zum Hauptinhalt
Michael Müller verbindet wenig mit seinem Vorgänger Klaus Wowereit. In seinen zwei Jahren als Regierender Bürgermeister hat er die Stadt allerdings ordentlich verwaltet.

© imago/Jens Jeske

Der Bürgermeister vor der Wahl in Berlin: Michael Müller: Der Pflichtverteidiger

Champagner aus Pumps zu schlürfen? Das ist bei Michael Müller nicht denkbar. Der Berliner SPD-Chef ist die gelebte Unauffälligkeit. Manches ist besser geworden, seitdem er regiert - aber es hilft ihm kaum.

Michael Müller hat eine besondere, im Politikgeschäft seltene Eigenschaft. Er kann einen Raum, einen Schauplatz, ein Podium betreten und dabei praktisch unsichtbar bleiben. Reporter warten auf einen Pressetermin, Parteimitglieder auf eine Rede, Gäste auf ein Grußwort des Regierenden Bürgermeisters – und, ach, plötzlich ist er irgendwie da. Keine magnetischen Feldlinien im Publikum, kein Raunen, kein Gedränge, überhaupt nichts. Der Typ von nebenan.

Seine Mannschaft würde vermutlich hervorheben, daran zeige sich das bescheidene, unprätentiöse Wesen Müllers, 51 Jahre alt, der keinen roten Teppich und keine Hollywood-Connection brauche, um seiner Arbeit nachzugehen. Das ist richtig. Und seit der vormalige Stadtentwicklungssenator Ende 2014 den Berliner Spitzenjob angetreten hat, ist vieles in ruhigeres Fahrwasser geraten, sind aufgeschobene Entscheidungen getroffen, alte Probleme angepackt worden, deren Entstehung er überwiegend nicht zu vertreten hatte: das Lageso-Chaos, die bröckelnden Schulen; auch die Bedeutung des Wohnungsbaus ist nun wohl endlich erkannt. Nur vom Flughafen BER kommen immer noch widersprüchliche Signale.

Er hat also seine Arbeit weitgehend gemacht. Dennoch ist er noch immer der Leiter der unbeliebtesten deutschen Landesregierung, kann auch fast zwei Jahre nach seiner Wahl noch mitten am Tag zu Fuß von der Friedrichstraße Richtung Brandenburger Tor marschieren – und niemand spricht ihn an, niemand nimmt ihn merklich zur Kenntnis.

Im Schonraum der Partei fühlt er sich hingegen heimisch, kennt nach 35 Jahren Mitgliedschaft praktisch jeden. So fährt er beispielsweise mit der SPD Treptow-Köpenick Dampfer, von Köpenick nach Erkner, eine traditionelle Veranstaltung. Der Himmel ist blau, die Vögel zwitschern, das Schiff ist gut besetzt mit gereiften Genossen, die ehemalige Oberamtsrätin trifft den ehemaligen Stadtrat und umgekehrt, alle fühlen sich wohl und auch ein bisschen bedeutend, weil der Regierende mitfährt. Er klappert das Schiff oben und unten ab, drückt jede Hand, hat ein paar freundliche Worte, erläutert knapp politische Probleme. Dann hebt er zur Rede an – und nichts läge näher, als ein wenig Aufbruchstimmung heraufzubeschwören und die Sonne der Sozialdemokratie ohne Unterlass scheinen zu lassen auf all die Saturierten und Pensionierten. Doch stattdessen erregt sich Müller vor allem über die AfD, als müsse er verhindern, dass die Hälfte der Mitfahrenden an der nächsten Brücke über Bord springt, um unverzüglich rechtsaußen zu wählen. Zu beiden Seiten des Müggelseekanals ziehen währenddessen Plakate mit groben Beleidigungen gegen angeblich betrügerische Politiker vorbei, den Fluglärm betreffend – sie lassen ihn dagegen anscheinend völlig kalt.

Dort, wo es auf den ersten Blick eher heikel aussieht, findet Müller leichter eine überzeugende Linie. In einem abgeschabten Hörsaal der TU haben deutsche Muslime des Vereins „Mahdi“ zur Gesprächsrunde gebeten, gut hundert Zuhörer sind gekommen. In der ersten Reihe sitzen ausschließlich ältere Männer, zum Teil in Schlips und Kragen, weiter hinten viele junge Frauen mit und ohne Kopftuch, Studentinnen offenbar. Müller nimmt die Feinheiten der Sitzordnung unkommentiert hin, referiert seine Auffassungen und bleibt hart, als der einzige kontroverse Punkt zur Sprache kommt, das Kopftuchverbot im öffentlichen Dienst. Keine religiösen Symbole im Kontakt mit dem Bürger, das will er auch nicht ändern.

Das hätte Klaus Wowereit nicht anders formuliert. Auch der ist ein Tempelhofer, aber persönlich könnte er sich kaum stärker von seinem Nachfolger unterscheiden. Dickes Fell, dünne Haut – das sind die Gegenpole. Wowereit schüttelte Kritik und persönliche Angriffe rasch und selbstsicher ab, Müller speichert sie ohne Ablaufdatum und verschanzt sich hinter Getreuen, die fast durchweg ebenfalls Tempelhofer Hintergrund besitzen.

