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Kennt keinen Plan B. Graf Haufen, der als Spandauer Junge noch auf den Namen Karsten Rodemann hörte, führt das Videodrom seit 1989. Ein wandelndes Filmlexikon im gemusterten Hemd.

© Kitty Kleist-Heinrich

Berlins älteste Programmvideothek: Das Videodrom - ein gallisches Dorf

Über das Videodrom hieß es einst, die bestsortierte Off-Videothek Berlins, ja sogar Deutschlands zu sein. Mit der Branche geht es nun rapide bergab, überall schließen die Verleihläden. Doch in Kreuzberg bewahrt Berlins älteste Programmvideothek hartnäckig das Menschenrecht auf Filmkunst. Ein Besuch.

Manchmal ist ein Unbeugsamer daran zu erkennen, wie er stanzt. Wie er in aller Seelenruhe auf ein in Asien erworbenes, obskures Stanzset blickt, obwohl eine ungeduldige Kundenschlange vor dem Tresen mit den Füßen scharrt. Er will jede Zehnerkundenkarte mit einem Löchlein versehen, das inhaltlich zum entliehenen Film passt. Ja, es ist ein subversiver Akt, Zeit an kleine diebische Freuden zu verschwenden, wenn einem der eisige Wind ökonomischer Veränderung ins Gesicht schlägt. Also stanzt er. Unter verblüfften und eingeweihten Blicken. Die Videothek als Bollwerk der Entschleunigung.

Die Frau, die eine Musikdokumentation ausleiht, bekommt ein Seepferdchen gestanzt. „Der Schwanz erinnert an einen Notenschlüssel.“ Der Mann, der „Dallas Buyers Club“ leiht, ein Fischgerippe. „Weil Matthew McConaughey da so ausgezehrt aussieht.“ Bei der Frau, die Quentin Tarantinos Kriegssatire „Inglourious Basterds“ haben will, wird es kompliziert. „Nie ist ein Hakenkreuz da, wenn man es mal braucht.“ Blaue Augen blitzen unter buschigen Augenbrauen. War ja nur Spaß. Jetzt hat er es. Die Frau atmet auf. Graf Haufen, leidenschaftlicher Videothekar und akribischer Stanzer, knipst mit entschlossenem Griff einen Knochen in ihre Karte.

Es ist Sonnabend, Stoßzeit im Videodrom, Berlins ältester Programmvideothek, dem kleinen gallischen Dorf, das hartnäckig das Menschenrecht auf Filmkunst bewahrt.

Die Welt hat mehr zu bieten als "Lego Movie"

Vor dem Kinderfilm-Regal gleich am Eingang spielt sich ein Drama ab. Ein Junge bockt. Er will „Lego Movie“ und sonst gar nichts leihen. Die Hipster-Eltern schütteln verzweifelt den Kopf. Immer will er nur „Lego Movie“. Wo da doch so viele andere Filme stehen. Der Junge heult. Der Vater sagt: „Die Welt ist größer, als du denkst. Wir wollen, dass du mal was Neues kennenlernst.“ Wie recht er hat. Videodrom verfügt über mehr als 30 000 DVDs und jede birgt eine eigene Welt – von Arthaus bis Mainstream, vom wüsten Experimentalfilm über verschrobenen Horror und rosarote Technicolor-Romanzen bis zu angesagten Fernsehserien, selbstredend alles auch in den Originalfassungen. Die Mutter sagt: „Wenn du zusätzlich einen anderen Film aussuchst und zuerst den guckst, bekommst du Sonntag eine extra Medienzeit.“ Abgemacht? Abgemacht.

Graf Haufen grinst sich eins. So was erlebt er öfter. Videodrom, das 1999 unter großem Protest der versammelten Berliner Filmprominenz von Volker Schlöndorff bis Tom Tykwer wegen Verbreitung von jugendgefährdendem Material für drei Wochen von der Polizei geschlossen wurde, ist heute ein familienkompatibler Kreuzberger Kiezfilmverleih. Aber gleichzeitig wie eh und je ein Treffpunkt für Filmfreaks, Überlebensmittel für Filmsüchtige, letzte Hilfe für Studenten, Filmbuchverleger, Kritiker und ähnliche Gewerke, die eine filmhistorische Recherche durchführen oder eine Regisseurs-Werkschau veranstalten müssen.

