größte Herausforderung Ihrer Amtszeit?

Es ist eine große Herausforderung, aber nicht die erste. Denken Sie an die internationale Finanzkrise, die Euro-Krise oder die Auseinandersetzungen um die Ukraine.

Ihr Satz „Wir schaffen das“ wird von vielen als Verharmlosung einer riesigen Integrationsaufgabe wahrgenommen. Können Sie das verstehen?

Diesen Satz habe ich gesagt, weil wir vor einer riesigen Aufgabe standen und stehen und weil unser Land die Kraft und den Zusammenhalt aufbringen kann, um sie zu bewältigen. Seit 2015 ist viel passiert. Wir haben zum Beispiel die illegale Migration stark reduziert. Natürlich liegen große Integrationsaufgaben vor uns und auch in Europa muss noch für viel mehr Solidarität gesorgt werden. Alles in allem aber kann man sagen: Wir sind in diesem einen Jahr ein gutes Stück vorangekommen.

Sie galten den Deutschen viele Jahre als Garantin für Stabilität und Sicherheit. Der unkontrollierte Zustrom von tausenden Menschen nach der Öffnung der Grenzen vor einem Jahr hat bei vielen Deutschen dieses Gefühl erschüttert. Können Sie zusagen, dass sich so etwas nicht wiederholen wird?

Alle Maßnahmen, die wir in den ganzen letzten Monaten beschlossen haben, sollen dazu beitragen, dass sich eine solche Situation nicht wiederholt. Denn wenn Schmuggler und Illegalität die Oberhand haben, ist das für niemanden gut – weder für die Türkei noch für Europa, und am allerwenigsten für die Flüchtlinge, deren Leben auf dem Spiel steht. Dass krisenhafte Entwicklungen Gewissheiten erschüttern und uns auf die Probe gestellt haben, das haben wir schon früher erlebt. Nach der Finanzkrise sind wir durch wirtschaftlich schwere Zeiten gegangen, in der Euro-Krise haben wir uns um die Stabilität unserer Währung gesorgt. In beiden Fällen übrigens haben wir national wie auf europäischer Ebene die richtigen Antworten gefunden.

Vor einem Jahr nun haben viele Menschen zum ersten Mal gespürt, dass die Freizügigkeit in Europa, die jeder gern lebt, einen Schutz der Schengen-Außengrenzen erfordert, um den wir uns alle zu lange zu wenig gekümmert haben. Flüchtlinge kamen ja nicht erst 2015 nach Deutschland. Es waren 2013 schon rund 100 000 und 2014 rund 200 000. Nach dem 4. September 2015, als die deutsch-österreichische Grenze für die Menschen, die in Budapest in eine schwere humanitäre Notlage geraten waren, nicht geschlossen wurde, ist das den meisten jedoch erst richtig bewusst geworden. Das Flüchtlingsdrama dauerte aber schon viel länger.

Haben Sie die Ängste der Deutschen vor Überfremdung überrascht?

Ich nehme die Sorgen der Menschen ernst und versuche, sie mit handfesten Lösungen zu überzeugen. Gleichzeitig sind aber auch manche Vorurteile zutage getreten, die latent schon immer vorhanden waren. Das zeigen zum Beispiel die Umfragen zum Antisemitismus seit Jahren. Und wir wissen seit den rechtsradikalen Ausschreitungen der neunziger Jahre und den Morden des NSU, dass es ein Potenzial für Ressentiments, ja sogar für Hass gegen Ausländer gibt. Die Aufgabe von Politik ist es, dem entgegenzutreten.

Ein weiterer Satz von Ihnen ist im Gedächtnis geblieben. Sie haben diesen Satz gesagt, nachdem Sie für ein Selfie mit einem Flüchtling stark kritisiert worden waren: „Ich muss ganz ehrlich sagen: Wenn wir jetzt anfangen, uns noch entschuldigen zu müssen dafür, dass wir in Notsituationen ein freundliches Gesicht zeigen, dann ist das nicht mein Land“. Haben Sie sich in Ihrem Land getäuscht?

Nein. Die übergroße Mehrheit der Deutschen ist bereit, den Menschen in Not zu helfen. Das macht unsere Stärke aus. Und wegen eines Selfies verlässt kein Mensch seine Heimat und nimmt die Strapazen einer Flucht und die Risiken für sein Leben auf sich.

Frau Merkel, Ihre Regierungspartner CSU und SPD machen sich gerade vom Acker. Ist das noch Ihre Koalition?

Selbstverständlich.

Beide – CSU und auch Ihr Vizekanzler, fordern eine Obergrenze für Flüchtlinge. Bleiben Sie beim Nein?

