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Alles nur Fassade. Seit 2012 stellt die Bundeswehr in der Altmark eine eigene Stadt in den Staub. Rund 118 Millionen Euro soll das Projekt kosten.

© Deike Diening

Bundeswehr baut Übungsstadt: Häuserkampf in Schnöggersburg

181 Gebäude Altstadt. Fünf Hochhäuser, einen Flughafen mit Landebahn. In Sachsen-Anhalt errichtet die Bundeswehr eine Stadt, um für die Kämpfe der Zukunft zu üben.

Am Tag nachdem Kundus von den Taliban zurückerobert worden ist, hebt sich in Mitteldeutschland vor dem Gefechtsübungszentrum Heer an einem schwarz-rot-goldenen Wachhäuschen die Schranke. In der Altmark nördlich von Magdeburg, dem am dünnsten besiedelten Gebiet der Bundesrepublik, macht sich ein Konvoi aus fünf voll besetzten Fahrzeugen auf durch die Heide. Das Ziel: ein Blick auf den Krieg der Zukunft. Die These: Der Krieg der Zukunft findet in den Städten statt. Der Schotter schlägt von unten gegen das Chassis, der Staub des Vordermanns behindert die Sicht. Es dauert nicht lange, da sagt jemand „Afghanistan“.

Eine frisch aufgewirbelte Staubwolke verbindet also an diesem strahlenden ersten Oktobermorgen die Colbitz-Letzlinger Heide mit einem umkämpften Gebiet in der Welt und damit die Theorie mit der möglichen Praxis, die Bundes- mit der Weltpolitik, den Frieden mit dem Krieg, die Vorsicht mit der Gefahr, das Leben mit dem Tod und eine Ausbildung mit ihrer möglichen Anwendung.

Auf dem Gelände des „Gefechtsübungszentrum Heer“, 23 000 Hektar groß, unter anderem Heimat für 27 Wölfe, wird seit 2012 eine ganze Stadt in den Staub gestellt, 16 500 Meter Straßen, 1500 Meter Gleis, ein Kanal mit Brücken, 350 Meter U-Bahn komplett mit drei Aufgängen, die Abfertigungs- und Wartehalle eines Flughafens sowie eine 1700 Meter lange Behelfslandebahn. Es folgen im nächsten Bauabschnitt noch fünf Hochhäuser und mehr als 300 Hütten eines Elendsviertels. Einmalig in Europa wird das sein – nur die Vereinigten Arabischen Emirate und die USA gönnen sich Vergleichbares.

Die Übungsstadt mit dem irreführend niedlichen Namen „Schnöggersburg“ ist für die Gegner ein Irrsinnsprojekt, für das 118 Millionen Euro Steuergeld verbaut und damit in den Heidesand gesetzt werden. Die Bundeswehr spricht dagegen von einer Lebensversicherung für alle deutschen Soldaten im Einsatz. Wer nicht übe, in Städten zu kämpfen, sei schlecht vorbereitet auf diese Konflikte. Wer wissentlich schlecht vorbereitete Soldaten in bewaffnete Konflikte schicke, handle schlicht fahrlässig.

Die Fahrzeuge melden ihren Verwundungsgrad

Aber jetzt erhebt sich unvermittelt aus der Natur die nagelneue Altstadt im Rohbau, die Häuser in Plattenbauweise zu Silhouetten mit Öffnungen zusammengefügt. 181 Gebäude, verschiebbare Metallblenden vor den Fensteröffnungen, in realitätsnaher Unübersichtlichkeit so versetzt, dass die Sichtachsen unterbrochen sind. Ein aufgeklappter, nagelneuer Deckel führt in die 540 Meter lange „Übungskanalisation“.

Im ersten Quartal 2018 sollen die Häuserkämpfe beginnen. Soldaten werden aus der künstlichen Kanalisation springen, sich in Häusern verschanzen, Blickkontakt verlieren und versuchen, trotzdem als Einheit zusammen zu bleiben. Sie werden den Krieg in 3D üben, als Teil einer Live-Simulation, eines riesigen Computerspiels. Sie werden als Scharfschützen auf den Dächern lauern, in den Häusern als Zivilisten harren.