1984 im goldenen Zeitalter früher Videobegeisterung als handtuchgroße und notorisch verräucherte Subkulturbude in der Zossener Straße entstanden. Dann räumlich vergrößert in der Mittenwalder Straße zum Ruhm gekommen, die bestsortierte Off-Videothek Berlins, ja sogar Deutschlands zu sein, und nun seit vier Jahren in einem mehrzimmerigen, lichten Ladengeschäft in der Friesenstraße ansässig. Rauchfrei, offen für Unter-18-Jährige, mit zwei blubbernden Lavalampen in den offenen Schaufenstern und Vintage-Möbeln dekoriert.

Seit 1989 geführt von Graf Haufen, Jahrgang 1965, der als Spandauer Junge noch auf Karsten Rodemann hörte. Ein Name, der seit seiner mit 14 Jahren einsetzenden Karriere als Undergroundkünstler Geschichte ist. So wie die Rockgruppe Hass Auf Den Kapitalismus, mit der er weiland die Bürger der Mauerstadt auf dem Breitscheidplatz verwirrte. So wie die zweite Blüte des Videothekenwesens, die sich Anfang der 2000er Jahre ereignete, als die VHS, die das Heimkino demokratisiert hatte, allmählich von der DVD abgelöst wurde und plötzlich auch Menschen Filme ausleihen gingen, die keinen Fernseher, aber einen Computer besaßen.

Was den Videotheken zusetzt

Da ahnte der in einen bis heute andauernden Kunststreik eingetretene Graf Haufen noch nicht, dass die als aufregende qualitative Verbesserung empfundene Digitalisierung einmal die Existenz des Videodroms gefährden könnte. Eines Ladens, an den er sein Herz schon als Stammkunde verloren hatte, bevor dann auch ein Beruf daraus wurde.

Mehr als 30 000 DVDs bietet das Videodrom an.
Mehr als 30 000 DVDs bietet das Videodrom an.

© Kitty Kleist-Heinrich

Spätestens seit Februar, als in Prenzlauer Berg die Programmvideothek Negativeland nach fast 25 Jahren wegen ausbleibender Kundschaft schließen musste, ahnt auch Graf Haufen, das kulturell wertvolle Nischengeschäfte wie das Videodrom angesichts dramatisch veränderter Filmkonsumgewohnheiten keinen Bestandsschutz haben. Der Download im Internet ist halt bequemer als der Gang in die Videothek. Oder, wie es eine Kundin um die 30 gerade ausdrückt: „Ganz schön anstrengend, den Berg zu euch hochzuradeln. Wollt ihr nicht in die Bergmannstraße ziehen?“ Graf Haufen lacht gequält. Wenn’s nur ums Wollen ginge! Bei Quadratmeterpreisen von 30 Euro aufwärts gar nicht dran zu denken. Im Oktober läuft der Mietvertrag aus. Graf Haufen zuckt die Schultern. Wer ein Spaßrebell war, bleibt in jedem Fall Ironiker. Er freue sich schon wahnsinnig auf die Verlängerungsverhandlungen, ulkt er.

Mangel an bezahlbaren Ladenlokalen ist einer der Faktoren, die den Videotheken zusetzen. Das habe Berlin lange von Städten wie München unterschieden, sagt Jörg Weinreich, Vorstandsvorsitzender des Interessenverbandes des deutschen Video- und Medienfachhandels (IVD). Nun hat der Schwund die Stadt erreicht: Im Jahr 2010 gab es noch 140 Videotheken, 2013 waren es noch 98, für 2014 liegen noch keine Zahlen vor.

Die jedes Jahr vom Verband und der Gesellschaft für Konsumforschung veröffentlichte Statistik spricht eine klare Sprache. Im Jahr 2000 hatten die deutschen Videotheken 14,5 Millionen Kunden, 2009 waren es nur noch 7,8 Millionen. Und für das Jahr 2014 spricht Weinreich von 5,3 Millionen. Außerdem hat sich das Durchschnittsalter der Videothekenbesucher von 31 Jahren im Jahr 2006 auf 36,5 Jahre erhöht, heißt: Der Nachwuchs bricht weg. Die eigentliche Ursache für das Videothekensterben seien aber nicht die legalen Streamingdienste, sondern die illegalen Filmanbieter im Netz, glaubt der Verbandschef und fordert einen beherzteren Kampf der Politik gegen illegale Videoportale.

