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Einzelgänger. Gerwald Claus-Brunner fiel bei seiner Fraktion im Abgeordnetenhaus immer wieder als aggressiv auf. Zuletzt soll er sich völlig isoliert haben.

© Hanschke/dpa

Der Fall Claus-Brunner: Vor aller Augen

Am Ende entglitt ihm alles: das Leben mit den Piraten, seine Hoffnung auf die große Liebe. Völlig unerwartet kam die Tragödie nicht. Eine Spurensuche im Fall Gerwald Claus-Brunner.

Ein Neubau in der Schönhauser Straße in Steglitz. Vier Etagen, 16 Wohnungen. Einer der Mieter war Gerwald Claus-Brunner, 1972 geboren, vor fast 20 Jahren aus Westdeutschland nach Berlin gekommen. Den Piraten, den Abgeordneten mit der Latzhose und dem Palästinensertuch und der Davidstern-Kette – den kannten fast alle.

Niemand kannte ihn wirklich. Gegenüber von Brunners Wohnung sitzen einige Gäste auf der Terrasse einer Bäckerei. Sie tuscheln, tratschen, soll ja unfassbar sein, was hier geschah. Hörensagen. Eine erinnert sich an den Nachbarn. „Er war ein Einzelgänger“, sagt sie. Ein ziemlich Prominenter, einer von jenen 15 Idealisten, die 2011 überraschend mit der Piratenpartei ins Abgeordnetenhaus einzogen und die Politik auf den Kopf stellen wollten. Und waren die nicht alle ein bisschen exzentrisch?

Die Wohnung von Claus-Brunner liegt im zweiten Stock. Die Fenster sind angekippt, damit der Geruch der Leichen entweichen kann. Am Montag hatte die Polizei dort zwei Tote entdeckt. Claus-Brunner, der sich, wie die Staatsanwaltschaft erklärt, mit einem Stromschlag selbst getötet hatte. In einem anderen Zimmer fanden die Beamten die Leiche von Jan Mirko L., 29 Jahre, gefesselt.

„Der sieht in mir was – keine Ahnung, wie der darauf kommt“

Claus-Brunner nannte Mirko L. in sozialen Netzwerken immer wieder seinen „Wuschelkopf“. Er sei seine einzige Liebe gewesen, mit seinen langen braunen Haaren, schrieb Brunner, postete kurz vor seinem Tod ein Foto von Mirko L., das ihn in der S-Bahn zeigt. Dazu: „Mein Leben für dich, lieber Wuschelkopf. Für immer und ewig.“

Die Liebe war wohl nur einseitig. Die Ermittler gehen davon aus, dass der Politiker den jungen Mann erwürgt hat. Mirko L.s Facebook-Seite, auf der jenes Foto aus der S-Bahn ebenfalls zu sehen ist, hat Claus-Brunner angelegt, nicht das Opfer. So erzählt es ein Freund des Getöteten, am Mittwoch der Polizei. Der Mann lebte wie Mirko L. in Wedding.

Offiziell bestätigt ist, dass sich beide kannten. Mirko L. soll mal in Claus-Brunners Wahlkreisbüro in Steglitz gearbeitet haben. Und er soll sich von Claus-Brunner immer wieder bedrängt gefühlt haben, ging deshalb offenbar sogar zur Polizei. Am Mittwoch befragte die Mordkommission die ersten Bekannten von Opfer und Täter. Darunter jenen Freund aus Wedding, der erzählt, er habe Mirko L. 2015 bei einer Kulturveranstaltung kennengelernt. L. soll seit Kurzem eine Freundin gehabt haben – und keine intime Beziehung zu Claus-Brunner.

Claus-Brunner war Abgeordneter der Piraten. Sein Hintergrundbild auf dem Laptop soll das Foto seiner verstorbenen Jugendliebe gewesen sein.
Claus-Brunner war Abgeordneter der Piraten. Sein Hintergrundbild auf dem Laptop soll das Foto seiner verstorbenen Jugendliebe gewesen sein.

