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Mann mit Mission: Christian Wulff.

© imago/Müller-Stauffenberg

Bundespräsident a.D.: Christian Wulff kämpft weiter

Schluss, aus, Ende – das hätte ihn zerfressen. Deshalb kämpft Christian Wulff immer weiter. Um einen Platz, der ihm zusteht. Und die eigene Bedeutung.

Von Antje Sirleschtov

Ganz oben war er, keine drei Jahre ist das her. Dann auf einmal ziemlich weit unten. Und jetzt? Was tut ein Mann Mitte fünfzig, der einst an der Spitze des Staates stand, der mit der Queen Tee getrunken hat und dann schließlich wie ein kleiner mieser Betrüger fortgejagt wurde, vor Gericht sitzen musste, verlacht von allen und verlassen von seiner jungen schönen Frau?

Es ist Montagabend und Christian Wulff steigt am Marktplatz in Braunschweig aus seiner schwarzen Limousine. Er sitzt im Wagen rechts hinten, er war schließlich einmal Bundespräsident. Deshalb wird er weiterhin chauffiert, ein Sicherheitsbeamter öffnet ihm die Tür. Wulff streicht sein dunkles Sakko gerade, schließt den Knopf und schaut staatsmännisch in die Runde. Da kommt ein Kamerateam auf ihn zu. „Wir sind von RTL“, sagt eine Frau, hält ihr Mikrofon hoch und bittet um ein kurzes Interview. Es gibt wohl kaum einen Politiker in Deutschland, der in den letzten Jahren so schlechte Erfahrungen mit Journalisten gemacht hat wie Wulff. Man könnte es also sehr gut verstehen, wenn dieser Mann jetzt keine Lust mehr hat auf Interviews, den ganzen Medienzirkus.

"Ganz oben - ganz unten" heißt sein Buch

Doch so ist es nicht. Wulff lächelt, ordnet das Haar und sieht sich auf dem Marktplatz um. Er weiß genau, wie man gut rüberkommt im Fernsehen. „Sollen wir vielleicht nach da drüben gehen?“, fragt er. An dieser Ecke des Platzes sei es doch recht dunkel. Aber da, meint Wulff, auf der anderen Seite, da scheint noch die Sonne, da werden die Bilder netter.

„Ganz oben – Ganz unten“, heißt das Buch, das der Ex-Bundespräsident vorgelegt hat. Und es gibt keinen Zweifel: Dieser Mann will „ganz unten“ nicht hinnehmen. Er war lange genug ein Außenseiter, einer, den das politische System ausgespuckt hat. Jetzt will er wieder dazugehören, gefragt sein. Wer ihn trifft, spürt das. Wie er von Bürgergesprächen in Berlin berichtet, von Reisen nach Ankara, Essen mit dem türkischen Präsidenten, Auftritten, Lesungen, wie er Interviews gibt und in Talkshows geht. Wie er beim Reden entschlossen das Kinn vorreckt, im Café neugierigen Passanten zunickt und im Auto geschäftig seine Mails kontrolliert. Nein, dieser Mann hat die Nase noch immer nicht voll. Und er sucht wieder einen Weg – und zwar nach oben.

Zu tief war sein Fall, zu brutal die Schmach

Ob der einstige Spitzenpolitiker Christian Wulff im Winter vor zwei Jahren zu Recht aus dem höchsten Staatsamt scheiden musste, weil er den Zweifel an seiner Integrität und Unabhängigkeit nicht ausräumen konnte, oder ob er am Ende doch eher das Opfer einer beispiellosen Hatz von Medien und Staatsanwälten wurde, darüber wird im Land bis heute diskutiert.

Doch Christian Wulff genügt das nicht. Zu tief war sein Fall, zu brutal die Schmach, als er vor den Augen der ganzen Welt gedemütigt wurde. Wie hart es diesen Mann getroffen hat, als er dann – vom Richter vor dem Gesetz vollständig rehabilitiert – erkennen musste, dass all jene, die ihn aus seiner Sicht zu Unrecht gestürzt haben, einfach weitermachen, während er einsam in Hannover sitzt und auf die gemeinsamen Wochenenden mit seinen Kindern wartet, das lässt sich nur erahnen. Vielleicht, wenn er voll Bitterkeit erzählt, dass es „70 Plätze für Journalisten“ in seinem Gerichtssaal gegeben hat, obwohl es am Ende um „nicht mehr als 140 Euro ging“ – beim NSU-Prozess in München aber nur die Hälfte der Sitze – „bei zehn grausamen Morden“.