Einen schlagenden Vorteil haben die stationären Videotheken gegenüber Online-Anbietern

Einen schlagenden Vorteil haben die stationären Videotheken nach aktuellen Vergleichen von „Spiegel Online“ und „Stiftung Warentest“: Was die Bandbreite des Angebots angeht, können Online-Anbieter längst nicht mithalten. Ein Grund für Jörg Weinreich, zu hoffen, dass „der Markt noch lange auf einem niedrigeren Niveau bestehen kann“. Zumindest wenn sich genügend Cineasten oder einfach nur auf viele Filmwelten Neugierige finden, die das genauso sehen.

Und wo anders könnten die sich finden als bei Videodrom?

Da, wo Graf Haufen und die filmbegeisterten Mitarbeiter Christine und Herr Hartmann ihre auf der Homepage als Text nachzulesenden Empfehlungen auf den DVD-Hüllen mit individuellen Reitern versehen.

Da, wo montags, am Abgabetag nach dem Videowochenende, ein Fensterputzer den Horrorfilm „The Conjuring“ zurückbringt und trompetet: „Als der Teufel durchs Bettlaken kam, ist mein Hund geflüchtet. Der guckt sehr intensiv mit. Für nächsten Sonnabend bestelle ich Exorzisten-Filme vor.“

Da wo mittwochs Herr Hartmann eine Kundin warnt: „Wenn du die Originalfassung nimmst, musst du aber fließend Dänisch können.“ Und Torsten Dorow, 20 Jahre lang Kinomacher in der Kulturfabrik Moabit, an den Neuheiten entlangschnürt und sagt: „Ich will kein Netflix-Abo, ich will lieber hier sechs Mal die Woche selbst ausleihen. Oft Stummfilme. Aber heute was Brutales. Ich komme gerade vom Zahnarzt und will jetzt sehen, wie andere leiden.“

Unbegrenzte Möglichkeiten

Da, wo donnerstags Sebastian, 28, Lagerist aus Prenzlauer Berg, das stille Drama „Mr. May und das Flüstern der Ewigkeit“ ausleiht und sagt, dass er sich Kinobesuche einfach nicht leisten könne. Der britische Arthaus-Film ist ein Renner bei Videodrom. „Zweiohrküken“ dagegen läuft schlecht.

Standortvorteil.
Standortvorteil.

© Kitty Kleist-Heinrich

Da, wo freitags Christine einer Kundin Filme mit deren Lieblingsschauspieler Mads Mikkelsen gleichzeitig empfiehlt und ausredet. Und der Filmcutter Benjamin Hembus, der zu den Klubkunden gehört, die für 25 Euro im Monat täglich einen Film leihen, bekennt: „Vor fünf Jahren trieb mich das schlechte Gewissen, endlich mal einen Ingmar-Bergmann-Film zu sehen. Schließlich wurden es zwanzig hintereinander. Das war wie Amerika entdecken.“ Was ihm das Videodrom bedeutet? Es kommen nur zwei Worte. „Unbegrenzte Möglichkeiten.“ So sieht das auch die Zeichnerin und Musikerin Françoise Cactus von der Berliner Band Stereo Total. Sie schickt ihren Partner, den Musiker Brezel Göring, immer mit einer Liste. Seit 15 Jahren schon. So ziemlich jeden Tag. „Kleine Reisen in die Filmgeschichte, das ist gut für die Fantasie. Macht aber süchtig, muss man vorsichtig sein.“

Selbst Leute, die in die Nachbarschaft gezogen sind, um in der Nähe von Videodrom zu sein, lassen sich so finden. Einer steht Sonntagnachmittag bei Graf Haufen am Tresen. Der Rollkoffer parkt davor. Zehn Jahre sei er Stammkunde gewesen und aus Köln damals eigens nach Kreuzberg gezogen, sagt Mark Sikora, Fernsehautor und Musikjournalist. Kürzlich hat es ihn wieder nach Köln verschlagen, aber wenn er wie jetzt auf Besuch ist, kommt er zum Fachsimpeln vorbei.