Echt ist heute das Rumpeln des Wagens, auf dessen Rückbank Oberstleutnant Thomas Poloczek, Sprecher des Bundeswehr-Landeskommandos Sachsen-Anhalt, auf und nieder hüpft. 1500 Soldaten, sagt er, können schon jetzt hier gleichzeitig üben, nur bislang ohne Stadt. Dank „Agdus“, der Laser-Simulation „Ausbildungsgerät Duellsimulator“, falle dabei kein einziger Schuss: Jeder Soldat erhält einen Sender, der laufend seine Position meldet. Auch die teilnehmenden Fahrzeuge sind so ausgerüstet: die LKW, die Waffen, die Sanitätsfahrzeuge, der Kran, die Bergungsmannschaft, wer immer an der Übung teilnimmt.

Poloczek malt aus, wie auch die Geräusche der Orientierung dienen, es wird mit Pyrotechnik gearbeitet, mit Signal- und Darstellungsmunition. Ein Kampfpanzer meldet seine Zerstörung mit rotem Rauch. Der Computer des Soldaten zeigt nach einem simulierten Treffer Art und Grad der Verletzung an. „Müssen die anderen den Kameraden tragen? Werden alle langsamer? Wie viele Leute bindet ein verletzter Soldat?“

Selbst Fahrzeuge melden ihren „Verwundungsgrad“ – fallen sie ganz aus oder sind sie noch rollfähig? Während einer Übung, sagt Poloczek, fahren „Schiedsrichter“ in mit weißen Kreuzen markierten Wagen durch das Gelände, die laut Anweisung „wie Luft“ behandelt werden.

Paradoxerweise wird dieses Spiel also je simulierter, desto echter? Ja, sagt Poloczek. Den Rückschlag eines Gewehrs gegen die Schulter werde zwar keiner spüren, aber der Laser zeichne sogar die ballistische Kurve eines Geschosses nach.

Im Rechenzentrum werden alle Bewegungen verfolgt und dokumentiert. „Noch im Feld“, sagt Poloczek begeistert, könne man am Computer danach die Kabinenkritik des Spiels erstellen, nachverfolgen, wer wo war, „im Prinzip sind sogar Wiederholungen möglich“.

Und natürlich Ortswechsel. Das Areal hat schon heute einen Flughafen mit Abfertigungshalle. Hinten ist die Behelfslandebahn zu erkennen, auf der immerhin schon eine Transall gelandet ist. Mögliches Übungsziel: „Rückführung deutscher Staatsbürger aus umkämpften Gebieten“ in Anwesenheit unbeteiligter Zivilisten. Für ein anderes Szenario würden sie die U-Bahn benutzen, drei Aufgänge, 350 Meter Tunnel, in dem aber nie ein Wagen fahren wird.

Den künstlichen Kanal „Eiser“ überspannt eine Sonderanfertigung, eine echte Ingenieursleistung: eine Brücke, die durch seitliches Hinausschieben des Mittelteils ihre eigene Zerstörung simuliert. „Niemand braucht sonst so eine Brücke“, sagt ein Ingenieur des Landes Sachsen-Anhalt mit Stolz. Ihre Zerstörung ist Präzisionsarbeit und dauert 15 Minuten, erst wird die Mitte hydraulisch angehoben, dann elektromechanisch rausgeschoben.

Braucht man das wirklich alles, um eine Brücke als unpassierbar zu markieren? Kann man nicht einfach ein Schild aufstellen, und die Übungsteilnehmer wissen Bescheid?

Eine Detonation unterbricht die Erklärungen

350 Meter Tunnel. Auf den Gleisen wird nie ein U-Bahn-Wagen fahren.
350 Meter Tunnel. Auf den Gleisen wird nie ein U-Bahn-Wagen fahren.

© dpa

Der dumpfe Knall einer Detonation unterbricht die technischen Erklärungen, und hinter Schnöggersburg erhebt sich ein dunkler Rauchpilz. Der Ingenieur winkt ab: Bloß eine planmäßige Sprengung russischer Altmunition, wie sie seit Jahren regelmäßig stattfindet.