© Britta Pedersen/dpa

Doch, berichtet dieser Zeuge, habe Mirko L. über den Piraten-Abgeordneten gesagt: „Der sieht in mir was ... – keine Ahnung, wie der darauf kommt.“ Das habe ihn, als Freund, beunruhigt. „Mirko, so haben ihn alle genannt, war selbstlos.“ Und: „Er erzählte mir, dass Claus-Brunner die Facebook-Seite gegen seinen Willen erstellt hat.“ Danach habe er Mirko L. geraten, dem Abgeordneten endlich Grenzen aufzuzeigen. Weil Claus-Brunner hartnäckig gewesen sei, habe L. ihn in diesem Juni angezeigt: Stalking, also Nachstellen, ist seit 2007 strafbar.

Noch vergangenen Donnerstag, mutmaßlich wenige Stunden bevor Jan Mirko L. starb, soll er mit seinem Weddinger Freund Tischtennis gespielt haben. „Ich habe ihn noch mal nach dem Stalking gefragt“, sagt der Bekannte. „Aber Mirko meinte, so wild sei das nicht.“

Hätte man etwas ahnen können? Manche meinen: Ja

Nun ist Jan Mirko L. tot. Die Ermittler gehen davon aus, dass Claus-Brunner den 29-Jährigen am Donnerstag in dessen Weddinger Wohnung besucht. In der Nacht zum Freitag tötete er ihn dort vermutlich, die Leiche brachte Claus-Brunner in seine Steglitzer Wohnung, wo er sich am Wochenende selbst tötete.

In den fünf Jahren, die Claus-Brunner in der Öffentlichkeit stand, ist offenbar nur wenig geschehen, um ihn unter Kontrolle zu bringen. Jetzt, nach dem Mord, berichtet einer der Piraten anonym: „Als ich davon las, dass es eine zweite Leiche gibt, war die erste Befürchtung schon sofort, dass er das getan haben könnte.“

Hätte man etwas ahnen können?

Stephan Urbach sagt: Ja. Urbach war selbst bis 2013 Pirat, kannte Claus-Brunner – oberflächlich, wie so viele. Doch anders als andere Weggefährten spricht Urbach öffentlich und erhebt schwere Vorwürfe: „Schuld sind übrigens die, die ihn seit Jahren gedeckt haben und noch immer decken“, schrieb er am Mittwoch auf Twitter. Und: „Diese Leute haben ihm jahrelang gesagt, dass sein Verhalten O.K. ist.“ Es ist eine Abrechnung mit dem Toten und der Partei: „Erzählt ihr mal ruhig weiter, dass andere Faxe in den Tod getrieben hätten. Ihr widert mich an.“

Soll da wirklich etwas vertuscht werden?

Einzelgänger. Gerwald Claus-Brunner fiel bei seiner Fraktion im Abgeordnetenhaus immer wieder als aggressiv auf. Zuletzt soll er sich völlig isoliert haben.
Einzelgänger. Gerwald Claus-Brunner fiel bei seiner Fraktion im Abgeordnetenhaus immer wieder als aggressiv auf. Zuletzt soll er sich völlig isoliert haben.

© Hanschke/dpa

Faxe, so nannten sie ihn in der Fraktion. Auf den Fluren des Abgeordnetenhauses herrscht am Mittwoch auffallende Leere. So kurz nach der Wahl haben sich die Fraktionen nicht voll konstituiert, viele Abgeordnete und ihre Mitarbeiter beziehen erst in den nächsten Wochen ihre Räume. Das Büro des Ex-Abgeordneten Claus-Brunner, das er sich mit anderen Ex-Abgeordneten der Piraten teilt, ist geschlossen. Klopfen. Keine Reaktion.

Soll da wirklich etwas vertuscht werden? Hinweise darauf, dass Claus-Brunner unter Problemen litt, gab es jedenfalls. Die Fraktion hat ihn nach und nach aus allen wichtigen Ausschüssen abgezogen, heißt es. Er sei zwar intelligent, aber eher im Sinne von „schlau“, jedenfalls nicht fähig gewesen, Anträge so zu formulieren, wie Anträge an das Abgeordnetenhaus eben formuliert werden müssten. Man habe immer wieder mit ihm gesprochen und ihn gefragt, warum er nicht die Hilfe von Mitarbeitern in Anspruch nehmen wolle. Claus-Brunner weigerte sich, bis er schließlich nur noch im Petitionsausschuss saß. Mit seinem Geld sei er großzügig umgegangen. Gelegentlich habe er 1000 Euro für Projekte gespendet, die ihm wichtig waren.

