zum Hauptinhalt
Alles ist vorbereitet. Eine Aluminiumleiter als Podest, die will er umstoßen.

© Doris Spiekermann-Klaas

Depression und Suizid: Der Mann, der seinen Tod verschlief

Plötzlich fand Hubert M. alles sinnlos und bereitete seinen Suizid vor. Minutiös. Doch dann geschah etwas Verblüffendes. Jetzt lebt er weiter. Und dieses Leben ist schwer, wenn es einmal leicht erschien, es zu beenden

Eine Aluminiumleiter steht im Raum. Hubert M. will sie als Podest nutzen, dann umstoßen. Die Nacht wäre der beste Zeitpunkt. Aber als es so weit ist, er das Seil befestigt, den Knoten geknüpft hat, sagt er sich, dass er noch abwarten sollte mit seinem Vorhaben. Der Morgen zeichnet sich bereits am Himmel ab. Er weiß, dass vor seiner Haustür bald jemand aufkreuzen wird, um, wie jeden Tag, die Zeitung durch den Briefschlitz zu schieben. M. will nicht entdeckt werden, bevor es vollbracht ist. Den lässt du noch durch, denkt er.

„Ich hatte das, wie ich meinte, gut geplant“, sagt er heute. „Es sind letztlich nur ein, zwei Kleinigkeiten gewesen, deretwegen…“

Hubert M. erwartete nichts mehr. Er wartete ab.

Wie sehr ihn das Zögern heute betrübt, dieser vernünftige Wunsch, nicht gestört zu werden, das erzählen schmale Blutränder unter seinen Augen. „Ich hätte mich nicht hinsetzen dürfen“, sagt er über jene Nacht, in der alles vorbei sein sollte, „einfach weiter auf und ab gehen müssen.“

Er lag auf dem Bett, als sie ihn fanden. Seine Tochter und sein Sohn standen im Raum, den er für seinen Tod vorbereitet hatte. „Ich habe mich noch nie so elend gefühlt.“ Auf die Frage, warum elend, schweigt er lange. Bis es aus ihm herausplatzt: „Haben Sie schon mal eine Schlinge hängen sehen?“

Hubert M. kann sich nicht erklären, warum er seinen Plan nicht ausgeführt hat. Seine Brust senkt sich wie unter einer Walze, als er darüber nachdenkt. Er fühlt sich als Versager, besonders an diesem Ort, den er nicht mögen kann. Auf der fünf.

Die fünf ist eine von mehreren psychiatrischen Stationen des Berliner Krankenhauses, in das M. von seinen Kindern gebracht wurde. Er brauche Hilfe, sagten sie.

Ich will keine Hilfe, sagte M..

Im Februar war das. Und er ist immer noch auf der fünf: 58 Jahre alt, alleinstehend, Kaufmann, ein groß gewachsener, schlanker Mann, mit buschigem Oberlippenbart, Brille. Die grauen Haare hat er nach hinten gekämmt. Aus welcher Stadt er stammt und womit er sein Geld verdient, will er nur verfremdet erzählen. Der Unternehmer möchte nicht erkannt werden. Mit „Selbstmord“ wolle doch keiner etwas zu tun haben, sagt er. Als es hieß, man bringe ihn weit weg, nach Berlin, war er erleichtert. Da kennt mich immerhin keiner, sagte er sich.

Die Gänge auf der fünf haben Linoleumbelag, die Sohlen quietschen. Die Farben der Wände und des Mobiliars sind hell, orange und grün, lebensfroh, die Türen unverschlossen. Am Wochenende wird gemeinsam an einer großen Tafel gefrühstückt, Obst steht in Schalen auf dem Tisch. Langschläfer dürfen im Bett bleiben. Hubert M. hat jetzt viel Gelegenheit auf und ab zu gehen. Er könnte die fünf jederzeit verlassen. Zwei Wochen lang hat er das erwogen. Aus einer Art Verpflichtung heraus ist er geblieben. Seinen Kindern zuliebe. Aber er sagt auch, lieber wäre er tot.

M. ballt die Fäuste, weiß zeichnet sich der Druck auf der Haut ab. Das Leben, weiterleben, ist schwer, wenn es einem mal so leicht vorkam, es zu beenden. Hubert M. ist einer von fast genau 100000 Menschen pro Jahr, die sich in diesem Land das Leben nehmen wollen. Männer gehen besonders unerbittlich gegen sich vor. Oft werden sie, wenn es schief geht, mit schweren Verletzungen in Krankenhäuser eingeliefert, mit Schuss- und Stichwunden, Strangulationsmalen. Schätzungen zufolge geben 30 Prozent der Suizidwilligen, die einen ersten Anlauf überleben, ihr Ziel danach nicht auf. Über die Hälfte davon versucht es innerhalb des ersten Jahres erneut. Aus Sicht von Medizinern sind 30 Prozent eine ziemlich hohe Rückfallrate für eine Krankheit.