Denn dieser Platz war seit 1943 ununterbrochen militärisch genutzt, eine lange Tradition der Superlative. Erst versenkten die Nationalsozialisten, die an dieser Stelle die Heeresversuchsstelle Hillersleben eingerichtet hatten, riesige Geschütze im Boden. Sie testeten die „Dora“ auf der 30 Kilometer langen Schussbahn. Die Sowjetunion baute ab 1945 das Gelände zum größten Truppenübungsplatz in der DDR um. Dann errichtete die Bundeswehr ihr modernstes Ausbildungszentrum, garantierte aber der Bevölkerung, dass nie ein scharfer Schuss fallen werde und alles mit modernster Simulationstechnik geschehe. Ihre Spezialität heute: Vorbereitung auf Auslandseinsätze. So gut wie jeder, der gerade in Afghanistan ist, hat hier vor dem Abflug zwei Wochen lang geübt. Zuvor aber mussten sie erst 35 500 Tonnen Munition und Munitionsreste aus dem Boden holen.

Oschersleben, Eilsleben, Irxleben, Erxleben, Haldensleben, Barleben, Uhrleben. Rundum heißt alles Leben, und doch betrifft die Ausbildung immer den Tod. Seine Herbeiführung für den Feind oder die Abwehr für einen selbst.

Aber niemand in der Gegend denkt häufig an Zinksärge. Nicht einmal an die Weltpolitik denken sie zwischen der B71 und der B189 öfters als anderswo. Im Gegenteil. Die Bürgermeisterin von Gardelegen, Mandy Zepig, bescheinigt den Bewohnern ihres Landstrichs „Sturheit, Bodenständigkeit und Kirchturmdenken“.

Gardelegen ist seit 1715 Garnisonsstadt, seitdem machen sie die aktuellen Machtverhältnisse an den wechselnden Uniformen fest – doch die alten Fachwerkhäuschen an den Kopfsteinpflasterstraßen stehen auch nicht strammer als anderswo. Mitten auf einem der wenigen dreieckigen Plätze Europas, im ersten Stock des Rathauses, sitzt Mandy Zepig von roten Locken behelmt vor einem historischen Schwert und einem Paar Boxhandschuhen.

Es sei nicht falsch zu sagen, dass der Truppenübungsplatz schon in den Rang eines Naturphänomens aufgestiegen sei. „Aber früher war es lauter.“ Als die Russen noch 15 000 Mann stationiert hatten und das Mädchen Mandy in Hottendorf wohnte, wo ihr Großvater Bürgermeister war und sie selbst, 13-jährig, mit der Tochter des Kommandanten befreundet – da mussten sie vor Manövern regelmäßig die größte Scheibe des Dorfes am Konsum mit Spanplatten sichern, derart donnerten die Geschütze. Später ist der Teenager Mandy mit Freunden auf dem Moped unerlaubt auf dem Gelände herumgesaust. „Das war kein Protest, sondern eine Mutprobe.“

Gardelegen ähnelt Pullach, die Angestellten bilden einen Gürtel um die Stadt

Nach dem Abzug der Russen sehnte sich die Bevölkerung nach Ruhe, sie wollte keine militärische Nutzung mehr. Aber sie gab mit dem sogenannten „Heide-Kompromiss“ ihren Widerstand auf, als sie den angenehmen Klang des Wortes „Kaufkraftäquivalent“ schätzen lernte: 1200 Bedienstete, Soldaten und Angestellte des Technik-Zulieferers Rheinmetall Defence wohnen mit ihren Familien in der Umgebung, kaufen Häuser, schicken ihre Kinder in die Schulen, betanken ihre Autos. Soldaten sind nach Feierabend auch bloß Konsumenten.

Welche Auswirkungen der Platz auf die Region habe, lässt sich heute deshalb nicht so einfach sagen, die Leute, die dort arbeiten, sind die Region! Darin ähnelt Gardelegen der bayerischen Stadt Pullach, wo die 4000 Leute des BND mit ihren Familien in einem Gürtel um die Stadt ihr eigenes Umland bildeten.

Nur einmal im Jahr scheint es, als seien die größten Probleme der Bundeswehr nicht im Ausland zu suchen, sondern am eigenen Zaun. Denn wie der Übungsplatz sind auch seine Gegner eine Art Naturgewalt geworden, die einmal im Jahr lautstark anschwillt. Die Gegner der Übungsstadt, sagt Mandy Zepig, die 2014 einen immensen Sachschaden angerichtet haben, kämen von außerhalb. Die argumentieren: Wer sich so vorbereitet, der führt Krieg im Schilde. Krieg beginne also hier, „War starts here“ heißt ihr jährliches, mehrtägiges Protestcamp.