An seinen Vorwürfen dürfte einiges dran sein

Dieser Gedanke, sagt Wulff in der Rückschau, sei der entscheidende Moment gewesen, als er sich noch einmal in die Akten der letzten Jahre vertiefte, die Briefe und Zeitungsartikel sortierte, um sein Buch zu schreiben. „Das Buch wurde nötig, als alle zur Tagesordnung übergehen wollten.“ Abrechnung, Selbsttherapie: Einfach so wollte er, konnte er dieses Kapitel deutscher Politik dann doch nicht abschließen. Schluss, aus, Ende: Das hätte ihn zerfressen. „Duckmäuser will ich nicht sein.“

So weit, so verständlich. Wulffs Geschichte, seine Version davon, geriet zur Anklage auf 250 Seiten und wer sie gelesen hat, der weiß, dass an den Vorwürfen des ehemaligen Bundespräsidenten an Medien, Justiz und Politiker einiges dran sein dürfte, auch wenn das Eingeständnis der eigenen Schuld vielleicht doch etwas schmal ausgefallen ist. Aber wie man es auch hält: Ein Mann hat geschrieben, was er glaubte schreiben zu müssen. Und als er – begleitet von seinem Verleger – am 10. Juni in Berlin vor die Kameras trat und sein Werk vorstellte, da zog die Öffentlichkeit den Hut vor ihm. Chapeau, Herr Wulff. So viel Mut hatten wir ihm gar nicht zugetraut.

Leben nach den Tiefschlägen

Christian Wulff ist nicht der erste Politiker, der zurücktreten musste. Und er ist auch nicht der einzige, der behauptet, dass ihm dabei bitter Unrecht geschehen ist. Der ehemalige FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle war bis zum letzten Tag im Amt des Außenministers persönlichen Schmähungen ausgesetzt und auch von Karl-Theodor zu Guttenberg – dem einst telegenen Politikstar am Berliner Himmel – wurde am Ende ein wenig rühmliches Bild gezeichnet. Und doch gab es für sie ein Leben nach den Tiefschlägen. Der bayerische Fürst zog nach Amerika, hält Vorträge und berät Brüsseler Institutionen. Guido Westerwelle gründete eine Stiftung, unterstützt hoffnungsvolle junge Leute und lässt erlesenes Publikum an seinen diplomatischen Erfahrungen teilhaben. Auch Christian Wulff könnte einen solchen Weg gehen, abseits der Medien, fernab von Provokation und hitzigen Gefechten um die Vergangenheit. Wirtschaftlich bis ans Ende seines Lebens gut versorgt, könnte der „Bundespräsident a. D.“ seinen Platz an Universitäten und eines Tages vielleicht sogar als Mittler zwischen Islam und Christenwelt in großer, aber stiller Mission finden.

Sein Buch wird ins Türkische übersetzt

Doch Christian Wulff ist das nicht genug. Die Stille ist nicht seine Sache. Irgendwann in den vergangenen Wochen, als die Scheinwerfer ausgingen, sein Name aus den Zeitungsspalten verschwand und die Buchhändler seine Bücher langsam vom Tisch an der Eingangstür in die Regale der politischen Biografien räumten, da hat Wulff den Entschluss gefasst, nun auch ganz aktiv in den Kampf um das eigene Bild in der Geschichte zu gehen. „Ich will mich öffentlich äußern“, sagt er. Erster Schauplatz: ein Interview mit dem Hamburger Nachrichtenmagazin „Der Spiegel“. Dann, ein paar Tage später, Auftritt in der ZDF-Talkshow „Maybrit Illner“. Zwischendurch ein heftiger Streit mit dem Vorstand der Bundespressekonferenz, dem Verein der politischen Journalisten in Berlin. Es ging um drei Sätze in dem „Spiegel“-Interview. Nichtigkeiten im Prinzip. Aber Wulff will sich nichts mehr gefallen lassen. Wenn der Sommer vorbei ist, wird noch mehr kommen, Interviews, Auftritte, was man so macht, wenn man im Gespräch bleiben will. In der Zwischenzeit zieht Wulff mit Lesungen durchs Land: München, Stuttgart, Osnabrück, demnächst Erfurt und wer weiß wo noch. Ach ja, und sein Buch, das lässt er nun auch ins Türkische übersetzen. Denn es war dieser Satz vom Islam, der auch zu Deutschland gehört, der ihm in seiner Zeit als Staatsoberhaupt die Sympathien der Migranten in ganz Europa eintrug. Nun sollen auch die Menschen in Istanbul und Ankara lesen können, wie man mit ihm umgesprungen ist, damals im Schloss Bellevue.

Am Montagabend in Braunschweig ist der Saal voll bis zum letzten Platz. Mehr als 200 Leute sind gekommen. „Nein“, sagt der Buchhändler, „Herr Wulff bekommt kein Geld, falls das einer gedacht hat.“ Nein, das hat hier wahrscheinlich keiner gedacht. Schon beim Reinkommen hat Wulff das Publikum taxiert und seine Gesichtszüge entspannten sich. Er geht plötzlich aufrechter, er spürt: Das wird ein Heimspiel. Das Publikum ist älter, meist weiblich. Frauen waren schon immer eher auf seiner Seite, „Schwiegersohn-Typ“ hatte ihn mal eine Journalistin genannt.

Ist das die Aufgabe, die sich Wulff zugedacht hat? Eine Art Neben-Präsident?