Kollegen berichten, dass er mit seinen Mitarbeitern aber oft grausam umgegangen sei. Er habe einzelne gemobbt und über andere Verschwörungstheorien verbreitet. Ein ehemaliger Pirat erzählt, er habe Claus-Brunner einen Psychologen besorgt, doch es half nichts. Als in der Fraktion schließlich der Ausschluss des Latzhosen-Abgeordneten beschlossen werden sollte, habe Claus-Brunner angefangen zu weinen und gefleht, doch bitte bleiben zu dürfen.

Claus-Brunners Vater soll ihn mit 14 aus dem Haus geprügelt haben

Körperlich gewalttätig geworden sei er aber nie – obwohl er oft mit Gewalt drohte und bei einem Parteitag einmal einen Hammer mit aufs Podium brachte. Er erzählte auch, selbst Opfer von Gewalt gewesen zu sein, daher wisse er, dass das keine Lösung sei. Bekannte von Claus-Brunner vermuten, dass er damit auf seinen Vater anspielte, der ihn aus dem Haus geprügelt haben soll, als er ungefähr 14 Jahre alt war. Damals habe er sich zuhause als homosexuell geoutet. So zumindest erzählte das Claus-Brunner seinen Parteifreunden.

Doch was kann man ihm glauben?

Zum Beispiel gab es da die Geschichte von Claus-Brunners unheilbarer Krankheit. Davon erzählte er schon 2011. Nur noch ein Jahr habe er zu leben, soll er gesagt haben. Fünf Jahre später verkündete er in einer Rede im Abgeordnetenhaus: „Ihr werdet auch in der laufenden Legislatur für mich am Anfang irgendeiner Plenarsitzung mal aufstehen dürfen und eine Minute stillschweigen.“ Dass Claus-Brunner damit einen Suizid angekündigt haben könnte, fürchteten damals schon einige. Dass Claus-Brunner zum Mörder werden könnte, glaubte aber niemand ernsthaft. Wieder einer seiner Ticks, noch so eine wilde Geschichte, typisch Claus-Brunner halt.

Günther Jonitz, Präsident der Berliner Ärztekammer, versucht es am Mittwoch mit einer Einordnung: Dass jemand eine unheilbare Krankheit vortäuscht, sei selten – auch wenn es immer wieder mal Fälle gebe. Meist wollten süchtige Patienten durch gespielte Beschwerden an Schmerzmittel heran. Ob Claus-Brunner unter einer diagnostizierten seelischen Störung litt, ist unklar. Die Grenzen zwischen Spleen und Wahnsinn seien fließend. Dass einige Piraten exzentrisch, andere vielleicht schon übermäßig auffällig waren, ist unbestritten. „Pathologisch wird’s, wenn anderen Schaden zufügt wird – oder sich selbst“, sagt Jonitz. „Letztlich also, wenn die Verhältnismäßigkeiten völlig fehlen.“

Eine unerwiderte Liebe

Nicht ausgeschlossen, dass Claus-Brunner die Tat nicht geplant hatte, dass es eine brutale Überreaktion eines Zurückgewiesenen war. Parteifreunden hatte er erzählt, dass seine große Liebe in jungen Jahren umgekommen sei. Im Parlament hatte er ein Foto seines Geliebten als Bildschirmhintergrund auf dem Laptop. „Das ist schon bizarr, wenn man bedenkt, wie lange es her ist, 20 oder 30 Jahre vielleicht“, sagt einer, der im Abgeordnetenhaus mit Claus-Brunner zu tun hatte. „Ich vermute, dass ,Wuschelkopf‘ seine erste große Liebe gewesen ist“, sagt er, und: „Er hat jemanden aus der Partei gestalkt, der dem ,Wuschelkopf‘ wie aus dem Gesicht geschnitten gewesen sein soll.“

Musste Mirko L. sterben, weil er die unerwiderte Liebe von Claus-Brunner war, weil er den Piraten zurückwies?

