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Holzklasse. Waldameisen sind besonders geschützte Tiere.

© Patrick Pleul/Picture Alliance/dpa

Autobahnausbau in Brandenburg: Wenn Waldameisen umziehen müssen

Berlins Autobahnring soll breiter werden – hunderte Ameisennester sind dabei im Weg. So wie Christina Grätz einst der Braunkohle im Weg war. Sie siedelt die Insekten um und sagt: „Kein Tier soll zurückbleiben.“

Von Andreas Austilat

Der Gegenangriff beginnt sofort. Kaum hat Christina Grätz zum ersten Mal den Spaten in das Nest gerammt, erstürmen Ameisen ihre Stiefel, Hosenbeine, Arme, den ungeschützten Nacken. Sie beißen und spritzen Säure. Jeder Beruf hat seine Härten. Bei Christina Grätz sind sie gut sichtbar: verschorfte Wunden auf den Unterarmen. Aber es muss sein. Sie will Leben retten, Hunderttausende.

Die 42-Jährige ist die Ameisenretterin von der A 10 am nördlichen Berliner Ring. Schon bald werden die Bagger anrücken, die Autobahn zwischen dem Dreieck Pankow und der Anschlussstelle Neuruppin wird auf sechs Spuren verbreitert. Dieses Nest hier liegt auf der vorgesehenen Trasse. Deshalb wird es umgesiedelt. Grätz weiß, was das bedeutet. Sie war elf, als sie ein ähnliches Schicksal traf, daheim, im Lausitzer Braunkohlerevier. Sie sagt: „Kein Tier soll zurückbleiben.“

Schon liegt das Nest offen, weiß schimmern die Puppen und Larven aus der braunen Erde. Grätz arbeitet schnell, stillhalten geht nicht. Es zwickt an der Wade, in der Kniekehle, im Schritt. Die Erde jedes Spatenstichs, und mit ihr die Ameisen, verschwinden in einem Sack. Ein Helfer schreibt die Zahl 31 darauf, denn das hier ist Nest Nummer 31 auf ihrer Karte. Dahinter setzt er eine 1 für den ersten Sack.

Es ist eine unsichtbare Macht

Weitere Säcke folgen, werden die steile Böschung hinuntergetragen, auf einem Anhänger verstaut. Ein wenig atemlos erzählt Grätz, dass die Tiere mitunter noch in den Säcken beginnen, sich zu sortieren, Puppen hierhin, Larven dorthin. Wie machen die das? „Schwarmintelligenz“, sagt Grätz. Es ist eine unsichtbare Macht, der sie folgen.

Die Waldameise ist nicht nur ein besonders faszinierendes, sondern auch ein besonders geschütztes Tier. Das Bundesnaturschutzgesetz verbietet, ihre Nester zu „entnehmen, zu beschädigen oder zu zerstören“. Es sei denn, es können zwingende Gründe vorgebracht werden. Für das Planfeststellungsverfahren, das am Anfang des Autobahnbaus stand, brauchte es einen Umweltbericht, ein landschaftspflegerischer Begleitplan musste erstellt werden. Archäologen haben im vergangenen Jahr bereits geprüft, ob irgendwelche menschlichen Artefakte unter der Trasse verschwinden könnten und geborgen werden müssen. Biologen haben untersucht, welche Arten betroffen sind – darunter die Zauneidechse und eben die Ameise. Und welche Maßnahmen zu ihrem Schutz zu treffen sind.

Die Ameisennester mussten erst einmal gesucht werden. Dazu ist Spürsinn nötig, denn sie befinden sich nicht etwa am Wegesrand, sind im Gegenteil schwer zugänglich, verborgen unter Gestrüpp, geschützt hinter Abzugsgräben und Leitplanken. Eine Arbeit, die man manchmal nur auf allen Vieren erledigen kann, bis etwa eine Ameisenstraße den Weg weist. Ausgerechnet Straßen sind es also, die die Ameisen verraten. 200 Nester wurden registriert und mit GPS-Daten auf einer Karte markiert. Christina Grätz bekam den Auftrag, 170 dieser Nester umzusiedeln, um die anderen 30 kümmert sich ein Naturschutzverein.

"Dafür kriegt man ein paar Zentimeter Autobahn"

170 Völker siedelt Christina Grätz um. Der Zeitplan ist eng, im Oktober kommen die Baumfäller.
170 Völker siedelt Christina Grätz um. Der Zeitplan ist eng, im Oktober kommen die Baumfäller.

© Patrick Pleul/Picture Alliance/dpa

Ist das nicht ein sehr großer Aufwand, der die Kosten für den ohnehin teuren Autobahnbau weiter nach oben treibt?