Andererseits sagen Ärzte, dass viele Selbsttötungsabsichten nur von momentanen Krisen herrührten, dass der Wunsch impulsiv sei. Suizidale Phasen gelten deshalb als gut therapierbar und können meist überwunden werden.

Kurz nach seiner Ankunft in der Psychiatrie schloss M. sich der Gartengruppe an. Zwei junge Apfelbäume habe er beschnitten, sagt er. Mit Obstbäumen kennt er sich aus. Zu Hause wartet ein Streuobstgarten auf ihn, den hat M.s Großvater angelegt. Birnen, Äpfel, hohe Bäume, alte Sorten. M. hat sie verkommen lassen. Was nun aus ihnen werden soll, darauf hat er keine Antwort. Es ist wie mit allem. Er soll Antworten auf Fragen finden, die er sich gar nicht stellt. M. sagt: Mich ändert man nicht.

Gerade erst habe er wieder mit einer Ärztin über diesen Punkt gestritten. Hubert M. meint einen Kern in seinem Inneren, der unberührt bleiben soll von den Ärzten, dem Krankenhaus, den Pflegern. Dabei akzeptiert er langsam, „krank“ zu sein. Depressiv meint das. Aber auch dieses Depressive soll seinem Innersten nichts anhaben. Es gehört nicht dazu.

Er belog den Hausarzt. Der war auf der richtigen Spur

Tatsächlich gelten depressive Störungen bei 65 bis 95 Prozent der Suizide als wichtigster Faktor. Zu den Risikogruppen zählen Frauen zwischen 15 und 25 Jahren und Männer vom 75. Lebensjahr an. Die einen unternehmen die meisten Versuche, die anderen setzen die Tat am häufigsten mit tödlicher Konsequenz um. Wobei es auch Psychologen gibt, die den Begriff Depression lieber abgeschafft sehen würden. Als Sammelbegriff sei er für eine medizinische Diagnose viel zu ungenau. Worum es dabei meist geht: Das Kontrollvermögen der Betroffenen werde „von negativen Gefühlen so weit weggeschwemmt, dass der Selbsterhaltungstrieb versagt“. So drückt es der Berliner Klinikleiter Andreas Bechdolf vom Vivantes-Krankenhaus am Urban aus. Meist würden die Patienten später zu einer anderen Beurteilung ihrer Lage kommen. „Ein objektives Ereignis, das einen in den Suizid treibt, gibt es nicht“, sagt er. Er habe deshalb die Aufgabe, die „Steuerungsfähigkeit“ der Betroffenen wiederherzustellen, Einfluss auf deren Situationsbewertung zu nehmen. Dafür gebe es Antidepressiva und Gespräche. Und es ist Zeit nötig. Zeit, die es vorher nicht gab.

Auch M. ist die Zeit abhanden gekommen. Das habe sich im Laufe der Jahre ergeben, sagt er, der Beruf. Am Ende wusste er nicht mehr aus noch ein. „Es merkt niemand, was in einem vorgeht“, sagt er, die Stimme dünn wie ein Wollfaden. „Man kann das, wenn man will, gut verbergen.“

Sogar vor dem Hausarzt vermochte er das. Den Fragebogen, den der Arzt ihm, alarmiert von den zunehmenden körperlichen Beschwerden seines Patienten, vorlegte, beantwortete er nur zur Hälfte wahrheitsgemäß. Sogar die Frage, ob er sich mit Suizidgedanken trage, fand er auf dem Blatt.

„In einer Stadt wie Rostock“, versucht er sein Verhalten zu erklären, „können Sie nicht einfach zu einem Arzt gehen, ohne dass es sich herumspräche.“

Er machte das Kreuzchen bei Nein.

Er log. Wenn er davon erzählt, dann um zu sagen: So weit musste es kommen. So weit, dass er bald jeden belog, seine Kinder, die Enkel. Umso vorsichtiger wählt er seine Worte jetzt. Den Tod und dessen Vorbereitung spart er erst mal aus.

Um stattdessen von dem wichtigsten Tag seines Lebens zu erzählen. Dem Tag nach der Währungsunion 1990. Damals eröffnete Hubert M., studierter Maschinenbauer, ein Geschäft. Presse und Tabakwaren. Zu der Zeit war er 34 Jahre alt, hatte zwei Kinder, Tochter und Sohn, neun und sieben Jahre, und erlernte die Prinzipien des Kapitalismus im Eiltempo. Als die ersten Einkaufscenter am Stadtrand von Rostock gebaut wurden, ergriff M. die Chance, expandierte, eröffnete Filialen, stellte Personal ein. M. wollte der Beste seines Fachs sein. Die Ehe zerbrach daran, er verließ auch die Kinder, wie er kühl konstatiert. Er ging. Später lernte er eine neue Frau kennen, bekam einen weiteren Sohn, aber daran, kürzer zu treten, dachte er nicht. Erst im Rückblick fällt ihm jene Episode wieder ein, die wie ein Wendepunkt erscheint.