Claus-Brunners Haustür in Steglitz ist durch zwei blaue Polizeiaufkleber versiegelt, so wie die Wohnung von Jan Mirko L. in Wedding. Die graue Fußmatte vor der Holztür in Steglitz ist verrutscht. Schon am Montag hat die Polizei die Wohnung geräumt. Auf Brunners Etage leben noch drei Mietparteien. Einer der Nachbarn öffnet die Tür, in seiner Hand hält er eine Tasse Kaffee: „Ich kannte ihn nicht gut – hallo und tschüss, mehr kam nicht.“ Claus-Brunner sei ein unauffälliger Nachbar gewesen, sagt der Mann, der seinen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte. Das letzte Mal habe er Claus-Brunner am Freitag gesehen, Montag stand dann die Polizei vor der Tür, um ihn zu befragen. Mitbekommen habe er nichts: „Das ist gruselig, ich war entsetzt, als ich hörte, was passiert ist.“

Mitarbeiter der Gerichtsmedizin trugen am Montag Claus-Brunners Leichnam aus der Steglitzer Wohnung.
Mitarbeiter der Gerichtsmedizin trugen am Montag Claus-Brunners Leichnam aus der Steglitzer Wohnung.

© Klaus-Dietmar Gabbert/dpa

Was genau sich da Gruseliges zugetragen hat, ist noch nicht geklärt. Martin Steltner, der Sprecher der Berliner Staatsanwaltschaft, bestätigte am Mittwoch lediglich, dass es sich bei dem jüngeren Mann um einen 29-Jährigen handle, der in Wedding wohne. Einem Bericht der "Welt" zufolge soll Claus-Brunner einem Fraktionskollegen vor seinem Tod einen Brief geschrieben haben, in dem er die Tat komplett zugibt. Als Quelle gibt die Zeitung Ermittlerkreise an.

Wie der Tote von Wedding nach Steglitz kam, sagt Steltner nicht. „Wir gehen im Moment davon aus, dass sich die Tat auf die zwei gefundenen Personen beschränkt.“ Aus Justizkreisen heißt es, dass Claus-Brunner die Leiche in einer Sackkarre transportiert haben soll. Vermutet wird, dass er die Karre wie einen Anhänger am Fahrrad befestigte und so die zwölf Kilometer von Wedding nach Steglitz fuhr. Gerwald Claus-Brunner – quer durch die Stadt, aber allein.

Wieder einmal.

Claus-Brunner stand vor dem Nichts

Das Verhältnis zu Parteifreunden war früh zerrüttet. „Ab einem gewissen Punkt hatte er sich nicht mehr unter Kontrolle“, sagt einer. Kontrollverlust – das Wort hört man häufig, wenn man mit Piraten über Claus-Brunner spricht. „Man hat schon Angst haben können“, sagt ein anderer. Die Fraktion rügte Claus-Brunner mehrfach – vor allem wegen seiner Tweets. Frauen, die für die Frauenquote seien, wollten auch nur einen Posten mit „Tittenbonus“, höhnte er einmal. Der Sturm der Empörung, der darauf folgte, setzte Claus-Brunner unter Druck, schließlich entschuldigte er sich. Doch seine Ausfälle hörten nicht auf.

Als die Berliner Piratenfraktion sich langsam aufzulösen begann, weil einige Mitglieder in andere Parteien wechselten, schimpfte Claus-Brunner, nur er halte noch den Hut hoch. Das haben andere in der Partei nicht so gesehen. 2012 fiel er durch, als er sich für einen Posten im Bundesvorstand bewarb. Und bei der Aufstellung der Landesliste für die Abgeordnetenhauswahl kam er auf Platz 27. Die Parteikarriere war vorbei. Nach fünf Jahren als Politiker, der bislang monatlich 7000 Euro brutto zur Verfügung hatte, stand Claus-Brunner vor dem Nichts.

Bei Twitter zeigte sich am Mittwoch, wie schwer sich einige Piraten und Weggefährten Claus-Brunners tun, das immer Offensichtlichere zu akzeptieren: Von einer „unerklärlichen Tragödie“ schrieb etwa die Kreuzberger Bezirksverordnete Jessica Miriam Zinn. Und, als taugte dies zur Entschuldigung: Die Tat sei gewiss nicht so geplant gewesen.

An Gerwald Claus-Brunner war vieles extrem. Die Art, wie er angriff; die Art, wie er angegriffen wurde – oft voller Verachtung und Wut. „Man kann nicht homogenisieren, was nicht zu homogenisieren ist“, hatte der Fraktionschef der Piraten, Martin Delius, im Sommer vor der Abgeordnetenhauswahl zu diesem feindseligen Klima gesagt. Der Unfrieden bei den Piraten gehörte dazu. Und Claus-Brunner war – auch in seiner manischen Identifikation mit der Partei – ihr Gesicht.

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