Für einen kurzen Moment klingt Christina Grätz entrüstet. 680 Euro bekämen sie pro Nest, rechnet sie vor. Die Gesamtsumme mache vielleicht ein paar Zentimeter Autobahn aus. Sehr viel teurer kann es werden, wenn ein Tier übersehen wird. Berühmt wurde die Großtrappe, der behäbige Vogel bremste in den 1990er Jahren den ICE-Ausbau im Havelland. Oder die Hufeisennase, die die Waldschlösschenbrücke über die Elbe in Dresden ins Wanken brachte.

Immer tiefer arbeitet sich Grätz vor. Dann hält sie inne, langt mit der Hand in das Gewusel, mit Zeigefinger und Daumen hat sie ein einzelnes Insekt mit Flügeln gepackt. „Eine junge Königin“, sagt sie. Vorsichtig legt Grätz das Tier in ein Glas. Es wird nicht das einzige bleiben. Königinnen sind unverzichtbar für das Überleben des Ameisenvolks. Grätz arbeitet weiter, beugt sich tiefer in die Grube, die schließlich über einen Meter in den Boden reicht. Am Ende liegen mehr als 30 Säcke auf dem Anhänger. Es gab ein Nest, das führte zweieinhalb Meter in die Tiefe und noch einmal so weit in die Breite. 130 Säcke hätten sie benötigt.

"Was, wenn man uns Menschen so ausschütten würde?"

Mit mäßigem Erfolg versucht Christina Grätz, ihre rotbraunen Locken mit einem Gummi zu bändigen, dann greift sie zu einer kleinen Schippe, kratzt schließlich mit der bloßen Hand an den kahlen Wänden herum, auf der Suche nach Gängen, die sie vielleicht übersehen hat. So ein Nest kann hunderttausend, gar eine Million Tiere beherbergen. Die sind nicht immer zu Hause, sondern vor allem tagsüber bei der Arbeit. Ihnen baut Grätz aus Reisig ein künstliches Nest. Und hofft, dass sich die zurückgebliebenen Ameisen dort sammeln. Drei Mal werden sie deshalb zurückkehren, um auch diese Ameisen zu ihrem Volk zu bringen. Die schon Verladenen werden sich am neuen Ort innerhalb von zehn Minuten entscheiden, ob sie das Nest annehmen oder noch einmal umziehen. Und sofort übernimmt jedes Tier seine Aufgabe. „Stellen Sie sich mal vor, man würde uns Menschen einfach so irgendwo anders ausschütten, was da für ein Chaos wäre.“

Wie damals vielleicht, als ihr Heimatdorf Radeweise abgebaggert wurde, geopfert für die Braunkohle? Die Dorfgemeinschaft, sie war nicht mehr, manche zogen in die bereitgestellten Plattenbauten in Spremberg, andere, wie Grätz’ Vater, errichteten sich anderswo ein neues Haus, wo sie ihren 12. Geburtstag feierte. Das geht ihr immer noch nahe: „Es tut weh, den eigenen Kindern nicht einmal zeigen zu können, wo man herkommt.“

Sie repariert Wunden in der Landschaft

Als Kind, da war der nahe Wald ihr Spielplatz. Natürlich hat sie später Biologie studiert. 2016 wurde sie zu Brandenburgs Unternehmerin des Jahres gekürt. Ihre Firma Nagola Re gründete sie vor sechs Jahren in Jänschwalde. „Nagola“ ist Sorbisch und bedeutet „auf der Heide“ – Grätz’ Großmutter war Sorbin. „Re“ steht für Renaturierung. Das Hauptgeschäft ihrer Firma mit heute 18 Mitarbeitern ist die Wiederherstellung von Landschaften. Die Reparatur von Wunden, wie sie der Tagebau in die Landschaft schlug.

Seit Juni aber liegt ihr Betätigungsfeld links und rechts des 60 Kilometer langen Teilstücks der A 10 und der A 24. Der Zeitplan ist eng, im Oktober kommen die Baumfäller, startet die Rodung. Die Tage von Christina Grätz beginnen früh, manchmal schon um drei Uhr, die Ameise gibt den Takt vor. „Die Außendienstler sind in der Nacht zu 80 Prozent im Nest“, erklärt sie. Außerdem machen die niedrigen Temperaturen die Tiere langsam.

Im Ameisennest sind die Rollen klar verteilt. Die jüngeren Tiere bleiben drinnen. Die älteren sind draußen unterwegs. Vielleicht weil sie die erfahreneren sind. Tatsächlich lauern dort auf die Waldameise allerhand Gefahren, sinkt die Lebenserwartung des einzelnen Insekts rapide, auf höchstens fünf Jahre. Ameisen haben viele Feinde.

Ein Sammelpunkt für die zurückgebliebenen Ameisen

Auch wenn Christina Grätz es gut meint, die Ameisen gehen sofort zur Attacke über.
Auch wenn Christina Grätz es gut meint, die Ameisen gehen sofort zur Attacke über.