Wowereit liebte Bühnen, schmückte sich mit prominenten Freunden wie Thomas Gottschalk und Sabine Christiansen und erweckte in seiner wilden Phase den Eindruck, er könne zumindest in die Versuchung geraten, Champagner aus Pumps zu schlürfen. Beides ist bei Müller nicht einmal theoretisch denkbar. Über Freunde weiß man praktisch nichts, die Familie bleibt sorgfältig von Öffentlichkeit und Politik abgeschirmt; noch nie war die Frau eines Regierenden Bürgermeisters so unsichtbar, Wowereits Jörn Kubicki eingeschlossen.

Wenn Wowereit mal ohne anschließende Termine auf einer Veranstaltung gestrandet war, ließ er sich gern auf fröhlichen Smalltalk ohne Zeitlimit ein. Müller fällt in ähnlichen Situationen dadurch auf, dass er sich lautlos und früh vom Hof macht. In der langen Terminliste seiner vorletzten Wahlkampfwoche stand manch Entspannendes wie zum Beispiel ein Premierenbesuch des Films „Bridget Jones’ Baby“, den er möglicherweise sogar absolviert hat; einen Tag später sagte er seinen Auftritt beim Sommerfest der „Berlin Partner“ kurz vorher ab und überließ das Grußwort der nicht wirklich zuständigen Kollegin Dilek Kolat.

Gewisse Probleme mit Nähe diagnostizierten auch Fotoreporter, die am vergangenen Freitag nach Marzahn fahren mussten, um dort die erste Probefahrt der IGA-Seilbahn mitzuerleben und mal ein wenigstens halbwegs originelles Müller-Foto mitzubringen, nicht immer nur dieses indifferente Lächeln im Stehen neben anderen Honoratioren.

Müllers Eigenheiten werden noch deutlicher, wenn er gemeinsam mit den Granden seiner Partei auftritt, was im Berliner Wahlkampf nicht komplett zu vermeiden war. Der Hamburger Kollege Olaf Scholz ist nicht unbedingt ein Charismatiker, früher haben sie ihn wegen seiner hölzernen Art als „Scholzomat“ verspottet – aber an seiner Seite wirkt Müller wie sein Staatssekretär.

Noch deutlicher wird das Bild, wenn Sigmar Gabriel aufmarschiert, zum Beispiel in der vergangenen Woche bei einem Berliner Unternehmen, das in Fachkreisen für fortschrittliche Arbeitszeitmodelle und familienfreundliche Flexibilität bekannt ist. Gabriel füllt den Raum, hört den Referaten eine Weile ungeduldig zu, kippt dann den Zeitplan und fragt los, bohrt, nervt. Alle merken: Der Minister interessiert sich, sucht Impulse für politisches Handeln, will diskutieren und nicht nur abnicken. Und Müller? Hmmm. Lächelt, wirkt interessiert, stellt dann pflichtschuldig am Ende auch noch eine Frage, deren Beantwortung niemanden interessiert, ihn selbst eingeschlossen.

Dieser eigenartige Mangel an fühlbarer Präsenz gehört natürlich in eine Vorgeschichte, in der der Name Wowereit zwangsläufig wieder fallen muss. Wowereit hatte sich und die Stadt müde regiert, galt als glamouröser Leichtfuß, der den Flughafen BER und die komplette öffentliche Infrastruktur vergeigt hatte und nun dringend durch einen uneitlen Profi ersetzt werden müsse. Mal abgesehen von der Fragwürdigkeit dieser Annahmen schien Müller also schon wegen seines Habitus ein geeigneter Nachfolger zu sein. Würde er der penible Controller sein, der die Schranzen und Krisengewinnler in die Schranken weist, der über ideologische Rückwärtsgefechte erhaben ist und aus den Resten abgebrannter Wowereit’scher Wunderkerzen Energie für blühende Stadtlandschaften gewinnt?

Das Schicksal rückte ihm bei diesem Karrieresprung Frank Henkel an die Seite, den starken Mann der CDU, der zwar anders als Müller nicht aus Tempelhof stammt, aber durchaus von dort stammen könnte – und der bei Wowereit nicht viel zu melden hatte. Beide eint, dass sich ihr Einfluss ganz und gar aus der Ochsentour durch die Partei speist – die Berliner Partei selbstverständlich. Denn bundespolitisch haben die Spitzenpolitiker der Weltmetropole traditionell nichts zu melden, das war nur vor Jahren mal anders in einem kurzen, irren Moment, als sich die Top-Genossen allesamt gegenseitig in die Beine geschossen hatten und irgendwer ratlos die Worte Wowereit und Kanzler in Verbindung brachte.