Eine Angestellte eröffnet ihm, dass eine Kollegin in die eigene Tasche wirtschafte. Sie müsse ihm das sagen, denn es könne ja dazu führen, dass die Fehlbeträge immer größer würden, dass sein Geschäft Schaden nehmen und pleitegehen würde. Da hänge doch ihr Arbeitsplatz dran. Den wolle sie nicht verlieren. M. hat mit Lotto-Einnahmen zu tun, es geht um viel Bargeld. So rüstet er das Geschäft mit versteckten Kameras aus.

Noch immer geht ihm die Erinnerung nahe: Wie er bald darauf vor dem extra großen Bildschirm saß, um sich die Videoaufzeichnungen anzusehen. Jedes Detail erkennbar. Nach einer halben Stunde passierte, worauf er vorbereitet war: Eine der beiden Frauen... „Wer weiß, wie es geht, versucht es auf die Tour“, sagt M.. Nach einer weiteren halben Stunde sieht er die Frau, die ihm den Tipp gegeben hat. Dieselbe Masche.

Daran sei er nicht zerbrochen, sagt er. Aber es schmerzte, sich auf niemanden verlassen zu können. So gab er seine Geschäfte auf und wurde Süßwarenhändler. Edle Schokolade, Bonbons und Lakritze aus kleinen Manufakturbetrieben bot er übers Internet an sowie auf Messen. ER liebte das Gute daran. Und er konnte das als Online-Unternehmer alleine bewerkstelligen. Doch dann, ab 2011, entglitten ihm die Dinge. Plötzlich. Er hat jetzt auf einem Zettel die Gründe dafür notiert: „Kaum Freizeit – kein Urlaub – keine Hobbys mehr. Irgendwann nur noch funktioniert.“ Er schaffte sein Pensum nicht mehr. „Meine Leidenschaft war weg. Das hat mich erschreckt.“

Der Schritt in die Einsamkeit ist ein männlicher, sagen Suizidexperten

Als „Selbsttherapie“ beschloss er, sich aufs Land zurückzuziehen. Der Schritt in die Einsamkeit ist ein männlicher, sagen Suizidexperten. Er entspricht dem Selbstbild des Mannes als Macher, in der Krise Lösungen bei sich zu finden. Eine gefährliche Strategie: Dreimal mehr Männer als Frauen bringen sich um. Auch für M. wurde eine Loslösung daraus. Morgens wachte er auf und fühlte sich nutzlos. Ging die Bestellungen durch und fand es sinnlos. Die Mühe, seine Bücher nach dem Umzug aus den Kartons auszupacken und in Regale einzusortieren, hatte er sich gar nicht mehr gemacht. Die Aufträge sammelten sich auf einem größer werdenden Stapel. Nachts wurde er oft wach. Stundenlang stand er am Fenster, starrte hinaus. Sah immer nur einen kommen, den Zeitungsmann. Drei Hunde liefen frei vor ihm her.

M. dachte: „Was will ich eigentlich noch hier?“ Die Regale in seiner Wohnung leer wie das Versprechen, das er sich selbst gegeben hatte.

Hilfe wollte er nicht. „Mein Entschluss stand fest.“

Aber M. wollte kein Chaos hinterlassen, es sollte ein anständiger Abschied sein, wenn auch ein einseitiger. In seiner Wohnung befand sich ein kleiner Ofen. Tagelange verbrannte M. private Dokumente und Erinnerungsstücke aus seiner Jugend, Fotos, Briefe, Zeugnisse, Abschlüsse, die er mit seinem Leben mit vernichten zu müssen glaubte. Nur den Personalausweis nicht. „Meine Kinder sollten zur Identifizierung nicht in eine Leichenhalle müssen, Tuch hoch.“ Er schrieb Abschiedsbriefe. Lange saß er daran. Ungeübt, eigene Gefühle zu formulieren. Die Kinder sollten verstehen, dass er keine andere Lösung für sich sah und auch nicht wollte.

Wie in Trance habe er die letzten Vorkehrungen getroffen, sagt M. Seinen 16-jährigen Sohn besucht, wissend, dass es das letzte Mal sein würde. Danach zum Grab seiner Eltern. Unterwegs die Briefe eingeworfen.