© Patrick Pleul/Picture Alliance/dpa

Der heutige Morgen begann schleppend. Gleich der erste Weg führte durch ein nasses Feld. Schwerer Boden, doch sie haben eine Seilwinde am Geländewagen, um sich notfalls selbst aus dem gröbsten Schlamm zu ziehen. Oder den schweren Anhänger, beladen mit Säcken, Bohlen, Spaten, der Axt, sogar einer Kettensäge. Bisher habe sie es noch immer geschafft, sich zu befreien, sagt Christina Grätz in den Rückspiegel. Wenige hundert Meter weiter stoppt sie an einem Graben. Auch der zweite Wagen hält an, ebenfalls mit Anhänger, sie sind zu viert, manchmal auch zu sechst, Ameisen umsetzen ist Knochenarbeit.

Schon hat Michael Fiedler Bohlen über den Graben gelegt, hat Marcus Bäschler begonnen, mit der Säge eine Schneise in den Dornenbusch auf der anderen Seite zu schlagen, bringt Noah Janetzky, mit 18 der Jüngste der Truppe, die Säcke. Christina Grätz schaut auf das Display ihres Tablets. Das Nest verbirgt sich tief im Gestrüpp, nur einen guten Meter von der Leitplanke entfernt. Der Verkehr dröhnt auf der anderen Seite, kaum fünf Meter entfernt. Gischt spritzt, es hat begonnen zu regnen. Von allen Seiten greift das Dornengestrüpp nach Armen und Beinen. Warum nur haben sich die Ameisen solch einen Ort ausgesucht? Wahrscheinlich, weil hier normalerweise nicht einmal Wildschweine vorbeischauen. Die durchwühlen gern die Nester.

Das Nutzvieh der Ameisen

Die Ameisen stieben auseinander, treten wieder zur Attacke an. 36 Säcke, dann ist auch dieses Nest verladen. Christina Grätz legt ein paar Zweige in das tiefe Loch. Die sollen etwa Mäusen helfen, wieder herauszukommen, falls sie in die Grube fallen. Und einen Sammelpunkt gibt es ebenfalls, für die Außendienstler, je später der Tag, desto mehr dürften bereits draußen sein. Rindenläuse melken zum Beispiel.

Ameisen halten Rindenläuse wie Nutzvieh, beschützen sie vor Fressfeinden. Angreifenden Marienkäfern etwa zwicken sie die Beine ab. Sie befreien die Läuse von Milben, kümmern sich um deren Brut und ernten dafür den Honigtau, die zuckersüße Ausscheidung der Läuse. Verschwänden die Ameisen, wäre das nicht gut für die Läuse. Und auch nicht für den Wald. Grätz erzählt von Luftbildern, die noch in DDR-Zeiten während einer Attacke durch Forstschädlinge gemacht wurden. Die Auswertung zeigte, die grünen Zonen, jene also, in denen es den Bäumen besser ging, waren die, in denen es viele Ameisen gab.

Die Suche nach dem geeigneten Platz

Noch zwei weitere Nester werden auf diese Weise verladen, auf den vollen Anhängern liegen jetzt mehr als hundert Säcke. Nun muss die Last wieder abgeladen werden. Die Wagen fahren in einen Landeswald bei Zühlsdorf, nördlich der A 10. Der Wald wird die neue Heimat für die vier Nester werden. Christina Grätz hält Ausschau nach einem geeigneten Platz. Er soll ein bisschen licht sein und möglichst zwischen verschiedenen Bäumen stehen. Kiefern sind okay, eine Birke wäre fein, vielleicht noch eine Eiche oder eine Buche in der Nähe. Orte, wo die Ameisen die für sie so wichtigen Rindenläuse finden.

Sie stoppt, glaubt einen guten Platz gefunden zu haben. Ihre Begleiter schwärmen aus, schauen, ob es in der näheren Umgebung kein anderes Nest gibt. Zum Einzugsgebiet gehören rund 300 Meter im Umkreis. Einander fremde Ameisenvölker bekriegen sich so lange, bis eine Seite aufgibt und wegzieht.

Dann werden die Säcke ausgeschüttet. Die mit den kleinen Nummern kommen in die Mitte. Ihre Tunnel müssen sich die Tiere dann selber bauen.

Wieder wird sie von den Insekten attackiert. Trotzdem formt Christina Grätz mit bloßen Händen einen kleinen Hügel, setzt die geflügelte Königin hinein. Ringsherum beginnen einige Ameisen bereits, ihre verschütteten Kameraden auszugraben, andere bringen die Puppen in die Sicherheit des Zentrums. Obwohl sie bis eben noch auf mehrere Säcke verteilt waren, obwohl Meter zwischen ihnen liegen, sieht es so aus, als ob sie alle einen gemeinsamen Plan verfolgen.

Zum Schluss legt Grätz einen Zuckerring um das neue Nest. Der soll über den ersten Tag helfen, den Ameisen die Futtersuche gleich am Anfang ersparen. Grätz sagt, die Tiere hätten jetzt genug zu tun.

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