Müller und Henkel können gut miteinander, albern herum wie alte Schulfreunde, und das keineswegs nur, wenn sie der Presse Harmonie vorführen wollen. Allerdings leidet die Männerfreundschaft wohl zunehmend unter den politischen Zentrifugalkräften, die die große Koalition zersetzen und als Projekt der nächsten Wahlperiode nicht wiederholbar erscheinen lassen. Wie auch immer: Bei der Begrüßung der zurückgekehrten Berliner Olympiateilnehmer auf der Tribüne des Olympiastadions setzten sich beide Schulter an Schulter und glucksten in der Abendsonne, als passe nicht ein Blatt des Koalitionsvertrags zwischen sie. Zu dieser Zeit hatte Müller in einem Tagesspiegel-Beitrag sogar schon eine Präferenz für Rot-Grün angedeutet.

Auch in der letzten Plenarsitzung des Abgeordnetenhauses nahmen beide einträchtig nebeneinander Platz auf der Senatsbank, arbeiteten ihre Unterschriftenmappen durch und ignorierten lässig, was ihnen die aufgeregte Opposition an Vorwürfen hinwarf. Eine direkte Konfrontation zwischen beiden war nicht vorgesehen, denn für die CDU sprach Fraktionschef Florian Graf, der mit dem Koalitionspartner ebenso mild umging wie später Müller in seiner durchaus recht starken Abschlussrede mit der CDU. Seine deutlichste, nicht einmal persönlich adressierte Kritik am Kollegen Henkel: Er wolle nicht, dass da jemand „mit dem Sheriffstern“ in der Stadt herumlaufe.

Und er griff auf eine Standardformulierung zurück, die ihn durch den gesamten Wahlkampf begleitet, seit Henkel das Burkaverbot ins Gespräch gebracht hat: Er sei entschieden dagegen, dass Integrations- und Sicherheitsfragen vermischt werden. Er sagt übrigens „vermüscht“ – man kann einen Politiker aus Tempelhof herausholen, aber nicht Tempelhof aus dem Politiker.

Diese regionale Erdung ist natürlich Müllers Stärke. Andererseits gibt es in Berlin praktisch keine nicht regional geerdeten Politiker, alle sind sie von hier und werden ihr Berufsleben auch hier beschließen. Manche sehen gerade darin das Problem der Stadt: Kein Konzern würde heute noch Führungskräfte beschäftigen, die nie die schützende heimatliche Komfortzone verlassen haben.

Die Kontrolle über die Fotos von sich selbst scheint ihm heilig, im Wahlkampf soll kein anderer das Stadtbild bestimmen als der kompetente Macher, der sorgfältig die Brille auf der Nase justiert, um nur kein Detail zu übersehen. Darin wird ein klarer Machtinstinkt erkennbar, den er seinen Berliner Parteifreunden voraushat, deutlich sichtbar auch, als er sich im April 2016 zum Landesvorsitzenden wählen ließ in der sicheren Gewissheit, dass die SPD ihren Spitzenmann nicht düpieren könne. Seitdem ist die Parteizentrale weitgehend abgemeldet, niemand hält mehr den Laden zusammen und streichelt die widerstreitenden Milieus. Immer wieder fliegen Müller auch die Folgen heikler Entscheidungen – Chris Dercon, Sasha Waltz – um die Ohren, weil es ihm schwerfällt, sie kommunikativ und diplomatisch anzubahnen. „Verantwortung zählt“, steht kryptisch auf einem seiner Wahlplakate. Aber was bedeutet das jetzt eigentlich genau?

Geraten die Dinge außer Kontrolle, dann senken sich Müllers Mundwinkel, die Lippen pressen sich zusammen. Es ist längst Gegenstand öffentlicher Diskussion, dass dies besonders im Kontakt mit dem Tagesspiegel passiert, den Müller seit längerer Zeit ignoriert. Die mehrfach wiederholten Einladungen der Redaktion zum Leserforum vor der Wahl blieben seit dem Frühjahr unbeantwortet, Müller verweigert Interviews und jeglichen Kontakt, der über einen beiläufigen Handschlag mit Redakteuren hinausginge – tief getroffen offenbar wegen irgendetwas, was in grauer Vorzeit liegen muss.

Im Interview mit dem Videoblogger Tilo Jung legte er sich vergangenes Wochenende erstmals ein wenig fest und formulierte, die Grenze sei erreicht, „wo es persönlich/privat wird“. Und weiter: „Meine Kinder, meine Frau können sich nicht wehren gegen Artikel – so wie ich es kann.“ Was abwegig ist, denn Redaktion und Archiv haben nicht einen Text finden können, der in dieses Suchraster passen würde. Müller lässt präzisere Angaben verweigern, „das steht für sich“, heißt es.

Wie es weitergeht mit ihm, ist offen. Tritt nach der Wahl die Katastrophe ein, die irgendwo in der Nähe der 20-Prozent-Grenze liegen dürfte, wird wohl Raed Saleh die Ärmel hochkrempeln und aufräumen wollen. Sonst ist Rot-Rot-Grün wahrscheinlich und Rot-Schwarz-Gelb nicht völlig ausgeschlossen. Es wird auf jeden Fall ein schwieriger Ritt. Was treibt Müller, diesen Job unbedingt machen zu wollen? Es ist wohl einfach eine Art Pflichtgefühl.

Der Tagesspiegel kooperiert mit dem Umfrageinstitut Civey. Wenn Sie sich registrieren, tragen Sie zu besseren Ergebnissen bei. Mehr Informationen hier.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false