Weil es unmöglich ist, den eigenen Zaun um sechseinhalb Quadratkilometer rundum zu schützen, gelangten 2014 etliche Gegner auf das Gelände. Als größten Erfolg können sie einen kleinen lila Balken im Jahresplan des Belegungsdiagramms der Bundeswehr bezeichnen, der die Zeit des Protestcamps markiert. An diesen Tagen findet in der Heide keine Übung mehr statt. „Es ist schlicht nicht zu verantworten“, sagt Oberst Uwe Becker, Leiter des Gefechtsübungszentrums Heer.

Auch das Elendsviertel muss der deutschen Bauordnung genügen

Urbaner Ballerraum. Vorne Oberst Uwe Becker, hinten Schnöggersburg.
Urbaner Ballerraum. Vorne Oberst Uwe Becker, hinten Schnöggersburg.

© Deike Diening

Becker lädt gleich noch zum Pressegespräch. Es bildet einen merkwürdigen Gegensatz zur geballten Exzellenz, von der dauernd die Rede ist, dass sich der Fahrer auf dem Truppenübungsgelände immer wieder verfährt. Er landet schließlich doch bei der zentralen Erd-Erhebung, von der aus Schnöggersburg bereits eine Skyline hat. Einmal mit dem Arm ausgeholt, schon ist das Projekt umrissen.

Krieg habe sich verändert, sagt Oberst Becker in die Mikrofone. Auch Konflikte folgten dem Trend zur Urbanisierung. 60 Prozent der Bevölkerung lebten bis 2030 in Städten, dort finden auch die bewaffneten Auseinandersetzungen statt. Becker war selbst in Afghanistan, doch schon zuvor in Sarajevo habe er an der Sniper Alley die kriegsentscheidende Bedeutung von Hochhäusern erkannt. In der Ausbildung kamen städtische Szenarien bis dahin nicht vor: „Es fehlt ein urbaner Ballungsraum.“ Für Übungen in 3D.

Wäre es da nicht realer, in Ruinen zu üben? Die Kriegsschauplätze der Zukunft werden schließlich auch nicht vom Tüv abgenommen. Warum nimmt man nicht einfach eine verlassene Stadt in Brandenburg, um dort den Häuserkampf zu üben?

Auch Nato-Partener und Verbündete können hier trainieren

Hagen Bräuer, Referatsleiter für den Bau der Stadt Schnöggersburg sagt, das ginge nicht, das sei viel zu gefährlich. Auch die Konflikte in der Welt stehen im Zusammenhang mit der deutschen Bauordnung. In Ruinen üben? Wenn dort etwas einstürzt und Soldaten sich verletzen, hat der Arbeitgeber seine Fürsorgepflicht verletzt. Selbst die über 300 Hütten des Elendsviertels dürften deshalb nicht windschief geraten, sondern müssen den Sicherheitsvorschriften genügen.

240 Tage Auslastung hat das Gefechtsübungszentrum bislang, das soll auch mit der Stadt ab 2018 so bleiben. Zur Zeit üben auf dem Gelände viele Holländer. Auch Nato-Partner und andere Verbündete könnten hier trainieren, heißt es, die Preise seien gestaffelt nach dem Interesse, das die Bundesregierung an ihrer Ausbildung hat.

Vom Hügel, auf dem Bräuer und die anderen stehen, sieht Schnöggersburg friedlich aus. Am Horizont drehen sich die Windmühlen bundesdeutscher Realität. Kundus, hieß es an diesem Tag, sei immer noch nicht stabil. Taliban hatten sich an den Kreisverkehren der Ausfallstraßen platziert. Die Bundeswehr war vor zwei Jahren abgezogen und nur noch als Berater der afghanischen Sicherheitskräfte beteiligt. Sogar Berlin, wo die relevanten Entscheidungen fallen, ist gefühlt Lichtjahre entfernt. Dort versteht man unter Häuserkampf den Wettbewerb um Altbauwohnungen innerhalb des S-Bahn-Rings.

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