Meine Haltung zu einer Obergrenze ist hinreichend bekannt. Wir müssen die EU-Außengrenzen besser schützen, Illegalität bekämpfen, gegen die Fluchtursachen vorgehen und mit Herkunfts- und Transitländern faire Vereinbarungen, wie die EU-Türkei-Vereinbarung, schließen.

Die CSU spricht jetzt davon, Zuwanderung nur noch für Flüchtlinge aus „christlich-abendländischen“ Kulturräumen zuzulassen. Entspricht das der rhetorischen Mäßigung, zu der Sie alle Parteien im Bundestag aufgefordert haben?

Mit diesem Passus will sich die CSU nicht auf Flüchtlinge beziehen, sondern formuliert ihre Gedanken für ein, wie sie es nannte, Einwanderungsbegrenzungsgesetz. Solche Gesetze folgen immer den Interessen der aufnehmenden Länder und legen Kriterien für die Zuwanderer fest. Das ist in Ordnung und der Sinn solcher Gesetze in allen Ländern. Allein aufgrund unserer Verankerung in der EU könnte Deutschland zum Beispiel der Zuwanderung aus Europa in einem solchen Gesetz einen Vorrang geben. Davon zu unterscheiden sind Fragen des Asylrechts oder der Genfer Flüchtlingskonvention.

Betreibt die CSU das Geschäft der AfD?

Die Beschlüsse der CSU vom vergangenen Wochenende wiederholen Positionen der Partei, die bekannt waren.

Wie lange können Sie eine Flüchtlingspolitik gegen große Teile ihrer eigenen Partei und gegen die CSU noch durchhalten?

Wir als CDU haben auf unserem Parteitag Ende 2015 nahezu einstimmig unsere Positionen in der Flüchtlingspolitik bestimmt. Wir haben damals beschlossen, dass ein Andauern des damals aktuellen Zuzugs Staat und Gesellschaft auch in einem Land wie Deutschland auf Dauer überfordern würde, und dass es deshalb notwendig ist, die Entwicklung zu ordnen, zu steuern und die Zahl der ankommenden Flüchtlinge deutlich zu reduzieren. Heute können wir feststellen, dass wir diesen Weg gegangen sind und die Beschlüsse des CDU-Parteitages konsequent umsetzen.

Die bayerische Schwesterpartei lehnt die Visafreiheit für die Türkei grundsätzlich ab. Gefährdet das den Flüchtlingsdeal mit der Türkei?

Wir arbeiten daran, alle Elemente der EU-Türkei-Vereinbarung umzusetzen. Die Türkei hat einige wenige der 72 Kriterien für die Visaliberalisierung noch nicht erfüllt. Das muss sie aber, damit dieser Schritt auch gemacht werden kann.

Frau Merkel, Sie sind ja nicht nur Bundeskanzlerin, sondern auch Bürgerin Berlins. Fühlen Sie sich hier in Berlin gut regiert?

Ich freue mich, dass die CDU Teil des Senats ist. Seither ist es besser geworden in Berlin.

Was ist denn besser geworden mit der CDU?

Es sind neue Wohnungen gebaut worden, Infrastrukturmaßnahmen wurden in Gang gesetzt, und es wurden deutlichere Anstrengungen zur Verbesserung der inneren Sicherheit unternommen.

Wann mussten Sie zum letzten Mal zum Bürgeramt – und haben Sie auch vier Monate auf einen Termin gewartet?

Meinen Personalausweis musste ich neu beantragen und etwas gewartet habe ich auch, aber ich weiß, dass viele oft sehr lange warten müssen. Wenn ich die Entwicklung in einem digital sehr fortgeschrittenen Land wie Estland sehe, dann kann ich nur feststellen, dass wir noch sehr weit von der Umsetzung eines digitalen Bürgerportals für Kontakte zwischen Bürgern und Staat – auch in Berlin – entfernt sind.

Ihr Wunsch: Schwarz-Rot oder Schwarz-Grün in Berlin?

Starke CDU.

Auch in Berlin steht Ihre Flüchtlingspolitik zur Abstimmung. Wird dieses Wahlergebnis auch in Ihrer Verantwortung liegen?

Wahlkämpfe werden immer über die Themen geführt, die die Menschen bewegen. Das Thema Integration ist in Berlin ein wichtiges Thema. Die CDU nimmt das ernst. Der Regierende Bürgermeister der SPD erklärt sich dagegen gern für nicht zuständig und schiebt seine Verantwortung von sich. Aus eigener Erfahrung weiß ich aber: Regierungschefs tragen immer die Verantwortung und werden bei Wahlen auch immer verantwortlich gemacht.

Das Gespräch führten Stephan-Andreas Casdorff und Antje Sirleschtov.

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