Zwei Tage brauchten Pakete nach Berlin. „Die Post war nie zeitig gewesen“, sagt M. Seine Tochter studiert in der Hauptstadt. Die Sendung an sie traf diesmal schon am nächsten Tag ein. Sie las den Brief und rief einen Studienfreund an: Er müsse sie nach Norden bringen, sofort. Drei Stunden dauerte die Fahrt.

In den Monaten vor diesem Februartag hat Hubert M. das Für und Wider möglicher Suizidmethoden abgewogen. Auf der Fähre von Rostock nach Trelleborg, die er häufig nahm, stand er an der Reling, Blick in die Tiefe auf das schäumende Wasser gerichtet, und fragte sich, ob Ertrinken gut wäre. Spurlos verschwinden. Er wollte Unbeteiligte nicht mit hineinziehen. Keine Lokführer oder Passanten. M. entschied sich für den Strick.

„Ich habe im Internet recherchiert. Dass es schnell gehen kann. Oder auch länger dauert“, sagt M. Er wusste deshalb nicht, ob er an seinem Strick zu hören wäre im Todeskampf, ob er Laute von sich geben, wie lange es dauern würde. Auch die Aluminiumleiter hätte Lärm gemacht, wenn er sie unter sich wegstieß, was den Zeitungsausträger alarmieren konnte. Außerdem dachte er, dass dessen Hunde etwas wittern würden. Also kauerte er sich in eine Ecke. Vier Uhr in der Früh. Der Ofen war warm. Die letzten Papiere glommen darin. Obwohl er seit Monaten keine Ruhe mehr gefunden hatte, übermannte es ihn nun.

Für die Heilung eines Suizidwilligen, das haben Studien ergeben, ist die Beziehung von Patient und Therapeut wichtiger als die Wahl des therapeutischen Ansatzes. Menschen mit Suizidgedanken stellen sich zwar radikal infrage, als Person, wollen aber als Persönlichkeit angenommen werden. Deshalb habe ein Suizidwilliger stets Recht und Unrecht zugleich, sagt Hans-Christian Deter vom Benjamin-Franklin-Klinikum. Der Therapeut, mit 70 Jahren emeritierter Professor, hat viele Menschen aus suizidalen Krisen herausgeführt, er spricht fest und klar, mit einer Stimme, die knarzt, wenn sie belastet wird. Sollte ein Patient im Laufe der Behandlung recht behalten, sagt er, dass das Leben ihm nichts Positives mehr zu bieten habe, müsse der Arzt ihn gewähren lassen. Das sei eine „anstrengende Auseinandersetzung“.

Es sei vorgekommen, sagt Deter, dass Patienten ihn verunsichern wollten, seine Sicht auf das Leben und der Lebenserhaltung in Frage stellen wollten. Sie benutzten ihn, um zu testen, wie ausweglos ihre Lage wirklich war. Nach jeder Sitzung habe die Chance bestanden, sagt Deter, dass der Betroffene weiterlebte, und das Risiko, dass er es nicht tat, weil ihm die Bedingungen nicht genügten.

In die Falle dieses so genannten "Bilanzsuizids" gehen Menschen, die sich für stark halten. Menschen mit einem hohen Wertgefühl. Sie sehen sich nach einem sozialen Abstieg, einem gescheiterten Lebensentwurf als "Niete", die vernichtet werden muss. "Unglaublich", sagt Hubert M., "dass ich mir helfen lassen muss. Das erspart man seinen Kindern doch."

In diesen Tagen wird Hubert M. entlassen. Er halte es im Krankenhaus nicht länger aus, ohne Privatsphäre. 16 Wochen ist er auf der fünf. Einen Suizid wolle er nicht wieder unternehmen, sagt er. Seine Stimme klingt kräftiger. Das Reden habe ihm geholfen. Er hat auch die Welt jenseits der Krankenhausmauern erkundet, die er anfangs für eine ganz natürliche, ihm entsprechende Barriere wahrnahm. Aber sein Zögern an jenem Tag verstehe er noch immer nicht.

Neulich hat Hubert M. die Station für ein paar Tage verlassen, um nach Hause zu fahren. Eines seiner Warenlager musste geräumt werden. Das Auto, ein Ford Transit, musste er bereits zurückgeben. M. konnte die Leasingraten nicht mehr bedienen. Ohne Gefährt ist sein Dorf schwer zu erreichen. Er wird umziehen müssen, und was er geschäftlich machen soll, ist ihm ein Rätsel. Als er die Haustür aufschloss, das Radio anstellte, lief gerade „Ich bin wieder hier“ von Westernhagen. Er mochte das. Und er schaffte es auch, den Raum zu betreten. Sein älterer Sohn hatte alles entfernt, was an das Vorhaben erinnerte.

Als er begann, die Süßwaren beiseitezuräumen, da tat er es ungerührt. Es musste gemacht werden, also tat er es.

Zur Startseite