Auch an diesem Abend lächelt Wulff bei jeder Gelegenheit ins Publikum. Zum Dank klatscht es gesittet, niemand redet unaufgefordert dazwischen oder fällt sonst irgendwie unangenehm auf. Die Politik und die Medien, all die Skandale in Berlin waren den Kunden der örtlichen Buchhandlung Graff schon ein Gräuel, bevor ihr ehemaliger Ministerpräsident aus dem Amt des Bundespräsidenten gescheucht wurde. So bekommt der berühmte Mann auf dem Podium auch immer dann mächtig Applaus, wenn er besonders plastisch schildert, welche Grausamkeiten ihm widerfahren sind. Wenn er über die „Arroganz gegen die Provinz“ zu Felde zieht, die erst den Rheinland-Pfälzer SPD-Chef Kurt Beck vertrieben und später den Brandenburger Matthias Platzeck an den Rand seiner psychischen Kräfte gebracht habe. Diese sei schließlich auch ihm zum Verhängnis geworden, dem Ministerpräsidenten des schönen Niedersachsen, nur weil er den „Kleinen Prinzen“ zu seinem Lieblingsbuch erklärt hatte. Wo dessen Botschaften doch schon in der Bibel verankert seien …

Ja, das versteht man in Braunschweig, da ist man ganz auf Wulffs Seite. Bei so wenig Anstand da drüben in Berlin, da muss man sich ja nicht wundern, dass der Euro schwach ist und Pädophile im Bundestag sitzen. „Ich war ein politischer Präsident“, resümiert Wulff, und „unbequem“. Deshalb habe man ihn vertrieben. Mit Hilfe verantwortungsvergessener Journalisten, übereifriger Staatsanwälte und verängstigter Politiker. Mehr als zwei Stunden wird er von „Verbrechen gegen Menschenrechte“, „Justizversagen“ und anderem Staatsgefährdendem berichten, das ihm widerfahren ist. „Es ist etwas ins Rutschen geraten“, fasst Christian Wulff zusammen und es klingt wie eine Aufforderung an alle Zuhörer, dem Treiben in Berlin ein Ende zu setzen.

Die Demokratie in Gefahr

Wulffs Botschaften sind eindeutig: Die Demokratie ist in Gefahr und er, der Bundespräsident a. D., wird am Ende der prominenteste Zeuge für all das sein, was Deutschland bedroht. Ist das die Aufgabe, die sich Wulff zugedacht hat? Eine Art Neben-Präsident, freigesprochen vom Richter und damit moralisch ermächtigt, das Volk vor schädlichen Umtrieben in Berlin zu schützen?

Neben-Präsident? Nein, so will Wulff das natürlich auch wieder nicht verstanden wissen. Jetzt erzählt er von Freiheiten, die er gewonnen hat, seit er nicht mehr in höchsten Ämtern ist. Wochenenden mit den Kindern etwa, oder Lesen. Er hat in den letzten Monaten viele Bücher gelesen, sagt er, und er sieht seine Kinder sehr regelmäßig, geht paddeln mit Linus auf dem Maschsee. Es klingt entspannt, was Wulff über seinen Alltag erzählt. Aber auch irgendwie voller Sehnsucht. Nach einer richtigen Aufgabe, Anerkennung und Bestätigung.

Gesellschaft seiner Widersacher

Dann zieht er plötzlich ein Stück Papier aus der Tasche. Es ist ein Leserbrief. Der Schreiber hat sich darin bei seiner Tageszeitung, einer sehr renommierten Zeitung, über den Umgang mit dem Herrn Wulff beschwert und die Frage aufgeworfen, wie das Land bei solchen Auswüchsen noch junge Menschen zum Engagement in der Politik motivieren will. Wulff hat die wichtigen Passagen mit gelbem Textmarker gekennzeichnet. Diese Sätze sind ihm ein Beleg für die Richtigkeit seiner Mission. „Die Umgangsformen müssen verändert werden“, sagt er mit ernstem Gesichtsausdruck. Das Papier möchte er dann gern wiederhaben. Er wird es womöglich später noch brauchen. Wenn zum Beispiel bei einer Lesung einer der Zuhörer auf die Idee kommen könnte, ihn zu fragen, ob er nicht ein bisschen übertreiben würde mit seiner Kritik am ganzen System. Dann könnte er den Zettel aus der Tasche ziehen und darauf verweisen, dass er nicht allein steht mit seiner Auffassung und dass es wichtig sei, sich nach allem, was ihm widerfahren ist, nun erneut in die Gesellschaft seiner Widersacher zu begeben.

Als Christian Wulff in der Sonne das Kurzinterview gegeben hat, stürmt urplötzlich von der anderen Straßenseite eine Frau auf ihn zu. Es sieht so aus, als habe sie ihn erkannt, als wolle sie unbedingt mit ihm sprechen, ihn womöglich um ein Autogramm bitten. Wulff macht sich bereit. Aber nein: Die Frau will sich nur nach seinem ehemaligen Fahrer erkundigen, ein ferner Verwandter. Als sie hört, dass ein anderer Chauffeur gefahren ist, dreht sie prompt wieder ab. Und der Bundespräsident a. D.? Bleibt allein zurück.

Dieser Text erschien auf der Dritten Seite.

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