Sonntag ist Plaudertag im Videodrom

Sonntag ist Plaudertag im Videodrom. Die Menschen haben Muße. Graf Haufen führt ellenlange Beratungen und erfüllt detaillierte Wünsche. „Wir behalten auch Filme, die zehn Jahre keiner leiht, vielleicht freut sich im elften Jahr einer.“

Dokus zum Thema Tanz und Bollywood-Kino sind gefragt, die britische Serie „Peaky Blinders“. Einer möchte Shirley-Temple-Filme – auf Deutsch. Pech gehabt, ist nur auf Englisch da. Einer will „Ivanhoe“ von 1952. Bekommt er. Eine Frau fragt nach einem Western mit Clint Eastwood, Shirley McLaine und „irgendwas mit Geier im Titel“. Graf Haufen und der einstige Stammkunde wissen Rat: Das Ding heißt „Ein Fressen für die Geier“ und ist von Don Siegel. „Ihr seid echte Cineasten“, lobt die Frau. Die Videothek als filmwissenschaftliche Bildungsanstalt. Herr Hartmann habe ihm die italienischen Polizeifilme aus den 70ern nahegebracht, erzählt Sikora. Und die tollen Filme des Horror-Regisseurs Mario Bava. „Der wird ja völlig unterschätzt.“ Die Welt ohne Videodrom mag er sich nicht vorstellen. „Das wäre ein schlimmer Kulturverlust.“

Sieht Graf Haufen genauso. Als es zur „Tatort“-Zeit ruhig im Laden wird, bricht es aus ihm heraus. „Was für ein Scheißtag. So viel gelabert und kaum was in der Kasse.“ Er redet gerne mit den Leuten, berät genauso akribisch, wie er stanzt, aber nicht jeder, der reinkommt, leiht aus. Umsatzzahlen nennt er nicht, Kundenstatistiken führt er keine. Nur das: „Früher konnten wir 3000 Euro im Monat in neue Filme stecken, jetzt sind es 1000.“ Wie also geht es Videodrom? Er hebt die Hand auf Höhe der Oberlippe.

Graf Haufen, ein wandelndes Filmlexikon im gemusterten Hemd, das Stanzset im Anschlag

Doch was ein Unbeugsamer ist, der kennt keinen Plan B. „Dann würde ich ja innerlich mit Plan A abschließen, hier weiter Filmkultur zu betreiben.“ Von Mischkonzepten, wie sie andere Videotheken pflegen, hält er nichts. Er ist weder Barkeeper noch Online-Verleiher, sondern Videothekar. Was mit ihnen passiere, sei eine gesellschaftliche Entwicklung, ist er überzeugt. Online-Bestelldienste verdrängen den stationären Handel, eine vermeintliche Erlebniskultur verändert das Gesicht der Stadt. „Dann gibt es im Kiez keine Läden mehr, sondern nur noch Kneipen.“ Da will Videodrom dagegenhalten, widerständig sein, ohne dafür dem ranzigen Revoluzzerflair der 80er nachzuweinen.

Einer, der an die Zukunft von Videotheken glaubt, ist der Regisseur und Filmpublizist Jörg Buttgereit. Er kennt Graf Haufen schon aus „Do-it-yourself-Punk-Tagen“. Eine Szene aus Buttgereits Film „Der Todesking“ spielt im frühen Videodrom. Sein Horrorfilm „Nekromantik“ kam 1988 zuerst dort auf Video raus. Buttgereit, der gerade ein im Oktober am Theater Dortmund Premiere feierndes Stück über Romantik und Hysterie des Videozeitalters schreibt, prognostiziert, das engagierte Einzelkämpfer in Großstädten eine Chance haben. Einzelkämpfer wie das Videodrom. Es bringe Ordnung in den Filmwust, den man im Kino nicht bewältigen könne. So eine Kuratorenfunktion gebe es im Internet nicht. Außerdem: „Graf Haufen ist renitent. Zur Not macht der alleine weiter.“ Ein wandelndes Filmlexikon im gemusterten Hemd, das Stanzset im Anschlag.

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